Johannes Münder, Udo Geiger et al. (Hrsg.): SGB II
Rezensiert von Prof. Dr. Judith Dick, 19.09.2024
Johannes Münder, Udo Geiger, Anne Lenze (Hrsg.): SGB II. Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2023. 8. Auflage. 1764 Seiten. ISBN 978-3-8487-7578-1. 74,00 EUR.
Thema
Der SGB II Lehr – und Praxiskommentar (LPK-SGB II) in der Neuauflage von 2024 hat nun den Untertitel Bürgergeld. Es geht um die Grundsicherung für Arbeitsuchende, umgangssprachlich Hartz IV genannt, die seit 2023 für die Leistungen u.a. eine einjährige Karenzzeit für die Kosten der Unterkunft vorsieht und einen Kooperationsplan statt der Eingliederungsvereinbarung. Das gesamte SGB II ist kommentiert, auch die Neuregelung der Sanktionen bei Pflichtverstößen als Leistungsmilderungen.
Die Neuauflage hat alle bis 2024 bzw. 2025 in Kraft tretenden Gesetze eingearbeitet, die bis Mitte August 2023 verabschiedet waren, 18 Gesetzesänderungen seit der Vorauflage von 2021. Auf 1764 Seiten werden die Inhalte zur Auslegung des SGB II fundiert für Wissenschaft, Lehre und Praxis in Rechtsprechung und Rechtsberatung kommentiert.
Herausgebende und Autorenteam
Johannes Münder, Udo Geiger und seit dieser Auflage Anne Lenze (Professorin an der Hochschule Darmstadt) geben den Kommentar heraus, der insgesamt von 19 Autorinnen und Autoren aus der Verwaltung, der Rechtsprechung und Wissenschaft und Lehre geschrieben wurde. Stephan Thie ist nicht mehr dabei, dafür sind die Richter aus Berlin Iven Gräf und Jörn Hökendorf eingestiegen.
Aufbau
Der Nomos Handkommentar folgt den Paragrafen des SGB II, ergänzt um eine Einleitung und einen Anhang zu Verwaltungsverfahren, Widerspruch und Aufhebung von Bescheiden sowie Rechtsschutz. Relevante Verordnungen werden direkt hinter den passenden § abgedruckt, z.B. die Bürgergeld-Verordnung bei § 11, zu berücksichtigendes Einkommen. Das für die Auslegung des SGB II unverzichtbare Regelbedarfsermittlungsgesetz und die § 6 a, § 6b BKGG zum Kinderzuschlag werden als Anhang beim passenden § ebenfalls kommentiert. Das Werk ist durch sein Literatur- und Stichwortverzeichnis gut zugänglich.
Inhalt
Die Einleitung der Herausgebenden Münder, Geiger und Lenze zeichnet die Gesetzesentwicklung konzise nach und ordnet die jeweiligen Änderungen rechtlich ein. Prägnant z.B. die Abgrenzung zur Sozialhilfe, die ausgeschlossen ist, wenn Ansprüche auf Bürgergeld bestehen (§ 5 Abs. 2 SGB II). Deshalb muss die nach Art. 1, Art. 20 GG gebotene Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums im SGB II gesichert sein. Die verfassungsgerichtlich iniziierten Nachbesserungen in dieser Hinsicht werden als eine von vier Etappen der Rechtsentwicklungen erfasst und ihre Meilensteine erläutert, u.a.: der unabweisbare, laufende Härtefallmehrbedarf (§ 21 Abs. 6 SGB II) und die Ablehnung migrationspolitischer Relativierungen des Existenzminimums. Die Gesetzgebung muss für die Begründung von Leistungseinschränkungen Belege vorweisen können z.B. für die Behauptung in Sammelunterkünften bestünden Synergieeffekte wie bei Paarhaushalten. Die aktuellste Etappe Bürgergeld wird vorgestellt und z.B. erläutert, dass die neue ergänzende Fortschreibung der Regelbedarfe aufgrund der Preise, die Inflationsproblematik von 2022 bei der der Regelbedarf hohe Kaufkraftverluste aufwies, nicht ausgeglichen hätte, Rn. 29.
Auch die rechtstatsächlichen Einordnungen sind jederzeit wertvoll. Sie zeigen z.B. in der Einleitung, dass 5.546.102 Personen in Bedarfsgemeinschaften im Jahr 2021 mit SGB II-Bezug lebten, aber nur 1.606.641 Personen wurden als arbeitslos angesehen, 34 % weniger als 2007. Ab 2023 werden die ab dann 58-jährig und älter Werdenden als arbeitslos mitgezählt, § 53a SGB II. 1.753.924 Personen in Bedarfsgemeinschaften sind gar nicht erwerbsfähig. Die regionalen Unterschiede sind weiterhin groß: 16 % der Haushalte in Bremen und 4 % der Haushalte in Bayern erhalten Grundsicherung für Arbeitsuchende.
Im Weiteren werden § 1 fortfolgende SGB II kommentiert. Interessant z.B. der neu hinzugekommene § 7b für die Erreichbarkeit. Hinter diesem ist praktischerweise auch die Erreichbarkeits-Verordnung – ErrV vom 28.7.2023 abgedruckt. Geiger erläutert Abs. 1 S. 4, der nun das grenznahe Ausland in den Nahbereich einbezieht und einen vorübergehenden grenznahen Auslandsaufenthalt ohne Verlust des Bürgergeldes ermöglicht. Streitig ist, ob die 30km Auslandstiefe laut ErrV sachgerecht sind, oder entscheidend die 2,5 Stunden Zeitspanne bis zum Erreichen des zuständigen Jobcenters auch für Auslandsaufenthalte gelten muss (Rn 11). Auch die für die Wohnungslosenberatung wichtigen Änderungen durch die ErrV sind aufgearbeitet.
Ein Beispiel für die Komplexität der Auslegung des SGB II ist der Begriff Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II. Armborst erläutert, dass bei einer psychischen Krankheit die medizinische Diagnose nicht ausreicht, sondern die Möglichkeit der Teilhabe am Arbeitsleben im Kontext der Versorgungsmöglichkeiten einzuschätzen ist laut Leitlinien der Deutschen Rentenversicherung und eine Prognose und ein Feststellungsverfahren erforderlich sind, Rn 9, 17f, 22 f.
Angesichts der Wohnkostenlücke und der Mietsteigerungen sind für die Rechtsberatungspraxis die Regelung zu den Kosten der Unterkunft wichtig. Im Verhältnis zur Vorauflage ist die Kommentierung von Berlit von 122 Seiten auf 140 Seiten allein zu § 22 SGB II angewachsen.
Nach dem Sanktionenurteil des Bundesverfassungsgerichtes, das Kürzungen bis zu 30 % vom Regelsatz als noch verfassungsgemäß einstuft, wurden 2023 Leistungsminderungen von 10 bis 30 % für einen bis drei Monate eingeführt, § 31a SGB II. Berlit arbeitet im Kommentar ausführlich die Entwicklung, den Streit und die Neuregelung auf.
Die Verfahrenshinweise im Anhang des Kommentars eröffnen die notwendigen Perspektiven ins Verwaltungs- und Gerichtsverfahren im Streitfall. Conradis stellt auch das Eilverfahren dar, das bei Bürgergeld oft einschlägig ist. In Zweifelsfällen müssen Folgenabwägungen von den Sozialgerichten angestellt werden, um Menschenwürdeverletzungen zu verhindern, Rn 152.
Diskussion
§ 31a Abs. 7, der seit 28.3.2024 mit dem Haushaltsgesetz eine vollständige Streichung des Regelbedarfs für sogenannte “Arbeitsverweigerer“ ermöglicht, war bei Redaktionsschluss des Kommentars noch nicht absehbar. Es zeigt sich wie politisch brisant das SGB II bleibt und welche Herkulesaufgabe es ist, immer wieder die aktuelle Entwicklung in Rechtsprechung und Gesetzgebung aufzuarbeiten. In der Praxis wird die eingeführte Verschärfung seltenst angewendet werden und keine Haushaltseinsparungen bringen, weil sie realitätsfern ist (Vgl. S. 15ff in dieser Online Zeitschrift: Eckhardt, Mai 2024, sozialrecht-justament: https://sozialrecht-justament.de/data/documents/​SJ-5_2024.pdf, 4.9.24).
Münder/Geiger/Lenze (Hrsg.) sichern mit einem Team von 19 Autorinnen und Autoren eine detailgenaue, qualitätvolle Kommentierung des SGB II ab. Sie ist an einen breiten Nutzerinnenkreis gerichtet und wird diesem Anspruch gerecht – von der sozialarbeiterischen und anwaltlichen Rechtsberatung über die Jobcenter bis hin zu Sozialgerichten und Universitäten. Rechtsprechung und Literatur werden detailgenau mit herrschender und abweichender Meinung dargestellt. Dabei wird die Darstellung auch den rechtstatsächlichen und rechtspolitischen Bezügen gerecht. Rechtspolitisch ist die transparent und ausgewogen. Die Kommentierung ist vor allem fachlich tiefgreifend.
Fazit
Der LPK-SGB II ist bleibt das Standardwerk, das alle, die häufiger mit der rechtlichen Bearbeitung von SGB II-Fällen befasst sind weiterbringt. Er setzt praxisgerechte Schwerpunkte und bietet rechtstatsächliche Orientierung. Der LPK-SGB II ist unverzichtbar, da er eine Dichte und Tiefe vermittelt, die auf online-Formaten so nicht funktioniert. Der Handkommentar bietet fallbezogenes wirkliches Verstehen.
Rezension von
Prof. Dr. Judith Dick
Evangelische Hochschule Berlin, Professur für Sozialrecht
Website
Mailformular
Es gibt 10 Rezensionen von Judith Dick.
Zitiervorschlag
Judith Dick. Rezension vom 19.09.2024 zu:
Johannes Münder, Udo Geiger, Anne Lenze (Hrsg.): SGB II. Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2023. 8. Auflage.
ISBN 978-3-8487-7578-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31679.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.