Yasmine Chehata, Andreas Eis et al. (Hrsg.): Handbuch kritische politische Bildung
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 24.06.2024
Yasmine Chehata, Andreas Eis, Bettina Lösch, Schäfer Stefan, Sophie Schmitt et al. (Hrsg.): Handbuch kritische politische Bildung.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
605 Seiten.
ISBN 978-3-7344-1594-4.
D: 59,90 EUR,
A: 61,60 EUR.
Reihe: Politik und Bildung - Band 95. Wochenschau Wissenschaft.
Thema
Das vorliegende Handbuch legt den aktuellen Stand kritischer politischer Bildung dar und präsentiert eine Vielzahl von Beiträgen zu gesellschaftstheoretischen Begründungen und Schlüsselproblemen politischer Bildung.
Herausgeber:innen
Für die Herausgabe des Handbuchs, an dem 95 renommierte Autor:innen beteiligt sind, zeichnen sich Yasmine Chehata (Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften der TH Köln), Andreas Eis (Professor für Didaktik der politischen Bildung an der Universität Kassel), Bettina Lösch (Professorin am Lehrbereich Politikwissenschaft/​Bildungspolitik und politische Bildung an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln), Stefan Schäfer (Lehrkraft für besondere Aufgaben mit dem Lehrgebiet Theorien, Konzepte und Methoden und dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit an der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln), Sophie Schmitt (Professorin für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Justus-Liebig-Universität Gießen), Andreas Thimmel (Professor für Wissenschaft der Sozialen Arbeit an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften an der TH Köln), Jana Trumann (Professorin für Erziehungswissenschaft/​Erwachsenenbildung an der Fakultät für Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften an der PH Ludwigsburg) und Alexander Wohnig (Juniorprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen) verantwortlich.
Entstehungshintergrund
Das Handbuch basiert auf dem ebenfalls im Wochenschau Verlag erschienenen Vorgängerband „Kritische politische Bildung. Ein Handbuch“ (Schwalbach/Ts. 2010), der von Bettina Lösch und Andreas Thimmel herausgegeben wurde (vgl. die Rezension in: https://www.socialnet.de/rezensionen/9322.php). Während es sich bei dem hier vorzustellenden Werk um eine völlig neu erarbeitete Weiterentwicklung handelt, werden die Beiträge des ersten Handbuchs, die laut den Herausgeber:innen „zwar ‚Kinder ihrer Zeit‘, aber keineswegs veraltet (sind) und nach wie vor ihre Bedeutung (haben)“ (S. 27), in open access digital vom Wochenschau Verlag der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
Aufbau
Abgesehen von der „Einleitung: Annahmen, Begründungen, Praxisfelder“ (S. 12–27) vereint das 600 Seiten umfassende Handbuch gut 60 Beiträge, die den folgenden sechs Bereichen (Kapiteln) zugeordnet sind:
- Gesellschaftstheoretische Annahmen und Begründungen kritischer politischer Bildung (S. 29–112),
- Gesellschaftliche Schlüsselprobleme, Krisen und Alternativen (S. 113–209),
- Reflexiver Blick auf schulische politische Bildung (S. 211–321),
- Reflexiver Blick auf non-formale politische Bildung und kritische Soziale Arbeit (S. 323–465),
- Soziale Bewegungen und Selbstorganisation in der politischen Bildung (S. 467–519),
- Kritischer Blick auf Strukturen und Förderprogrammatiken (S. 521–597).
Inhalt
Das Handbuch thematisiert in einer großen Bandbreite Begründungen, Schlüsselprobleme, Akteur:innen, Strukturen und Förderlogiken in der formalen, non-formalen sowie bewegungsorientierten politischen Bildung und kritischen Sozialen Arbeit.
Das erste Kapitel umfasst neun Beiträge, die sich den gesellschaftstheoretischen Annahmen, wissenschaftstheoretischen Verortungen und Begründungen kritischer politischer Bildung sowie zentralen grundlagentheoretischen Konzepten wie Herrschaft, Macht, Emanzipation, Subjekt, Politik und Demokratie widmen. Die innerhalb gesellschaftskritischer Wissenschaft in den 1960er Jahren gestellte zentrale Frage, wie ein (eingreifendes) Denken, wie Vernunft jenseits des Instrumentellen und eine „Erziehung nach Auschwitz“ (Adorno) überhaupt noch möglich sein könne, stelle sich auch heute noch und wieder neu. In diesem Zusammenhang betonen die Autor:innen, dass es Aufgabe der kritisch politischen Bildungsarbeit sei, die Art und Weise der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, mit Nationalismus, autoritärer Herrschaft, Rassismus, Antiziganismus und Antisemitismus zu reflektieren. Zugleich fragen sie danach, welche Bedeutung Herrschaftskritik und Machtanalyse für eine kritische politische Bildung haben und wie es um die Perspektive der Befähigung zu politischer Handlungsmacht bestellt ist.
Die elf Beiträge des zweiten Kapitels setzen sich in unterschiedlichen Perspektiven mit zentralen gesellschaftlichen Schlüsselproblemen und Krisen wie der Umweltfrage, der Friedensfrage, sozialer Ungleichheit sowie Technikfolgen und möglichen Alternativen im Rahmen einer kritischen politischen Bildung auseinander. Angesichts derzeitiger multipler gesellschaftlicher Umbrüche und Krisen nehmen die Autor:innen dabei Diskurse um Nachhaltigkeit und Anthropozän (Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist) in den Blick, ebenso wie Konzepte der solidarischen Lebensweisen als real-utopische Zukunftsperspektiven von Krisenerscheinungen hin zu realen Utopien. Darüber hinaus verweisen sie auf das Schlüsselproblem sozialer Ungleichheit, thematisieren das Spannungsverhältnis von Bildung zu Verteilungs- und Machtverhältnissen und rücken soziale Ungleichheit in globaler Dimension in den Mittelpunkt. Schließlich betrachten sie post- und dekoloniale Perspektiven und Praxisfelder für eine kritische politische Bildung und zeigen die Notwendigkeit einer Erweiterung von Themenfeldern wie auch die Erweiterung der bislang relativ homogen gefassten Perspektive auf Lernsubjekte auf.
Die zwölf Beiträge des dritten Kapitels richten einen machtanalytischen Blick auf die Bedingungen und Handlungsräume politischer Bildung im institutionellen Kontext von Schule. Während sich dabei einige Autor:innen den Perspektiven kritischer politischer Bildung im Sachunterricht der Grundschule, den Herausforderungen einer inklusiven politischen Bildung, den schulischen Ungleichheitspraktiken aus einer rassismuskritischen Perspektive oder den Ansätzen kritischer politischer Bildung an der Schnittstelle von Schule und Arbeitswelt widmen, thematisieren andere die fachdidaktischen Prämissen, Prinzipien und methodischen Zugänge kritischer politischer Bildung in Schule und Unterricht. Während im Mittelpunkt vieler Beiträge zugleich die Möglichkeiten und Grenzen der Kritik strukturell verdichteter Machtverhältnisse sowie die Frage nach emanzipatorischen Handlungsräumen stehen, stellen andere ausgewählte Ansätze machtanalytischer und herrschaftskritischer Zugänge politischer Bildungsforschung vor.
Die fünfzehn Beiträge des vierten Kapitels beschäftigen sich kritisch-reflektiv mit der non-formalen politischen Bildung und kritischen Sozialen Arbeit. Kritische Soziale Arbeit wird dabei als eine Praxis der politischen Bildung verstanden, die ausgehend von den Bedürfnissen und Interessen der Adressat:innen auf eine solidarische und emanzipatorische Politik der Demokratisierung des Gemeinwesens zielt. Die Autor:innen geben Einblicke in theoretische, konzeptionelle und handlungspraktische Zugänge zur kritischen politischen Bildung aus den je spezifischen und sich durchaus unterscheidenden Arbeits- und Handlungsfeldern non-formaler Bildung und Sozialer Arbeit, wobei im Fokus unter anderem die politische Erwachsenenbildung (in Abgrenzung zu einer auf die Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten zum Erhalt des demokratischen Status quo bezogenen Erwachsenenbildung), die politische Jugendbildung, die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die aufsuchende und gemeinwesensorientierte politische Jugendbildung stehen. Darüber hinaus wird mit den Internationaler Freiwilligendiensten der Blick auch auf die internationalen Perspektiven kritischer politischer Bildung gerichtet.
Im Mittelpunkt des fünften Kapitels, das sechs Kapitel umfasst, stehen Akteur:innen sozialer Bewegungen und Selbstorganisationen der politischen Bildung, die im fachwissenschaftlichen Diskurs oder in der politischen Bildungsforschung kaum wahrgenommen werden, darunter etwa die Aktivitäten muslimischer Menschen und ihre Aktivitäten sowie selbstorganisierte Lern- und Handlungsräume im Umfeld der Klimagerechtigkeitsbewegung. Hierbei werden etwa auch die Erfahrungshorizonte von Initiativen nachgezeichnet, die sich kritisch gegen rechtsextremistische Entwicklungen positionieren und wichtige Alternativen zu sozialarbeiterischer Intervention oder formal ausgerichteter Bildungsarbeit darstellen.
In den acht Beiträgen des sechsten Kapitels geht es um eine Bestandsaufnahme und kritische Analyse der Strukturen und Förderprogrammatiken institutionalisierter politischer Bildung im non-formalen Bereich. Betrachtet wird hierbei nicht nur das Verhältnis von politischer Bildung und Extremismusprävention, wie sich seit dem 11. September 2001 vorwiegend sicherheitspolitische Maßnahmen der Islamismusprävention entwickelt und in Sozialer Arbeit, Jugendarbeit und politischer Bildung niedergeschlagen haben und welche Bedeutung politische Bildung im Rahmen von gesellschaftskritischen politischen Stiftungen hat, sondern auch welche Widersprüche es bei der staatlich geförderten politischen Bildung mit Blick auf die Bundes- und Landeszentralen als nachgeordnete staatliche Behörden, bei den Förderprogrammen wie „Demokratie leben“ oder bei den Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe als soziale Infrastruktur gibt.
Diskussion
Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Krisen wie der Coronapandemie, dem Ukraine-Krieg, fortwährender Flucht und Vertreibung sowie die sich verschärfende Klimakrise, mit denen zunehmend soziale Spannungen sowie antidemokratische und autoritäre Entwicklungen in Deutschland, Europa und der Welt einhergehen, weisen die Herausgeber:innen einleitend zu Recht darauf hin, dass gesellschaftliche Krisen Lern- und Bildungsprozesse herausfordern, da etablierte und bewährte Bewältigungsstrategien individuell und gesellschaftlich auf die Probe gestellt werden. Während Politische Bildung zur Analyse und zum Verständnis gesellschaftlicher Probleme, Konflikte und Krisen beitrage, frage Kritische Politische Bildung „explizit nach den dieser Vielfachkrise zugrunde liegenden Herrschafts-, Macht- und Ungleichheitsverhältnissen. Sie stellt Reflexions- und Erfahrungsräume bereit, die ermöglichen sollen, kritische Urteils- und Handlungsfähigkeit zu entwickeln, um individuelle und kollektive Formen der Artikulation eigener Bedürfnisse und Interessen finden und Konflikte demokratisch austragen zu können“ (S. 12).
Um deutlich zu machen, dass wissenschaftliches Arbeiten und Denken in der Regel keine individualisierte, sondern eine kooperative Angelegenheit ist, haben die Herausgeber:innen zur Bearbeitung der einzelnen Beiträge Autor:innen-Tandems oder -Trios gebildet, um unterschiedliche Denkweisen und Positionen zu diskutieren und damit einen Beitrag zur Weiterentwicklung des Projekts zu leisten. Zur Bedeutung und Intention ihrer Veröffentlichung halten sie sodann wörtlich fest: „Mit der völlig überarbeiten Neuauflage des Handbuchs kritische politische Bildung wird […] der aktuelle Stand einer kritischen politischen Bildung im deutschsprachigen Raum vorgelegt. Damit werden Begründungen, Bedingungen, Ziele und Inhaltsfelder sowie didaktische und methodische Zugangsweisen politischer Bildung angesichts veränderter gesellschaftspolitischer Verhältnisse neu ausgelotet. Die in diesem Band heterogenen theoretischen, disziplinären und forschungsmethodischen Zugänge verbindet das reflexive Verständnis einer gesellschafts- und herrschaftskritischen politischen Bildung, die ihre Forschung und Bildungspraxis nicht unabhängig von ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen betrachtet“ (S. 14).
Insgesamt betrachtet greifen die hier versammelten Beiträge auf ein breites Spektrum von gesellschafts- und bildungswissenschaftlichen Analysen zurück, die unter anderem von der klassischen Kritischen Theorie der Frankfurter Schule über materialistische, feministische und poststrukturalistische bis hin zu postkolonialen und rassismuskritischen Gesellschaftsanalysen reichen. In dem Handbuch, dessen Beiträge durchgehend auf neueren empirischen und konzeptionellen Forschungsarbeiten beruhen, werden somit unterschiedliche Dimensionen und Begründungen von Gesellschafts-, Herrschafts-, Macht- und Bildungskritik beleuchtet und in ihrer Relevanz für Konzeptionen, Forschung, Praxisformate, Rahmenbedingungen und Aneignungsprozesse kritischer politischer Bildung vorgestellt.
Entsprechend einem Handbuchformat fallen die einzelnen Beiträge vergleichsweise kurz aus. Wer sich unterdessen mit einem Thema intensiver auseinandersetzen möchte, findet hierzu bei jedem Beitrag ein aktuelles Literaturverzeichnis.
Bei der Vielzahl der Themen, die in dem Handbuch vorgestellt werden, kommen die 17 staatlichen Bildungszentren des Bundesamtes für zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) beziehungsweise die dort (seit 2011) im Rahmen der Freiwilligendienste regelmäßig durchgeführten Seminare zur politischen Bildung erstaunlicherweise nicht vor. Während Christoph Gille und Benjamin Haas in ihrem Beitrag „Internationale Freiwilligendienste: Zwischen emanzipatorischer Bildung und kolonialen Kontinuitäten“ (S. 430–438) immerhin darauf hinweisen, dass es bei den freiwilligen Inlandsdiensten im Rahmen der verpflichteten Begleitseminare auch Seminartage „explizit zur politischen Bildung“ (S. 431) gibt, wird das Thema von Thomas Gill in seinem Beitrag „Widersprüche staatlicher Bildung“ (S. 578–586) nicht aufgegriffen.
Die Herausgabe der vorliegenden Publikation ist sehr zu begrüßen, liegt mit ihr doch – nunmehr nach über zehn Jahren – eine völlig neu erarbeitete Bestandsaufnahme „Kritisch politischer Bildung“ vor. Dem umfassenden Handbuch, das sich an die Adresse all jener richtet, die an kritischer politischer Bildung interessiert sind, ist nicht zuletzt im Hinblick auf die jüngst konstatierten „Angegriffene Demokratie(n)“ (https://www.socialnet.de/rezensionen/​30708.php) über ein Fachpublikum hinaus weite Verbreitung zu wünschen. In jedem Fall gehört es als „Pflichtlektüre“ in die Hände von Lehrkräften, politischen Bildner:innen, Multiplikator:innen und Wissenschaftler: innen der schulischen und außerschulischen politischen Bildung.
Fazit
Mit dem „Handbuch Kritische Politische Bildung“, das eine Vielzahl von Beiträgen zu gesellschaftstheoretischen Begründungen und Schlüsselproblemen politischer Bildung vereint, liegt der aktuelle Stand kritischer politischer Bildung vor.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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Zitiervorschlag
Hubert Kolling. Rezension vom 24.06.2024 zu:
Yasmine Chehata, Andreas Eis, Bettina Lösch, Schäfer Stefan, Sophie Schmitt et al. (Hrsg.): Handbuch kritische politische Bildung. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2024.
ISBN 978-3-7344-1594-4.
Reihe: Politik und Bildung - Band 95. Wochenschau Wissenschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31668.php, Datum des Zugriffs 09.09.2024.
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