Hans Blokland: Migrationspolitik auf der Flucht
Rezensiert von Prof. Dr. Simon W. Kolbe, 04.11.2024
Hans Blokland: Migrationspolitik auf der Flucht. Erfahrungen von Neuankömmlingen mit Untätigkeit, Trägheit und Gleichgültigkeit.
transcript
(Bielefeld) 2024.
452 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6986-2.
D: 49,00 EUR,
A: 49,00 EUR,
CH: 59,80 sFr.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
Thema
Das zu rezensierende Buch befasst sich mit sozialen und politischen Fragen, die mit Migration und Integration einhergehen. Im Fokus stehen Identität, Zugehörigkeit, Diskriminierung, gesellschaftlicher Zusammenhalt und Solidarität. Dabei werden die Erfahrungen von Geflüchteten, Fachkräften, Ehrenamtlichen sowie politischen Akteuren in einer Region Brandenburgs aufgearbeitet und analysiert. Der herausgebende Autor, Hans Blokland, nutzt diese Perspektiven, um umfassendere Erkenntnisse zu den Herausforderungen von Migration und Integration zu gewinnen, aber auch um Kritik an bestehenden Strukturen zu üben.
Autor*innen
Laut Angaben aus dem Buch und weiteren Quellen [1] ist Blokland ein niederländischer Soziologe, Politikwissenschaftler und Philosoph, der sich mit der Schnittstelle von Sozialphilosophie, politischer Theorie und empirischer Forschung beschäftigt. Er lehrte an renommierten Universitäten wie der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Brüssel und der Sciences Po in Frankreich. Als Gründer der NGO Social Science Works in Potsdam setzt er sich für die praktische Anwendbarkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in öffentlichen Entscheidungsprozessen ein. Seine Arbeit konzentriert sich auf Themen wie Demokratie, Integration, Populismus und Radikalisierung, und er plädiert für eine stärkere gesellschaftliche Relevanz der Sozialwissenschaften.
Blokland verbindet in seinen Forschungen theoretische und empirische Ansätze, um die Kluft zwischen Philosophie und politischer Praxis zu überwinden. Dabei legt er besonderes Augenmerk auf die Entwicklung von „nutzbarem Wissen“ und die Analyse der epistemologischen und sozialen Einflüsse auf die Sozialwissenschaften. Mit seinen Publikationen, die in verschiedenen internationalen Zeitschriften erschienen sind, adressiert er sowohl akademische als auch breitere gesellschaftliche Fragestellungen.
Ein Blick in die Tätigkeitsfelder, Projekte und Publikationen lässt den Schluss zu, dass es sich bei Hans Blokland um einen ausgewiesenen Experten im interdisziplinären Bereich der Sozial- und Politikwissenschaften, mit besonderem Schwerpunkt auf Sozialphilosophie, Politische Theorie und empirische Sozialforschung handelt. Er ist zudem auf Themen wie Demokratie, Integration, Populismus und Radikalisierung spezialisiert und setzt sich stark für die praktische Relevanz der Sozialwissenschaften in der öffentlichen Entscheidungsfindung ein.
Entstehungshintergrund und Aufbau des Buches
Angesichts der globalen Migration, die durch Kriege, Gewalt, Diskriminierung und den Klimawandel immer weiter zunimmt, stehen viele Gesellschaften, darunter auch Deutschland, vor erheblichen Herausforderungen in Bezug auf die Integration von Geflüchteten. Die steigenden Flüchtlingszahlen und die strukturellen Probleme der Wohlfahrtssysteme machen deutlich, dass Migration untrennbar mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen verbunden ist. In seinem Buch reflektiert Blokland gemeinsam mit seinen Mitautoren*innen über diese Problematik. Grundlage bildet ein Forschungsprojekt, das von Social Science Works in Brandenburg durchgeführt wurde. Dabei kommen sowohl die Geflüchteten selbst als auch Sozialarbeiter*innen, Ehrenamtliche und politische Entscheidungsträger*innen zu Wort, um praxisnahe Erkenntnisse zu gewinnen und theoretische Überlegungen für die Verbesserung von Integrationsprozessen zu entwickeln. Blokland setzt sich in diesem Buch gemeinsam mit seinem Team kritisch mit den Schwächen des deutschen Sozialsystems auseinander und plädiert für eine engere Verbindung von normativen und empirischen Ansätzen in den Sozial- und Politikwissenschaften, um konkrete Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu erarbeiten.
Das Buch ist mit 431 Seiten Text recht umfangreich, aber so strukturiert, dass selektives Lesen unproblematisch umgesetzt wird. Das Buch gliedert sich in fünf Hauptteile, die verschiedene Aspekte von Migration und Integration in Deutschland behandeln. Es bietet eine umfassende Analyse von Interviews, hier Tiefeninterviews genannt, mit Geflüchteten, ergänzt durch quantitative Daten und Empfehlungen zur Verbesserung der Situation. Zu Beginn des Buches finden sich ein Vorwort sowie eine allgemeine Einleitung, die die Zielsetzung und den Aufbau des Buches darlegen. Der*die Leser*in erhält hier eine Einführung in das Thema der Flucht und Migration und einen Überblick über die Struktur der folgenden Kapitel.
Inhalt
TEIL I: Interviews
Der erste Teil des Buches konzentriert sich auf die Interviews mit Geflüchteten aus verschiedenen Ländern wie Afghanistan, Algerien, Iran, Syrien und weiteren. Jedes Interview gibt Einblick in die individuelle Fluchterfahrung der Befragten, angefangen bei den Gründen für die Flucht bis hin zu den persönlich wahrgenommenen Herausforderungen der Integration in Deutschland. Die Interviews sind in mehreren Kapiteln zusammengefasst. Beispielsweise bietet das Kapitel über Afghanistan subjektive Schilderungen von Personen, die ihre Erlebnisse und Hoffnungen teilen. Weitere Kapitel behandeln Geflüchtete aus Ländern wie Tschetschenien, der Türkei und Vietnam. Jedes Interview hebt die persönlichen Herausforderungen, die psycho-sozialen Belastungen und die Hoffnungen der geflüchteten Personen hervor.
TEIL II: Auswertung der Interviews
Im zweiten Teil des Buches werden die Interviews analysiert. Im Fokus stehen die Motive der Migration, die Reise, Kenntnisse über und Erwartungen an das Zielland, Aspekte des Spracherwerbs, Bildungs- und Arbeitsfragen, Kinderbetreuung, Unterbringung, Diskriminierung, psychosoziale Aspekte und andere Dimensionen der Lebenswelten der Befragten. Dieser Teil gibt Einblicke in die unterschiedlichen Herausforderungen, denen Geflüchtete gegenüberstehen, wie etwa Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und psychische Gesundheitsprobleme. Zudem wird die Rolle der Sozialarbeiter*innen und Freiwilligen im Integrationsprozess beleuchtet.
TEIL III: Quantitative Daten und Wahrnehmungen von Stakeholdern
Im dritten Teil des Buches werden quantitative Daten über die in den Interviews behandelten Flüchtlinge und Erkenntnisse aus Gesprächen mit ca. 40 Stakeholdern präsentiert. Es geht um demografische Informationen wie Geschlecht, Alter, Herkunftsländer und Aufenthaltsstatus. Außerdem werden Interviews mit Heimleitern*innen und Sozialarbeitern*innen einbezogen, um ein vollständiges Bild der Herausforderungen in den Unterkünften für Geflüchtete zu vermitteln.
TEIL IV: Erwägungen, Empfehlungen und Ausblick
Der vierte Teil widmet sich den praktischen Konsequenzen der vorherigen Analysen. Es werden Empfehlungen ausgesprochen, wie die Integration geflüchteter Menschen besser gelingen kann. Themen wie Sprachkenntnisse, Bildung, die Integration in den Arbeitsmarkt sowie die Herausforderungen des deutschen Wohnungsmarkts werden hier tiefergehend diskutiert. Der Schwerpunkt liegt darauf, konkrete Maßnahmen zu benennen, die die Situation der Geflüchteten nachhaltig verbessern können. Auch die Bedeutung von Freiwilligenarbeit wird in diesem Teil angesprochen, und es werden Vorschläge gemacht, wie diese Art von Engagement gefördert und stärker genutzt werden kann.
TEIL V: Epilog, Literatur und Register
Abgeschlossen wird das Buch mit einem Epilog, der die wichtigsten Erkenntnisse zusammenfasst, sowie einem umfassenden Literaturverzeichnis und einem Register, das die Orientierung erleichtert.
Diskussion
Das Buch stellt einen wertvollen Beitrag zur Migrationsforschung dar, indem es nicht nur persönliche Geschichten von Geflüchteten darstellt und auswertet, sondern auch statistische Daten und praktische Empfehlungen zur besseren Integration präsentiert. Es beleuchtet die vielschichtigen Herausforderungen, denen Geflüchtete in Deutschland begegnen, und lässt gleichzeitig Spielräume erkennen, in denen Politik, Gesellschaft und Individuen zur Verbesserung dieser Situation beitragen könnten.
Insbesondere der Blick auf Sozialarbeiter*innen, deren Positionen und Funktionen im Handlungsfeld Fluchtmigration sind in diesem Buch hervorzuheben. Sie werden als sogenannte „Community Builder“ identifiziert, welche in den Unterkünften von Geflüchteten soziale Interaktionen und Beziehungen aufbauen, stärken oder entstehen lassen. Gleichzeitig wird erkannt, dass aber genau diese Aufgaben nicht erfüllbar sind, da verwalterische und bürokratische Aufgaben den Großteil der Ressourcen verbrauchen. Hier wird auch die Forderung gestellt, mehr Soziale Arbeit zu ermöglichen und darauf hingewiesen, dass Sozialarbeiter*innen die Fähigkeiten, Bedürfnisse und Wünsche von Geflüchteten wahrnehmen sollten. In Kooperation mit Verbänden und anderen Organisationen sollte – anhand von Bezügen zu den Niederlanden beschrieben -mehr hier u.a. eine Erhöhung der Sozialen Teilhabe und die Reduktion von Isolationsprozessen und -folgen erkannt. Dazu sollen persönliche Akten, Integrationspläne und Maßnahmen zur Förderung der Selbstwirksamkeit und demokratischen Beteiligung stattfinden. Einher damit sollten sogenannte Integrationsverträge und professionelles Coaching durch individuelle Einzelbetreuung gehen (S. 409–421). Es ist anzunehmen, dass sich die abgebildeten Forderungen im Wesentlichen mit Forschungsergebnissen und Praxiserfahrungen aus der Sozialen Arbeit mit Geflüchteten decken. Soziale Arbeit kann und könnte maßgeblich zu positiven Integrations- und Bildungsprozessen beitragen. Schließlich sind wir diejenige Disziplin, die beinahe in jedem Fall beruflichen Erstkontakt mit Geflüchteten in der Beratung und später in beinahe allen Handlungsfeldern haben. Im Sinne einer Menschenrechtsprofession Soziale Arbeit, des Mandates und unserer Prinzipien verpflichten wir uns selbst zu mehr als der Ausfüllassistenz bei Anträgen und Formularen. Jedoch sei hier die Frage erlaubt, welchen Mehrwert die Förderung des freiwilligen Engagements von Geflüchteten für Betroffene selbst darzustellen vermag, wenn der Einfluss auf eine rechtliche Bleibeperspektive diesbezüglich keine oder kaum eine Rolle spielt. Forschung und Praxis werden uns hierzu noch mehr Erkenntnisse liefern (müssen).
Zudem erscheinen in diesem Buch deutliche Analysen und Kritiken an unserer Gesellschaft, Behörden und ihrer Strukturen, die die Integration von Geflüchteten verhindern und sogar das Projekt, welches dieses Buch beschreibt, scheitern liesen (S. 427–431). Bisweilen sind diese Kritiken wertend und subjektiv (siehe zum Beispiel S. 223), was aber aus den Erkenntnissen und Erfahrungen der Verantwortlichen zu diesem Buch ein nachvollziehbare ableitbare Strategie darstellt.
Fazit
Das vorliegende Werk ist weder im klassischen Sinne als wissenschaftliches Werk noch als subjektiver Praxisbericht aus der Sozialen Arbeit einzuordnen. Die subjektiven Einlassungen, der Platz für persönliche Erzählungen, der analytische, kritische und klare Umgang mit den Erkenntnissen und Erfahrungen sowie der Umfang des Buches schließen jedoch eine Lücke für Praxis und Ausbildung in der Sozialen Arbeit. Denn genau dieses Dreieck aus Wissenschaftlichkeit und Praxisbezug und wertender Kritik macht deutlich, wie relevant Soziale Arbeit eigentlich ist, wie viel Engagement und Kompetenz sie mit sich bringt und wie häufig unsere Gesellschaft und ihre Strukturen – aus welchen Gründen auch immer – dafür sorgen, dass die Stimmen und Bedürfnisse unserer Klienten*innen nicht oder ungenügend wahrgenommen werden.
[1] https://socialscienceworks.org/unserteam/ und https://hans-blokland.nl/ [Zugriff am 03.10.2024]
Rezension von
Prof. Dr. Simon W. Kolbe
Professur für Soziale Arbeit SRH Wilhelm Löhe Hochschule
Studiengangsleitung Soziale Arbeit
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Es gibt 6 Rezensionen von Simon W. Kolbe.
Zitiervorschlag
Simon W. Kolbe. Rezension vom 04.11.2024 zu:
Hans Blokland: Migrationspolitik auf der Flucht. Erfahrungen von Neuankömmlingen mit Untätigkeit, Trägheit und Gleichgültigkeit. transcript
(Bielefeld) 2024.
ISBN 978-3-8376-6986-2.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31666.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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