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Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling et al. (Hrsg.): Konflikte um Infrastrukturen

Rezensiert von Dr. Axel Schwarz, 07.08.2024

Cover Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling et al. (Hrsg.): Konflikte um Infrastrukturen ISBN 978-3-8376-6742-4

Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling, Andrea Futterer, Matthias Möhring-Hesse, Melanie Nagel (Hrsg.): Konflikte um Infrastrukturen. Öffentliche Debatten und politische Konzepte. transcript (Bielefeld) 2023. 230 Seiten. ISBN 978-3-8376-6742-4. D: 40,00 EUR, A: 40,00 EUR, CH: 48,70 sFr.
Reihe: Edition Politik - 154.

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Thema

„Solange alles reibungslos läuft, sind Infrastrukturen politisch nahezu unsichtbar: In Krankenhäusern wird geheilt und gepflegt, in Praxen werden Erkrankungen erkannt und therapiert, ohne dass man in den politischen Arenen darüber spricht. Gleiches gilt für Zahlungssysteme, in denen Tag für Tag Geld zum Kaufen und Verkaufen oder zur Aufnahme und Tilgung von Schulden hin- und hergeschoben wird. Omnibusse und Straßenbahnen fahren, auch die Bahn bringt Menschen nah und fern an ihre Ziele, ohne dass dies politisch thematisiert wird. Trinkwasser strömt aus den Wasserhähnen, das Abwasser wird irgendwo außerhalb der Stadt gereinigt, ›der Strom kommt aus der Steckdose‹ – und politisch ist das alles ›kein Thema‹“ (S. 9). Leider ist unsere Lebenswelt nicht so beschaffen und gegenwärtig häufen sich die Probleme: die Bundesbahn marode, die Landesverteidigung am Boden, die Renten unsicher und die Prävention gegen übertragbare Krankheiten in Coronazeiten ein Trauerspiel mit einer hilflos überforderten justiziellen Kontrolle. Selbst nach Abklingen der Coronapandemie werden keine Absichten erkennbar, die auf Bundes- und Landesebene bestehenden Pandemiepläne umzusetzen. Kein Grund zum Verzweifeln, jedenfalls nicht für den Fachinformationsdienst Politikwissenschaft – POLLUX und zahlreiche Universitäten, Bibliotheken und öffentliche Einrichtungen, die die freie Verfügbarkeit der E-Book-Ausgabe dieser Publikation ermöglicht haben.

Herausgeber und Autor geht es darum, die Prozesse, die für die Genese und den Verlauf infrastrukturpolitischer Konflikte charakteristisch sind, empirisch fundiert zu rekonstruieren. Dabei beschränken sie sich vor allem auf die Politisierung und Problemlösung in drei Handlungsfeldern, in der Wohnungs-, der Umwelt- und der Gesundheitspolitik. „In diesen Feldern wird der Staat jeweils auf spezifische Art und Weise in Anspruch genommen [wird], um auf dem Wege infrastrukturpolitischer Gewährleistung spezifische öffentliche Güter – ›bezahlbares Wohnen‹, ›saubere Luft‹ und ›ambulante Versorgung‹ – bereitzustellen“ (Vorwort).

Aufbau und Inhalt

Einleitung

In der Einleitung befassen sich die Herausgeber und Autoren Hans-Jürgen Bieling (Professor für Politische Ökonomie am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen) und Matthias Möhring-Hesse (Professor für Theologische Sozialethik an der Universität Tübing) mit den „Aussichten auf die Gesellschaft von morgen“. Sie erläutern den Begriff „Infrastrukturen“, den sie nicht auf physische und technische Komponenten (Formen unmittelbarer Materialität) reduzieren. Infrastrukturen sind »sozio-technische Systeme«, die gesellschaftlich finanziert, produziert, reguliert und genutzt werden. Sie sind Handlungsräume, in denen Menschen und soziale Gruppen interagieren und öffentliche Güter nutzen. Sie sollen „dazu beitragen, gleichwertige Lebensverhältnisse für alle zu gewährleisten und eine umfassende aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu realisieren“. An die Stelle solcher „sozialintegrativer Gestaltungslogik“ sind ökonomische und auch ökologische Gestaltungslogiken getreten. Vorgeblich um staatliche Haushalte zu entlasten, setzte der Neoliberalismus auf private Gewinne und Verdrängungswettbewerb und erzeugte damit damit den heute durch öffentliche Skandalisierung sichtbaren Versorgungsmangel (S. 10f).

Gewährleistungsverantwortung

Staatliche Institutionen können ihrer Gewährleistungsverantwortung auf verschiedene Wegen nachkommen (S. 15):

  1. Der Produktions- oder Leistungsstaat erbringt Infrastrukturen in Eigenregie.
  2. Der Regulierungs- oder Gewährleistungsstaat gibt infrastrukturelle Leistungen in Auftrag und überwacht und kontrolliert die auftragsgemäße Erfüllung.
  3. Werden Infrastrukturen dem privat- oder sozialwirtschaftlichen Bereich überlassen, verbleibt dem Staat eine Auffangverantwortung, wenn Defizite offenkundig werden und ad hoc bearbeitet werden müssen.

Leitfragen

Die aktuellen Konflikte um Infrastrukturen werden vorrangig durch drei Leitfragen analysiert (S. 19):

  1. Aus welchen Gründen und mit welchen Ansprüchen der Gewährleistung soll der Staat öffentliche Güter wie bezahlbares Wohnen, ambulante medizinische Versorgung und saubere Luft in ausreichendem Maße zur Verfügung stellen?
  2. Welche spezifischen Probleme oder Hindernisse – Formen des Marktversagens oder der staatlichen Verantwortungsabwehr – stehen einer versorgungsadäquaten Infrastruktur entgegen?
  3. Welche Rollen spielen sog. „schwache Interessen“ in der Politisierung und Aushandlung öffentlicher Infrastrukturen und unter welchen Bedingungen kann es Gruppen mit ›schwachen Interessen‹ gelingen, politisch Einfluss zu nehmen?

Diese drei Leitfragen bestimmen den Aufbau des Werkes. Teil I „Politisierung“ diskutiert die „Wohnungsfrage“ in deutschen Groß- und Universitätsstädten, den „Landarztmangel“ und die ›saubere Luft‹ in Großstädten. Im Teil II „Transformation und (strategische) Innovation“ geht es um die Reaktion der gewährleistungsstaatlichen Institutionen, um Lernprozesse sowie um neue Lösungsvorschläge und Instrumente. Teil III „Schwache Interessen und die Perspektiven der Infrastrukturpolitik im Gewährleistungsstaat“ thematisiert die Rolle schwacher Interessengruppen.

Teil I Politisierung

Der erste Beitrag (S. 39 - 52) in Teil I „Politisierung“ aus der Feder von Johanna Betz (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen) ist überschrieben mit „Diskursive Resonanzen auf die Rückkehr der Wohnungsfrage“. Die leistungslosen Gewinne des Immobilienmarktes, deren Ausmaß weitgehend unbekannt ist, und das Ausmaß der Privatisierungen und des (spekulativen) Handels mit Grund und Boden erschweren die wissenschaftliche Bewertung. Die Autorin zeigt eine Vielzahl von Verbesserungsvorschlägen auf, die zwar machbar, aber nur schwer zu institutionalisieren sind. Daran ändert bisher auch Art. 14 Abs. 2 GG nichts: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Der zweite Beitrag (S. 52 -76) in Teil I „Politisierung“ mit dem Titel „Auf dem Weg zu einer kommunalen Gewährleistungsverantwortung für die ambulante medizinische Versorgung“ stammt von Andrea Futterer (wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen). Die Autorin belegt u.a. die Überforderung von Krankenversicherungen, Kommunen und Kreisen und stellt den regulativen Weg der gesellschaftlichen Selbstverwaltung im Gesundheitswesen punktuell in Frage.

Im dritten Beitrag (S. 77 -100) in Teil I „Politisierung“ befasst sich Melanie Nagel (Politikwissenschaftlerin am Institut für Politikwissenschaft der Eberhard Karls Universität Tübingen/​Promotion 2014 zu Stuttgart 21) mit dem Thema „Divergierende Interessen. Der Kampf um saubere Luft in den Städten“. In diesem Bereich ist die Deutsche Umwelthilfe erfolgreich tätig. Das BVerfG hat vor kurzem das Grundrecht auf Klimaschutz anerkannt und den Staat zu Klimaneutralität verpflichtet. Die aktuelle Änderung des Klimaschutzgesetzes steuert dagegen an.

Teil II Transformation und (strategische) Innovation

Den zweiten Teil des Werks (Transformation und strategische Innovation) eröffnet wiederum Johanna Betz mit dem Beitrag „Staatliche Strategien gegen Wohnungsnot“ (S. 101 – 126). Sie analysiert Produktion (Neubau, Nachverdichtung, Sozialer Wohnungsbau) und regulative Steuerung (Konzeptvergabeverfahren, Baulandbeschlüsse) in

  • Tübingen (2021 ca. 91.000 Einwohner und ca. 39.000 Wohnungen),
  • Frankfurt a.M. (2021 ca. 755.000 Einwohner und 367.000 Wohnungen) und
  • Dresden (2021 ca. 555.000 Einwohner und 314.000 Wohnungen).

Deren Kommunalpolitik kann (ihrer Meinung nach) auf „innovative“ und „gemeinwohlorientierte“ Partner auf dem Wohnungsmarkt zurückgreifen, weitreichende Gesetzesspielräumen auf Landes- und Bundesebene nutzen und Strategien der Bezahlbarkeit entwickeln. Die Zahl der Sozialwohnungen ist seit den 1990er Jahren gleichwohl im Sinken begriffen.

Sodann widmet sich Andrea Futterer dem Thema „Die voraussetzungsvolle lokale Bekämpfung des ›Landarztmangels‹“ (S. 127 - 151). Sie zeigt die Erfolgsbedingungen und Gründe für das Scheitern lokaler Initiativen auf und geht der Frage nach, ob überhaupt und wie „Kommunen mit der ihnen zugetragenen Gewährleistungsverantwortung“ zur Bekämpfung des Landarztmangels umgehen können. Schließlich liegen die dazu notwendigen Kompetenzen in Händen des Bundesgesetzgebers und den Akteuren der gemeinsamen Selbstverwaltung. Den Kommunen verbleiben flankierende Maßnahmen: Sie vermitteln interessierten Ärzten „Kitaplätze und stellen günstige Grundstücke bereit. Sie organisieren Patiententransporte, schalten Werbeanzeigen und loben kommunale Stipendien für interessierte Studierende aus. Sie gründen Arbeitsgruppen, eignen sich versorgungsrelevantes Wissen an und vernetzen sich mit den traditionell zuständigen Akteuren.“ Diese Maßnahmen dürften wohl keine wirksame Abhilfe bewirken. Futterer empfiehlt deshalb (S. 132), bei den Krankenversicherungen für eine engagierte Niederlassungsförderung zu lobbyieren, in eigenen Krankenhäusern auf die ambulante Versorgung einzuwirken und medizinische Versorgungszentren (MVZ), in denen mehrere ambulant tätige Ärztinnen und Ärzte zusammenarbeiten, zu fördern bzw. selbst betreiben. Bei genauerem Hinsehen drohen Frust und Resignation.

Dieses Schicksal dürfte auch Melanie Nagel nicht erspart bleiben, deren Beitrag (S. 153 - 177) im zweiten Teil des Werks auf „Allianzen und Strategien für saubere Luft in den Städten“ setzt. Nagel untersucht u.a. „die Akteurskonstellationen der politischen Diskurse in den Fallstudienstädten Stuttgart, Berlin, Hamburg, München und Dresden“ und bezieht deren Luftreinhaltepläne in ihre Überlegungen mit ein. Immerhin gelangt sie zu dem Ergebnis, „dass die Transformation der Städte voranschreitet, begleitet durch diskursive Aushandlungen und rechtliche Erfolge und unterstützt durch die EU-Regulierung und deren Rechtsprechung“. Allerdings wird die Geschwindigkeit dieser Transformationsprozesse durch „lokale Beharrungskräfte und diskursive Rechtfertigungsmuster“ gebremst.

Teil III Perspektiven staatlicher Gewährleistung

Im Ganzen bleibt das Werk in seinem dritten Teil „Perspektiven staatlicher Gewährleistung“ eher optimistisch. Im ersten Beitrag dieses Teils „Doppelt benachteiligt? Versorgungsmängel und schwache Interessen im Gewährleistungsstaat“ glauben Mara Buchstab (Politikwissenschaften und Soziologie an den Universitäten Bonn und Tübingen), Matthias Helf (Masterstudent der Friedens- und Sicherheitsforschung an der Universität Hamburg) und Jan Ruck (Master Demokratie und Regieren in Europa an der Universität Tübingen) an einen Wandel in der Problemwahrnehmung. Ihnen liegen besonders die „schwachen Interessen“ am Herzen und sie unterscheiden (S. 182) fünf Kategorien (Idealtypen) der Repräsentation von Interessen: (1) Selbst- und (2) Mitvertretung, (3) advokatorische Vertretung, (4) wahlpolitische Mechanismen und (5) Repräsentationsauftrag öffentlicher Institutionen. Auch sie konstatieren letztlich das relative Scheitern des Gewährleistungsstaates, das schwache Interessengruppen in besonderem Maße trifft. „Es leiden also diejenigen am meisten, die in der Interessenkonkurrenz am wenigsten gehört werden und sich am schlechtesten durchsetzen können“ (S. 199).

Im zweiten Beitrag des dritten Teils wenden sich Bieling und Möhring-Hesse zusammenfassend den „Infrastrukturen für ›Gemeinwohl-relevante öffentliche Güter‹. Handlungsbedingungen und Gestaltungsmöglichkeiten des lokalen Gewährleistungsstaats“ zu. Dieses Auswertungskapitel fasst die empirischen Befunde, die auffälligen Merkmale im Verlauf der Infrastrukturkonflikte sowie den Wandel und die Praktiken der gewährleistungsstaatlichen Institutionen zusammen. Die strukturelle Überforderung bedingt die Prekarität, d.i. das ›relative Scheitern‹ der staatlichen Gewährleistung.

Diskussion

Wer immer mit Infrastrukturen zu tun hat, ob mit wissenschaftlicher Zielsetzung oder zur Förderung des Gemeinwohls, sollte dieses Buch studieren. Das gilt trotz des hartnäckig den Lesefluss störenden harten Genderns, d.i. das Gendern mit Sonderzeichen, das – sofern okroyiert – rechtswidrig ist. Auch das teilweise hohe Abstraktionsniveau verschiedener Begrifflichkeiten erschwert teilweise das Lesen. Die Wissenschaftlichkeit des Werks wird auch dadurch nicht beeinträchtigt und wird auch dadurh belegt, dass sämtliche Beiträge auf die jeweils verwendeten Quellen hinweisen und über ein beachtliches Literaturverzeichnis verfügen.

Fazit

In der gegenwärtigen Phase zugespitzter Infrastrukturkonflikte erscheint die offizielle Politik oft als Bewahrer bestehender Zustände und als Hindernis gegen Besserungen. Bestenfalls erweist sie sich als zu langsam. Ein notwendiges »Gesamtpaket« ist nicht in Sicht und scheitert am fehlenden politischen Willen – nicht nur im Bereich der Wohnungsfrage (S. 40). In diesem Sinne leistet das Werk einen wertvollen Beitrag gegen die allgemeine Erschöpfung im Kampf für eine bessere Welt.

Rezension von
Dr. Axel Schwarz
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Zitiervorschlag
Axel Schwarz. Rezension vom 07.08.2024 zu: Johanna Betz, Hans-Jürgen Bieling, Andrea Futterer, Matthias Möhring-Hesse, Melanie Nagel (Hrsg.): Konflikte um Infrastrukturen. Öffentliche Debatten und politische Konzepte. transcript (Bielefeld) 2023. ISBN 978-3-8376-6742-4. Reihe: Edition Politik - 154. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31688.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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