Markus Gamper, Annett Kupfer: Klassismus
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Otto, 28.06.2024

Markus Gamper, Annett Kupfer: Klassismus.
transcript
(Bielefeld) 2024.
252 Seiten.
ISBN 978-3-8252-5927-3.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 26,90 sFr.
Reihe: Einsichten. Themen der Soziologie - 10.
Thema
Das Werk „Klassismus“ widmet sich einer bislang vernachlässigten Dimension der sozialen Ungleichheit: der Diskriminierung, Stigmatisierung und Benachteiligung aufgrund des sozialen Status, welche mit dem Begriff Klassismus bezeichnet wird. Die Autor:innen widmen sich diesem bislang in der Forschung zu sozialer Ungleichheit weniger beachteten Konzept und bieten eine umfassende Einführung in die theoretischen Grundlagen gesellschaftlicher Ungleichheiten, um hieraus eine kritische Begriffsbestimmung von Klassismus abzuleiten, die bislang nicht vorlag.
Autor:innen
PD Dr. Markus Gamper ist akademischer Rat an der Universität zu Köln am Institut für vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. in den Bereichen Soziale Ungleichheit und der Kultursoziologie.
Dr. Annett Kupfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften der Fakultät Erziehungswissenschaften der Technischen Universität Dresden. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. kritische (Trans-)Migrationsforschung und Intersektionalität
Entstehungshintergrund
Der Terminus Klassismus bezeichnet Formen der Unterdrückung oder Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft oder des sozialen Status, wobei sich diese üblicherweise gegen Angehörige vermeintlich niedrigerer sozialer Klassen richten und diesen Menschen den Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe und Anerkennung systematisch verwehrt (Seeck & Theißl 2021).
Hintergrund dieser impliziten oder expliziten Abwertung niedrigerer sozialer Klassen ist insbesondere, dass die Vorstellung einer meritokratischen Gesellschaft nach wie vor Diskurshoheit besitzt und hierdurch soziale Ungleichheit legitimiert wird, weil gesellschaftliche Marginalisierung einem individuellen Versagen bzw. zu wenig Einsatz zugeschrieben werden und nicht gesellschaftlichen Strukturen (Solga 2005).
Obgleich der Begriff Klassismus schon im 19. Jahrhundert vereinzelt zur Anwendung kam, gilt dieser insgesamt im wissenschaftlichen Kontext als bislang vernachlässigte Komponenten sozialer Ungleichheit. Deshalb besteht auch eher wenig Sensibilität für die systematische Exklusion und Marginalisierung bestimmter Klassen im gesellschaftlichen Diskurs (Gamper & Kupfer 2024). An diesem Umstand setzt das Werk von Gamper und Kupfer an und verspricht eine umfassende Einführung in den Klassismusbegriff sowie dessen theoretische Grundlagen im Kontext der Ungleichheitsforschung zu liefern.
Aufbau und Inhalt
Die Einleitung des Werks umfasst eine ausführliche Orientierungshilfe zur Arbeit mit dem Buch, indem dessen Aufbau und Struktur erläutert werden. Ebenso werden die geschichtlichen Entwicklungslinien der Klassismusforschung in nationaler und internationaler Perspektive ausgeführt und die gesellschaftliche Relevanz der Auseinandersetzung mit Klassismus als Form der Stigmatisierung und Unterdrückung von Menschen dargelegt.
Kapitel 2 umfasst die theoretische Herleitung und die Rahmensetzung zum Klassismus. Dem Lesenden wird zunächst eine historische Einordnung in das Phänomen der klassenbedingten Diskriminierung von Menschen geboten, welche die Grundlage für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser lange auch in der Forschung vernachlässigten Komponente sozialer Ungleichheit ab den 1980er Jahren führte. Die nachfolgende Einordnung dieser Diskriminierungsform in Macht- und Herrschaftsdiskurse verdeutlicht, wie bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten durch klassistisches Handeln legitimiert werden. Nach einer ausführlichen Einführung in Theorien sozialer Ungleichheit erfolgt dann ein eigener Definitionsversuch der Autor:innen des Klassismus:
„Klassismus bezeichnet strukturelle, institutionelle, kulturell oder auch individuelle Praktiken und Einstellungen, die Menschen aus unteren sozioökonomischen Klassen und Klassenmilieus stigmatisieren und/oder diskriminieren und soziale, kulturelle oder ökonomische Hegemonien produzieren oder reproduzieren.“ (Gamper & Kupfer 2024, 124).
Kapitel 3 führt in die strukturell-kritische Perspektive von Klassismus ein, indem insbesondere auf Makroebene das komplexe Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und den daraus entstehenden Folgen für Menschen aus unteren Klassen erläutert werden. Es erfolgt eine kritische Einordnung des Kapitalismus als Phänomen, welches Gesellschaften strukturiert sowie des Individualisierungsdiskurses, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse als quasi individuelle Entscheidung erscheinen lässt. Abgerundet wird das Kapitel durch eine kritische Perspektive auf die „Ideologie der Meriokratie“ (Gamper & Kupfer 2024, 131), durch welche Ungleichheiten in der Gesellschaft sowie die Stigmatisierung unterer Klassen legitimiert werden, da Misserfolg an mangelnde, individuelle Leistung gekoppelt wird.
In Kapitel 4 werden klassistische Mechanismen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen (z.B. Bildung, Gesundheit, Darstellung in den Medien, Wohnen) herausgearbeitet und anhand des aktuellen Forschungsstandes aufgezeigt, wie Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen in diesen Bereichen ihre Wirkung entfalten.
Das fünfte Kapitel reflektiert dann verschiedene Kritikpunkte am Klassismuskonzept. Hierbei steht die wissenschaftliche Perspektive im Fokus, indem etwa die Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit einer einheitlichen Begriffsdefinition von Klassismus oder der Kritik an der fehlenden theoretischen Fundierung innerhalb der Sozialwissenschaften behandelt werden. Ebenso wird das Phänomen Klassismus noch einmal gesellschaftskritisch eingeordnet und die Problematik aufgemacht, inwieweit überhaupt die Perspektiven der von Klassismus betroffenen Menschen durch den primär akademischen Diskurs berücksichtigt werden.
Das Fazit des Werks fasst die zentralen Aspekte der vorherigen Kapitel noch einmal prägnant zusammen und schließt mit dem Ausblick darauf, dass die klassenbezogenen gesellschaftlichen Hierarchien keineswegs „naturgegebene und alternativlose“ (Gamper & Kupfer 2024, 204) Zustände sind, sondern durch Politik und solidarisches Handeln veränderbar sind.
Diskussion
Markus Gamper und Annette Kupfer legen eine umfassende Einführung in die Theorie des Klassismus vor. Das Werk bietet einen differenzierten Einblick in die theoretischen Grundlagen der Forschung zu sozialer Ungleichheit und dekonstruiert die im öffentlichen Diskurs noch immer stark verbreitete Mythen der Individualisierungstheorie.
Die insgesamt ausführliche Darstellung der theoretischen Rahmung hilft interessierten Leser:innen noch einmal die gesellschaftlichen Herausforderungen sozialer Ungleichheit nachvollziehend einzuordnen.
Hierdurch bietet das Werk somit wichtige Impulse für unterschiedliche Zielgruppen, die Interesse am Klassismuskonzept und einer kritischen Auseinandersetzung mit Ausgrenzung und Diskriminierung von gesellschaftlichen Gruppen haben: Forschende sowie Lehrende an Hochschulen und Universitäten, Studierenden, die einen umfassenden Einblick in die theoretischen Grundlagen der Ungleichheitsforschung in einer geistes- und gesellschaftlichen Perspektive erhalten wollen aber auch Berufspraktiker:innen in Bildungseinrichtungen, die kritisch-konstruktiv Ausgrenzungsmechanismen in ihrer beruflichen Tätigkeit reflektieren wollen. Aus Sicht einer kritischen Klassismusforschung kann eingewendet werden, dass das Werk aufgrund seiner akademisch-intellektuellen Ausrichtung nur wenig Potenzial bietet, dass es von den Menschen, die selbst von Klassismus betroffenen sind, wahrgenommen wird. Dies wird aber auch von den Autor:innen selbst kritisch diskutiert. Zudem bietet das Werk mit seiner umfassenden Perspektive auf soziale Ungleichheiten und die differenzierte Aufarbeitung des Forschungsstands hierzu eine Einbettung von Klassismus in diese Phänomene. Dies hätte optimalerweise noch in einem Untertitel verdeutlicht werden können, um den Lesenden das beeindruckende inhaltliche Spektrum des Werkes besser verdeutlichen zu können.
Fazit
Die Autor:innen von „Klassismus“ ermöglichen mit ihrem Werk einen differenzierten Überblick zu sozialer Ungleichheit in der deutschen Gesellschaft und in die Mechanismen, wie diese Ungleichheiten fortwährend reproduziert werden. Eine besondere Leistung ist die differenzierte Ableitung einer Definition von Klassismus, die so bislang noch nicht erarbeitet wurde. Auch Kritik am Klassismuskonzept und dessen Hürden für tatsächliche gesellschaftliche Veränderungsprozesse werden kritisch eingeordnet, sodass das Werk insgesamt als wichtige Bereicherung des akademischen Diskurses um soziale Ungleichheit betrachtet werden kann.
Literatur
Gamper, M. & Kupfer, A. (2024): Klassismus. Transkript. Bielefeld.
Seeck, F. & Theißl, B. (Hrsg.) (2021): Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen. Münster. Unrast Verlag.
Solga, H. (2005): Meritokratie – die moderne Legitimation ungleicher Bildungschancen. In: Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hrsg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. S. 19–38. Weinheim. Juventa-Verlag.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Otto
Professor für Kindheitspädagogik
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ORCID: https://orcid.org/0000-0002-1313-8768
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