Ulrike Marz: Wut auf Differenz
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 13.11.2024
Ulrike Marz: Wut auf Differenz. Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus.
transcript
(Bielefeld) 2023.
375 Seiten.
ISBN 978-3-8376-7043-1.
D: 39,00 EUR,
A: 39,00 EUR,
CH: 47,60 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema
„Wut auf die Differenz“ ist eine Formulierung aus der „Dialektik der Aufklärung“, also jener berühmten Fragmentsammlung, in der Max Horkheimer und Theodor W. Adorno die philosophische Urgeschichte des Antisemitismus in unmittelbarer Zeitgenossenschaft zur Shoah zu verfassen versuchten. Die Formulierung bezeichnet den psychodynamischen Kern der Affektstruktur von Antisemit:innen, dessen objektiver Genese Adorno und Horkheimer in ihrem Buch nachspüren. Rassismus funktioniert anders als Antisemitismus. Er hat eine andere Geschichte und eine andere Struktur. Er ist deshalb auch anders als Antisemitismus zu begreifen. Dennoch ist für Ulrike Marz die Formulierung aus der Antisemitismusanalyse der Kritischen Theorie für die Analyse des Rassismus so wesentlich, dass sie diese gar als Titel ihres Buches wählt. Ihr Vorhaben ist der „Entwurf zu einer Kritischen Theorie des Rassismus“ (S. 130).
Entstehungshintergrund
Bei dem Buch von Ulrike Marz handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift, die die Autorin im Jahr 2022 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock eingereicht hat. Ihm sind umfangreiche Vorarbeiten vorausgegangen, etwa in Form eines Einführungsbuchs in die Rassismuskritik (Marz 2020).
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst acht Kapitel. Das erste Kapitel (die Einleitung) stellt das Vorhaben dar, einen „Ansatz“ (S. 24) für eine „Kritische Theorie des Rassismus“ zu entwickeln. Dabei soll durch die Kritik an den bestehenden Rassismuskritiken hindurch das spezifische Potenzial der Kritischen Theorie – womit stets die sogenannte „frühe“ Kritische Theorie in der Fassung Horkheimers und Adornos gemeint ist – für eine gesellschaftskritische Rassismusanalyse freigelegt werden. Das zweite Kapitel expliziert den Kritikbegriff der Kritischen Theorie (Leid als Maßstab der Kritik, immanente Kritik, negative Dialektik, Historizität und Zeitkern der Wahrheit). Das dritte Kapitel widmet sich der ideologischen Metamorphose des biologistischen in einen kulturalistischen Rassismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die die antirassistische Kritik zu einer radikalen Überprüfung ihrer Grundannahmen zwang. Das „Differenzdilemma“ (Annita Kalpaka), das sich in der Konfrontation der Rassismuskritik mit dem rechten Ethnopluralismus und dessen Forderung nach einem „Recht auf Differenz“ besonders dramatisch zeigte, führt Marz zu einer ersten Problematisierung der falschen Dichotomie von Universalismus und Partikularismus – ein Grundthema des Buchs, das in späteren Kapiteln immer wieder aufgenommen wird. Daran schließt sich im vierten Kapitel die Reflexion des Verhältnisses von Objektivismus und Subjektivismus in der Rassismustheorie als zweites Grundthema an. Marz stilisiert hier zwei konträr sich gegenüberstehende Paradigmen der Rassismuskritik, objektivistische Strukturtheorien und subjektivistische Handlungstheorien, um sodann den Begriff der Vermittlung als dialektischen Königsweg Kritischer Theorie zu exponieren. Nach einer Rekonstruktion zentraler gesellschaftstheoretischer Grundannahmen der Kritischen Theorie, die neben dem Begriff der Mimesis vor allem das Schlüsselkonzept des Nichtidentischen thematisiert und so Rassismus als gesellschaftliches Naturverhältnis begreifbar macht (Kapitel 5), werden in den folgenden Kapiteln zunächst die objektive Seite des Rassismus auf dem Wege einer ökonomiekritischen Ideologiekritik (Kapitel 6) und sodann die subjektive Seite des Rassismus auf dem Wege der sozialpsychologischen Autoritarismusanalyse der Kritischen Theorie (Kapitel 7) dargestellt. So soll sichtbar werden, wie „die Defizite einer bloß objektivistischen oder einer bloß subjektzentrierten Rassismustheorie durch theoretisch bestimmte Vermittlung zu überwinden [ist]“ (S. 26). Das achte Kapitel schließlich fasst die zentralen Thesen der Arbeit zusammen und exponiert noch einmal die besondere Stärke der Kritischen Theorie, Rassismus sowohl gesellschafts- wie subjektkritisch zu begreifen und die Widersprüche von Universalismus und Partikularismus, Subjektivismus und Objektivismus sowie Natur und Kultur, denen sich die Rassismuskritik nach Überzeugung der Autorin bislang nicht gewachsen zeigte, dialektisch zu vermitteln.
Diskussion
Schon in ihrem Buch „Kritik des Rassismus. Eine Einführung“ konstatiert Ulrike Marz zutreffend, dass „das Verhältnis von Antisemitismus und Rassismus auch für die frühe Kritische Theorie“ „ungeklärt“ war (Marz 2020, S. 147). Antisemitismus wurde einerseits als „Aspekt des allgemeinen Ethnozentrismus“ (Adorno 1973, S. 94) – ein Begriff, der damals eine Platzhalterfunktion für den in der Kritischen Theorie nicht verwendeten Begriff des Rassismus hatte – betrachtet, andererseits wurde auf die „eigenen spezifischen Merkmale“ (ebd.) des Antisemitismus hingewiesen. Es ist in der Nachfolge nie gelungen, aus diesen begrifflichen Unschärfen herauszufinden und Rassismus als eigenständiges gesellschaftliches Gewaltverhältnis zu begreifen.
Mit ihrem neuen Buch will Marz dies ändern und die irritierende Leerstelle, die die Kritische Theorie beim Thema Rassismus bis heute aufweist, schließen. Sie verspricht eine „Weiterentwicklung der Kritischen Theorie in ihrer frühen Tradition – durch Konfrontation der alten Überlegungen mit dem Forschungsgegenstand Rassismus, der bislang nicht systematisch unter dieser Perspektive betrachtet wurde“ (S. 22). Zutreffend grenzt Marz diese in der Tradition der revolutionären Theorie von Marx (in den 1930er Jahren noch mit kleinem „k“) stehende, mit der historischen Erfahrung von Auschwitz notwendig auch die Dialektik der materialistischen Aufklärung reflektierende Theorieformation (seitdem mit großem „K“) von den Theorieprojekten „von Habermas bis Honneth und Jaeggi“ (S. 13) ab, die in der akademisierenden Wahrnehmung von heute fälschlicherweise häufig als Fortschreibungen der Kritischen Theorie dargestellt werden.
Um das nachholende Vorhaben einer Kritischen Theorie des Rassismus zu realisieren, scheint es nun nahezuliegen, zunächst einmal zu klären, wie es kommt, dass die Analyse des Rassismus, dessen weltweite ideologische Virulenz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unübersehbar war, ausgerechnet in der frühen Kritischen Theorie eine Leerstelle darstellt. Wie kommt es, dass Rassismus in der Kritischen Theorie unter dem Titel des „Ethnozentrismus“ auf ein Symptom des Autoritarismus reduziert wurde, der selbst wiederum als ein Effekt der subjektiven Verarbeitung kapitalistischer Vergesellschaftung begriffen wurde? Und wenn also gerade die objektive Seite rassistischer Vergesellschaftung im kolonialen Zeitalter in der Kritischen Theorie so überaus unterbelichtet blieb, was kann dann das Vorhaben, eine Kritische Theorie des Rassismus heute zu verfassen, möglicherweise von den historischen wie auch zeitgenössischen Formen der Rassismuskritik lernen?
Marz geht aber den umgekehrten argumentativen Weg. Sie fragt nicht, was kann die Kritische Theorie von der Rassismuskritik lernen, sondern was kann die Rassismuskritik von der Kritischen Theorie lernen. Dazu unterscheidet sie zunächst zwischen objektivistischen und subjektivistischen Theorien des Rassismus, denen sie komplementäre „Defizite“ vorwirft. Während das objektivistische Theorieparadigma – dazu zählt sie so unterschiedliche Autoren wie Robert Miles, Stuart Hall und Étienne Balibar – nur auf Strukturen schaue und die Subjekte auf Struktureffekte reduziere, blicke das subjektivistische Theorieparadigma – hierzu zählt sie symbolische Interaktionisten wie Harold Garfinkel und Herbert Blumer, aber auch die Critical Whiteness Studies – nur auf die Subjekte und ignoriere die objektive Genese des Rassismus. Beide kämen so jeweils nur zu einer halbierten Wahrheit über den Rassismus, also zusammen zu einer ganzen Lüge. Dagegen wisse die Kritische Theorie Objektivismus und Subjektivismus zu vermitteln und gelange damit zu einer umfassenden Analyse des Rassismus. Das klingt patent, ist aber zu einfach, um wahr zu sein. Weder wird das Stilisierungsprinzip bei genauerer Betrachtung den subsumierten Theorien gerecht – im Gegenteil: spannend wäre es gerade, bei einem „objektivistischen“ Autor wie Stuart Hall die bislang wenig beachteten Bezüge auf die psychoanalytische Subjektkritik freizulegen –, noch gibt es eine objektive Theorie des Rassismus im Kontext der „frühen“ Kritischen Theorie und überdies eignet sich Kritische Theorie ohnehin nicht als Universaltheorie, die alle Paradigmen zusammenzuführen versteht (die „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer und Adorno heißt bekanntlich und in bewusster Abgrenzung zu traditionellen Theorieansprüchen nach umfassender Paradigmenintegration im Untertitel „Philosophische Fragmente“).
Der Nachteil dieser Argumentationsstrategie ist, dass die Autorin einerseits zu unkritisch gegenüber der Kritischen Theorie bleibt und es sich andererseits zu einfach mit der Kritik der Rassismuskritik macht. War es der Anspruch der Kritischen Theorie, stets an der Stärke des Arguments der zu widerlegenden Position anzusetzen, nimmt sich Marz die offensichtlich schwächsten Positionen vor, wie z.B. Critical Whiteness Studies, die sich leicht ihrer epistemologischen Irrtümer und analytischen Sackgassen, ihres falschen Moralismus und Subjektivismus überführen lassen. Auf die für eine kritische Theorieperspektive wirklich wichtigen Kontroversen hingegen geht Marz zu wenig ein, z.B. auf die in der Debatte über „racial capitalism“ viel diskutierte Frage, inwieweit kapitalistische Gesellschaften notwendig rassistisch sind oder eben nicht. Zwar konstatiert Marz „einen engen Zusammenhang von Kapitalismus und Rassismus“ (S. 216), geht aber in ihrer Begründung kaum über die zweifellos auch heute noch lesenswerte Studie von Peter Schmitt-Egner zum Zusammenhang von Wertgesetz und Rassismus aus dem Jahr 1976 hinaus (Schmitt-Egner 1976). Auch die viel diskutierte und überaus relevante, weil weichenstellende Frage, ob Rassismus lediglich als Ideologie zu begreifen ist oder als gesellschaftliche Strukturkategorie, wird nur am Rande behandelt, was auch mit den – insbesondere mit Blick auf die internationale Diskussion – nicht ganz unerheblichen Rezeptionslücken der Studie zu tun hat. Eine Auseinandersetzung mit der langen Tradition des Black Marxism (vgl. zusammenfassend Fraser 2023, S. 58 ff.) fehlt ebenso wie mit anderen Ansätzen materialistischer Rassismusanalyse, die es nicht nur im englisch- und französischsprachigen, sondern sogar im deutschsprachigen Raum gab und gibt (z.B. die aktuelle kritische Migrations- und Grenzregimeforschung in der Tradition materialistischer Staatstheorie, hier bleibt Marz im Wesentlichen bei Hirsch [2005] und Karakayali/​Tsianos [2002] stehen).
Dies heißt nun keineswegs, dass man das Buch getrost ignorieren sollte. Es ist überall da stark, wo es sich auf „Überlegungen und Deutungen Kritischer Theorie“ (S. 24) konzentriert, die heute so gut wie vergessen, aber für ein kritisches Verständnis rassistischer Erscheinungsformen von größter Aktualität sind. Dazu gehört gewiss die Vermittlung des Gegensatzpaars von Partikularismus und Universalismus, die einen gesellschaftlichen Zustand zu denken vermag, in dem man ohne Angst verschieden sein kann. Und dazu gehört schließlich auch die Einsicht, dass Rassismus als „Modus des Umgangs mit den Folgen der Unterdrückung von innerer Natur“ ein gesellschaftliches „Naturverhältnis“ darstellt. So heißt es am Ende des Buchs, gleichsam als Erläuterung seines Titels: „[K]ritische Theorie macht diese Zusammenhänge [von instrumenteller Rationalität, gesellschaftlicher Naturvergessenheit und Rassismus; ws] sichtbar als Fragen des Naturverhältnisses – als Probleme gesellschaftlicher Hervorbringungen von innerer und äußerer Natur ebenso wie des Quasi-Natur-Werdens von Gesellschaft. Rassismuskritiken, die vollständig Natur in Konstruktion aufgehen lassen, die Natur in bester Absicht verleugnen, übersehen daher zentrale Motive des Rassismus“ (S. 330). Daran ließe sich weiterarbeiten, und zwar durchaus im Sinne jenes interdisziplinären Materialismus, wie ihn Horkheimer bereits in den 1930er Jahren programmatisch entworfen hat: als plurales, vielstimmiges Projekt einer gesellschaftskritisch reflektierten Rassismuskritik, die so komplex und unabgeschlossen ist wie die gesellschaftliche Realität, die sie zu begreifen versucht.
Fazit
Kritische Theorie lässt sich nicht konservieren, sondern nur erneuern, weil der Zusammenhang von historischer Erfahrung und Begriff für sie wesentlich ist. Missachtet sie dies, verfällt sie dem Dogmatismus. Das Buch von Ulrike Marz erneuert nicht, aber sondiert das Terrain, indem sie die Irrwege identitätspolitischer Rassismuskritik aufzeigt. Seine Stärke besteht darin, Kritik am Rassismus als Gesellschaftskritik zu begreifen, ohne die unverzichtbare subjektive Dimension des affektiven Unbewussten preiszugeben.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1973): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Fraser, Nancy (2023): Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Berlin: Suhrkamp.
Hirsch, Joachim (2005): Materialistische Staatstheorie. Transformationsprozesse des kapitalistischen Staatensystems, Hamburg: VSA.
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1987): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (zuerst 1944/1947), in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt a.M.: Fischer.
Karakayali, Serhat/​Tsianos, Vassilis S. (2002): Migrationsregimes in der Bundesrepublik Deutschland. Zum Verhältnis von Staatlichkeit und Rassismus, in: Demirović, Alex/Bojadžijev, Manuela (Hrsg.), Konjunkturen des Rassismus, Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 246–267.
Marz, Ulrike (2020): Kritik des Rassismus. Eine Einführung, Stuttgart: Schmetterling-Verlag.
Schmitt-Egner, Peter (1976): Wertgesetz und Rassismus. Zur begrifflichen Genese kolonialer und faschistischer Bewusstseinsformen, in: Backhaus, Hans-Georg (Hrsg.), Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie, Bd. 8/9, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 350–405.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Wolfram Stender. Rezension vom 13.11.2024 zu:
Ulrike Marz: Wut auf Differenz. Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus. transcript
(Bielefeld) 2023.
ISBN 978-3-8376-7043-1.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31681.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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