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Bo Hejlskov Elvén, Anna Sjölund: Handeln, Auswerten, Verändern

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 05.06.2024

Cover Bo Hejlskov Elvén, Anna Sjölund: Handeln, Auswerten, Verändern ISBN 978-3-87159-172-3

Bo Hejlskov Elvén, Anna Sjölund: Handeln, Auswerten, Verändern. Vom unaufgeregten Umgang mit Menschen mit einer Autismus-Diagnose und einer an Autonomie orientierten Pädagogik. dgvt-Verlag (Tübingen) 2022. 360 Seiten. ISBN 978-3-87159-172-3.

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Thema

Es braucht verschiedene Kompetenzen zur Umsetzung eines unaufgeregten Umgangs mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum. Das vorliegende Buch stellt viele hilfreiche Werkzeuge vor und ordnet diese den drei Bereichen „Handeln, Auswerten und Verändern“ zu. Sie werden zu einem pädagogischen Ganzen verknüpft. Akute Krisensituationen brauchen ein schnelles Handeln, eine Beurteilung der Ursachen und das Herauszufinden, welche Unterstützung die Person benötigt. Dazu gehört auch, Veränderungen anzustoßen wie z.B. die Umgestaltung des Umfelds und vor allem eine Anpassung des pädagogischen Rahmens an die Bedürfnisse der betreuten Person.

AutorIn oder HerausgeberIn

Bo Hejlkov Elvén ist klinischer Psychologe. Er lebt in Schweden und arbeitet als Autor, freier Berater und Dozent für Autismus und herausforderndes Verhalten. Er vertritt den sog. Low Arousal Ansatz, der in eine niedrig-affektive Pädagogik mündet. 2009 erhielt er vom schwedischen Autismus-Verband die Auszeichnung „Puzzle Piece of the Year“, ein Preis für seine beratende und lehrende Tätigkeit im Bereich „Herausforderndes Verhalten“.

Anna Sjölund ist Verhaltenswissenschaftlerin mit verhaltenstherapeutischer Grundausbildung. Sie betreut und berät Familien v.a. im Bereich Autismus. 2014 wurde sie vom schwedischen Autismus-Verband mit dem Preis „Puzzle Piece of the Year“ für ihre Verbreitung von autismusspezifischem Fachwissen ausgezeichnet.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist im Softcover Format erschienen und hat einen Umfang von 360 Seiten. Es gliedert sich neben Einleitung, Literaturverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis und Anhang in drei Teile und 22 Kapitel. Der Inhalt ist besonders gut strukturiert. Zahlreiche Fallbeispiele sind eingeflochten, wodurch die Erläuterungen sehr konkret und nachvollziehbar reflektiert werden können. Im Mittelpunkt steht die Perspektive des Klientes, denn sie sind die Service-Nehmenden.

Die drei Teile Handeln, Auswerten und Verändern sind farblich unterschiedlich. Es gibt zahlreiche Textboxen sowie Schaubilder, die den Fließtext auflockern. Jedes Kapitel endet mit einer Zusammenfassung in Textboxen sowie einer Frage zur eigenen Reflexion: „wie schätze ich meinen Umgang …(mit dem behandelten Thema) ein. Zur Auswahl stehen „kann nicht“, „bin auf dem Weg“ oder „kann“, neben der Schriftform werden diese mit Piktogrammen visualisiert.

Der Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass in den einzelnen Kapiteln Schlüsselbegriffe benannt werden und dazu in kursiver Schrift Anforderungen an die Adressat:innen des Buches.

Im Mittelpunkt steht ein personenbezogener Arbeitsansatz, der unterschiedliche Werkzeuge verwendet. Elvén und Sjörlund nutzen zur Erklärung des Ansatzes die Metapher einer Werkstatt, die verschiedene Werkzeugkästen bereithält. Werkzeuge sind dann gut, wenn sie richtig zum Einsatz kommen, das setzt voraus, dass Anwendende in der Handhabung geübt sind und darüber Bescheid wissen, wann welche Werkzeuge geeignet sind. Übertragen auf die Praxis bedeutet dies, dass Mitarbeitende/​Angehörige regelhaft reflektieren, ob Fähigkeiten im Umgang mit dem Werkzeug vorhanden sind und ob das richtige Werkzeug benutzt wird, auch ist zu reflektieren, was zu tun ist, wenn die üblichen Methoden nicht ausreichen. Die Aussagen im Buch sind mit Erkenntnissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen weiterer Autor:innen angereichert. Hier wäre der Einsatz einer anderen Formatierung wünschenswert gewesen, sodass sich diese Hinweise sichtbarer vom Fließtext abheben.

Das erste Kapitel definiert grundlegende Rechte und Prinzipien mit dem besonderen Fokus auf Moral und Ethik. Der besondere Hinweis lautet: „Vermeide moralisches Bewerten und Strafen“. Erläutert werden die Autonomie sowie die Unterstützung bei der Autonomie. Die grundlegende Haltung ist, dass Menschen es gut machen, wenn sie können.

Eine zentrale Rolle spielen auch die Kontrolle und Selbstkontrolle. Vorgestellt wird das Modell der Affektregulation. Es gibt Erläuterungen zur Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Auch werden Aspekte von Kontrolle und Zusammenarbeit sowie Kontrolle und Selbstkontrolle besprochen. Das Kapitel endet mit Ausführungen zum Zutrauen, Vertrauen und dem pädagogischen Kapital sowie Kriterien für die Wahl der Methoden.

Zum ersten Teil Handeln gehören vier Kapitel. Im Kapitel zwei Handeln in der Erregungsphase wird herausgearbeitet, dass Handeln und Verändern nicht zu verwechseln sind, was häufig geschieht. Bei der Bearbeitung von konkreten Situationen ist die Betrachtung der Erregungsphasen zentral. Im Fokus stehen hier auch die sog. Gefühlsansteckung und der Zusammenhang von Gefühlsansteckung und Stress.

Das dritte Kapitel beschreibt Werkzeug für das Handeln in Eskalationsphasen. Es gilt unklares, ausweichendes Verhalten zu vermieden. Besondere Herausforderungen müssen verstanden werden, insbesondere die Persönlichkeitsmerkmale in Bezug auf die Extraversion und die Introversion. Bei introvertierten Personen, also Menschen, die sehr nach innen gerichtet sind, entsteht manchmal der Eindruck, dass sie „aus heiterem Himmel“ reagieren. Die Ursache dafür ist, dass die Erregung und der Stress vorher nicht sichtbar ist, was an das Umfeld eine hohe Anforderung an Kommunikationsfähigkeit und Einfühlungsvermögen stellt, um es rechtzeitig wahrzunehmen und zu verstehen. Im weiteren Verlauf der Erläuterungen treffen die Autor:innen eine weitere Unterscheidung: das Handeln bei strategischem Verhalten von extrovertierten Personen und das Handeln bei strategisch selbstverletzendem Verhalten.

Das vierte Kapitel Handeln in einer krisenhaften Situation beginnt mit der Haltung, die eindeutig ablehnt, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen gewaltsam festgehalten oder fixiert werden. Diese Methoden sind lebensbedrohlich, werden aber nicht selten von Fachpersonen oder Angehörigen mit ganz unterschiedlichen Argumenten gerechtfertigt. Viele Jahre war das Thema in Schweden tabuisiert. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass Menschen mit besonderen Bedürfnissen in Einrichtung durch gewaltsames Festhalten zu Tode gekommen sind bzw. lebenslange Schädigungen davon getragen haben. Die einen sagen, dieses Vorgehen sei notwendig, andere behaupten, es tue der Person gut. Das hier vorgelegte Buch stellt Alternativen vor. Als Schaubild dient die Affektregulationskurve im Modus Krise (S. 78). Dabei ist im ersten Schritt einzuschätzen, ob die Situation gefährlich oder ungefährlich ist. Je nach Einschätzung werden Handlungsoptionen beschrieben: Handeln in eskalierten Situationen bei Verhaltensweisen, die als ungefährlich eingestuft werden, hier ist das Erlernen von Selbstkontrolle von zentraler Bedeutung und das Handeln in eskalierten Situationen, wenn das Verhalten als gefährlich eingestuft wird. In diesen Situationen gibt es drei Arten von gezeigtem Verhalten in Phasen des Chaos: Gewalt gegen Fachkräfte und Eltern (sowie einer dritten Person), impulsiver Suizid und ernsthafte Selbstverletzungen.

Ein Schaubild auf Seite 83 zeigt eine Strategie zur Entschärfung und auf den S. 84 & 85 werden Standards des Studio III, erläutert. Diese wurden von Andy McDonnell und seinen Mitarbeitenden entwickelt. Die Methode vom Studio III vertiefend zu erklären würde den Rahmen des Buches sprengen, zu finden ist ein Hinweis, der aus Erfahrung eine hohe Wirksamkeit zeigt (S. 86).

Das Autorenteam macht hier auf das Thema Suizid aufmerksam: Es gibt wissenschaftliche Belege (untersucht wurde der Personenkreis, der ambulant betreut lebt), dass Menschen mit normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz, die unter den Bedingungen von Autismus leben, eine höhere Suizidrate aufweisen als die Normalbevölkerung. Dieses Thema braucht besondere Beachtung.

Die Autoren unterscheiden im Weiteren zwei Arten von selbstverletzendem Verhalten: strategisch selbstverletzendes Verhalten und selbstverletzendes Verhalten in unkontrollierten Situationen. Erst einmal ist zu verstehen: Selbstverletzendes Verhalten ist für die ausführende Person sinnvoll. Sie behält damit die Selbstkontrolle. Diese Verhaltensvarianten brauchen unterschiedliche Reaktions-Strategien: Beim strategisch selbstverletzendem Verhalten reagieren die Betreuenden mit Ruhe und Ablenkung, bei dem selbstverletzendem Verhalten in unkontrollierten Situationen braucht es – wenn es gefährlich ist – aktives Eingreifen (S. 88). Schweres selbstverletzendes Verhalten zu verhindern ist nicht möglich, die Erfahrung zeigt, dass es sich dann noch mehr zeigt. Im zweiten Kapitel werden Methoden der Verhaltensbeobachtung vorgestellt, im dritten Kapitel Strategien der Vorbeugung. Manche Fachkräfte handeln nicht, weil sie befürchten, an „Ansehen“ zu verlieren. Die Botschaft des Autorenteams ist klar: es muss gehandelt werden! Und es braucht eine Reflexion, in der die Situationen analysiert wird, um es beim nächsten Mal anders zu machen.

Der Teil I schließt mit dem fünften Kapitel zum Handeln in der Deeskalationsphase ab. Früher dachte man, dass eine Eskalation in Zyklen verläuft, heute geht man von einem Kurvenmodell aus. Vorgestellt werden Strategien zur Deeskalation, mit dem Ziel, der Person so schnell wie möglich die Selbstkontrolle zurückzugeben und ins Alltagshandeln zu kommen, diese Strategie wird als „Warte ab“ bezeichnet. Die dann folgende aktivere Strategie wird zur Ablenkung eingesetzt, sie wird als „Lenke ab“ bezeichnet. Der Person wird ein Kaffee in einem anderen Raum angeboten. Weitere Strategien weisen darauf hin, dass sie zur Person passen müssen, die einen brauchen Ruhe, andere beginnen ein Puzzle (S. 97).

Teil II Auswerten umfasst die Kapitel 6–13. Den Anfang macht die Konfliktanalyse mit Fragen zu den Phasen des Erregungsablaufs, Fragen nach dem Affektauslöser, Fragen in der Eskalationsphase, Fragen zu eskalierten Situationen, Fragen zur Deeskalationsphase sowie der Anregung, die Person nach ihrer Meinung zu fragen, was viel zu selten geschieht, aber wichtige Informationen liefert.

Der nächste Schritt ist die systematische Erfassung von Verhaltensweisen, beginnend mit der schematischen Darstellung von Verhaltensweisen anhand einer Tabelle, in der festgelegte Verhaltensweisen ohne viel Aufwand mit Farben visualisiert werden. Auf dieser Grundlage werden dann Hypothesen gebildet. Wichtig ist, dieses Schema über einen längeren Zeitraum anzuwenden.

Kenntnisse zu Stress- und Belastungsfaktoren sind sehr bedeutsam. Anwendung findet das sog. „Hejlskov-Uhrskovs-Belastungsmodell“, das sich am Vulnerabilitäts-Stress-Modell auf dem Jahr1984 anlehnt. Seit 1975 schon ist bekannt, dass ein Übermaß an Stress Psychosen auslösen kann. Der Autor Bo Hejlskov Elvén nimmt dieses Modell und ersetzt den Begriff „Psychose“ durch das Wort „Chaos“. Bei vielen Betroffenen ist das Stressniveau noch über dem dargestellten Chaosniveau. Hejlskov fand heraus, dass viele Ursachen im Milieu in grundlegenden Belastungsfaktoren liegen und somit veränderbar sind (S. 119). Das Autorenteam beobachtet häufig, dass Belastungsfaktoren entfernt werden, die dazu dienen sollen, die Lebensqualität zu erhöhen, besser wäre es, darauf zu schauen, welche „lustlosen Momente“ es gibt und diese dann eher zu reduzieren (S. 125). Vor der Chaosstufe liegen die Warnsignale, die darauf hinweisen, dass die Belastung hoch ist, aber bisher nicht im Chaos. Auf den Seiten 121–123 ist dargestellt, wie mit dem Belastungsmodell gearbeitet wird. Eine Fallvignette verdeutlicht die Ausführungen.

Um eine Person besser zu verstehen, braucht es vielfältige Informationen durch fächerübergreifende Untersuchungen, es gibt zahlreiche Quellen, die zu nutzen sind. Vorgestellt wird die Untersuchungswerkzeuge ALSUP und Kompass, beide mit dem Ziel, Problemlösungen für den Alltag zu finden. Ross Green hat herausgefunden, dass der Mensch das Richtige tut, wenn er dazu in der Lage ist. Erwähnt wird auch der CPS Gesprächsleitfaden. Bei Personen, die nicht so gut sprechen können kann alternativ das Kompass-Modell eingesetzt werden, bei dem mit Karten gearbeitet wird. Ein weiteres mögliches Vorgehen ist zusammen mit der betreuten Person ein Bedürfnis- und Unterstützungsprofil zu erstellen (Kapitel 11). Das Gespräch kann mithilfe einer Vorlage und visuellem Kartenmaterial geführt werden, bewährt hat sich ein Formular für das Einschätzen von Aussagen sowie visuelle Skalen, mit der Möglichkeit, die Situation von 0 bis 10 einzuschätzen. Vielen Menschen aus dem Autismus Spektrum fällt es schwer, mit offenen Fragestellungen umzugehen wie z.B. welche Unterstützung brauchst du im Alltag? Diese kann dann anhand konkreter Teilaufgaben, die benannt sind, angekreuzt werden. Dieses Vorgehen wird eher angenommen als die Einschätzung, wo jemand Defizite hat, es ist ein anderer Fokus. Dabei sind auch die Gesundheitsfaktoren zu erfassen, diese behandelt das 12. Kapitel. Festgestellt werden Faktoren, die gesund erhalten. Dieser Ansatz nach Martin Seligman geht auf den der Ansatz der positiven Psychologie zurück. Wichtig ist dabei nicht, warum es Menschen schlecht geht, sondern unter welchen Umständen und mithilfe welcher Faktoren es Menschen gut geht. Anhand des PERMA Modells hat Seligman fünf Glücksfaktoren beschrieben, auf den Seiten 150–153 werden entsprechende Schemata (I und II) vorgestellt. Von besonderem Interesse ist auch den Fokus auf die Bedürfnisse der Personen, auf ihre Interessen und Wünsche zu richten. Die lösungsorientierte Pädagogik beschreibt Gelegenheiten (Aktivitäten und Situationen), die gut oder besser gelaufen sind. Antworten tragen zur Erhöhung der Lebensqualität bei. Unter diesem Fokus wird sich ein Überblick verschafft. Letztendlich sind eine motivierende Gesprächsführung und das U-I-U Vorgehen, gemeint ist Untersuchen – Informieren – Untersuchen wichtig.

Der Teil III Verändern mit einem Umfang von vier Kapiteln beginnt mit dem Verstehen des Menschen mit besonderen Bedürfnissen in Hinsicht darauf, wie sie sich und ihre Umgebung wahrnehmen und erleben. Mitarbeitende ändern ihre Sichtweise und nehmen empathisch die andere Art, die Umwelt zu sehen wahr. Die Reflexion der Helfer*innenrolle ist zentraler Bestandteil.

Eine autonomieunterstützende Pädagogik (Kap. 15) ist eine Pädagogik, die den Alltag von autistischen Menschen überschaubar, verständlich und handhabbar macht. Visuelle Hilfsmittel zur Unterstützung des Verstehens kommen zum Einsatz, z.B. digitale Hilfsmittel zur Unterstützung von Autonomie. Zudem braucht es auch einen pädagogischen Ansatz für Eltern und Betreuungspersonen zum Vermitteln von Verständnis. Das Autorenteam nutzt die Metapher des Werkzeugkastens, sie weisen darauf hin, dass es drei Werkzeugfächer mit unterschiedlichen Etiketten braucht. Fach 1: „Verstehen“: Dazu gehören ein „Warum-Werkzeug“ mit sog. Social Stories oder Comic-Strip-Gesprächen, um Zusammenhänge zu erklären, dann das „Was-Werkzeug“ mit einem Aktivitätsschema, das „Wo-Werkzeug“ mit visuellen Hilfen, Unterstützung durch Bilder, das „Wie-Werkzeug“ mit einer Anleitung für die Kommunikation in einer sozialen Situation – soziale Skripte (ein Gesprächsleitfaden). Bewährt haben sich Listen z.B. die „Wie-macht-man-was-Liste“ oder „Wie-viel-und Wie-lange-Werkzeuge“, auch werden Hilfsmittel für das fehlende Zeitgefühl benannt. Ein weiteres Werkzeug ist das „Wann-Werkzeug“ und das „Was-passiert-dann-Werkzeug“. Wichtig ist, Kenntnis zur Rolle des*der Erklärenden zu haben und innezuhalten, zu reflektieren, dass man manchmal fast alles richtig macht und dennoch ein kleines Detail übersieht. Bei all dem ist es aber auch sehr wichtig, die Menge an Informationen im Blick zu behalten, dass es nicht zu einer Informationsüberflutung kommt. Fach 2: „Handhabbar machen“. Ein angepasstes physisches Milieu, das an die Bedürfnisse von autistischen Menschen angepasst ist, wirkt wie ein Kombiwerkzeug. Folgende Aspekte sind dabei wichtig: der Autonomieaspekt, der Sicherheitsaspekt und der Aspekt der Reizüberflutung sowie das Wissen, dass Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, intensiver als andere wahrnehmen. In diesem Werkzeugfach finden sich deshalb auch sensorische Wahrnehmungswerkzeuge. Das Milieu sollte an die Wahrnehmungsschwierigkeiten autistischer Personen angepasst sein, Reizüberflutung sollte vermieden werden (an dieser Stelle wird jeder Sinn einzeln besprochen: Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken und auch der Gleichgewichtssinn). Das Kapitel schließt mit weiteren Werkzeugen für ein besseres Leben wie z.B. Werkzeuge, um Orientierungsschwierigkeiten zu beheben, Werkzeuge, um Aufmerksamkeitsprobleme zu reduzieren, Werkzeuge, um Gefühlsüberflutung zu vermeiden, Werkzeuge, um in die Gänge zu kommen und eine Sache zu beenden, Werkzeuge für die Übergänge zwischen Aktivitäten und Werkzeuge für fehlendes Zeitverständnis sowie die Verzeih-Methode und die Reflexion der Rolle als Airbag. Fach 3: „Sinn, Bedeutung“ in Bezug auf ein selbstständiges Leben sowie Sinn und Motivation. Unterstützung und Dienstleistungen gehören zusammen, wie -so das Autorenteam – Glieder einer Kette. Drei Fragen sind bedeutsam: 1. Welche Unterstützung musst Du vor einer Aktivität geben? 2. Welche Unterstützungen musst Du während einer Aktivität geben und 3. welche Unterstützung musst Du bei den Übergängen geben? Es wird zudem herausgearbeitet, dass verschiedene Aktivitäten verschiedene Anforderungen stellen.

Im Mittelpunkt des 20. Kapitels steht das Verändern der Person anstelle der Umgebung, insbesondere in Bezug auf die Sinngebung und Motivation. Die Wahl von Aktivitäten wird durch das Wechselspiel von innerer und äußerer Motivation bestimmt. Voraussetzung ist ein abstraktes Verständnis, warum wir diese Aktivität machen wollen und wie die Konsequenzen aussehen, wenn wir diese verweigern. Das Herauszufinden gelingt über die Warum-Werkzeuge (S. 189). Eine innere Motivation setzt voraus, den Sinn zu verstehen. die äußere Motivation nutzt Belohnung und positive Verstärkung. Am Anfang steht die Frage: Wer hat das Problem? Folgende Fragestellungen suchen Antworten:

  • A) Welche Fähigkeiten können sinnvollerweise trainiert werden? 
  • B) Welche Trainingsinhalte machen Sinn?
  • C) Wer entscheidet, was trainiert werden soll? 
  • D) Wie viel soll man trainieren? 
  • E) Wie lange soll etwas trainiert werden?

Zu beachten ist dabei immer, dass das Leben dann selbstständig ist, wenn Menschen selbst bestimmen.

Im Fokus des vorletzten Kapitels stehen die psychologische Behandlung und die Stressreduktion. Zentrale Voraussetzung ist die Kenntnis über die Behinderung. Dargestellt wird das Modell einer Wippe, das hilft, Stress, Symptome und Strategien zeitgleich zu betrachten. Hingewiesen wird auf Werkzeuge, die auf kurze Sicht Stress reduzieren, mit dem besonderen Fokus darauf, dass die Person ihre Strategien selbst verändert, es gibt Werkzeug, das die innere Anspannung abbaut und Werkzeug, das Stress durch die Veränderung der Umgebung reduziert. Dieses Kapitel schließt mit Überlegungen zu Therapie, Anpassung, Pädagogik und der Frage, was brauchen wir eigentlich?

An erster Stelle stehen Kenntnisse zur Beeinträchtigung. Das alleinige Wissen z.B. in „Kognitiver Verhaltenstherapie“ (KVT) reicht nicht aus. Tony Attwood, ein sehr bekannter Autismusexperte arbeitet im Rahmen des „CAT-kit“ mit KVT, dieses Tool wurde in Dänemark von Annette Möller Nielsen und Kirsten Callensen entwickelt. Dabei geht es um die soziale Kommunikation und Reflexion von Beziehungsverhältnissen. Grundlage ist eine visuelle Struktur, die dazu benutzt werden kann, Selbsteinsichten zu klären, zu erhalten und persönliche Erfahrungen mitzuteilen.

Das 22.Kapitel thematisiert, dass Anforderungen angemessen gestellt werden sollten, z.B. sollten die Anforderungen an die Tagesform angepasst sein. Mitarbeitende müssen wissen, wann sie selbst „Krücke“ (Person hat hohen Energielevel) und wann sie selbst „Rollstuhl“ (Person hat niedrigen Energielevel) sein sollten. Auch ein Ampel-Modell kann helfen und auf einfache Art visualisieren. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu wissen, dass viele Menschen mit Unterstützungsbedarfen kein „Sparkapital“ haben, wie es in einem Beispiel ausgedrückt wird. Es ist nicht zu unterschätzen: Etwas lernen und einüben erfordert Energie und darüber verfügen viele unserer Servicenehmenden nicht. Oft erleben Mitarbeitende, dass bestimmte Fähigkeiten in der einen Woche vorhanden sind und in der anderen Woche nicht. Das hat nichts mit Faulheit zu tun, sondern mit dem Level an Sparkapital. Mitarbeitende müssen sich immer wieder vor Augen halten, dass das alltägliche Tun Kapital aufzehrt. Dazu findet sich S. 319 eine Übersicht von Paula Tillit, die für sich aufgelistet, was zu tun ist und welche Kosten wofür anfallen. Als Währung hat sie den Euro gewählt, so kostet z.B. das Nachdenken über jeden einzelnen Schritt beim Duschen je 2 €. Das Beispiel zeigt sehr eindringlich: Automatisierungen und Rituale verbrauchen weniger Kapital. Auch die Einarbeitung neuer Mitarbeitender ist kräftezehrend, auf einem Energierad wird visualisiert, dass diese Zeiten energieraubend sind. An dieser Stelle haben auch die Reflexion der eigenen Rolle und der eigenen Haltung ein besonderes Gewicht. Mitarbeitende müssen reflektieren, wie sie sich sehen. Auch das gehört zum pädagogischen Rahmen dazu. Die Metapher des „Kapitals“ wird auch auf die pädagogische Arbeit übertragen: durch den Aufbau von Vertrauen wird pädagogisches Kapital aufgebaut. Das sog. „Vertrauenskapital“ wird in „S-Valuta (Sinn geben)“, „V-Valuta (Verständnis herstellen)“ und „H-Valuta (eine Sache handhabbar machen)“ unterschieden.

Im Nachwort wird hervorgehoben, dass das Buch „Herausforderndes Verhalten vermeiden“ aus 2015, also der Ansatz des unaufgeregten Umgangs, mit dem Ansatz des hier vorliegenden Buches der Pädagogik, die den Alltag verständlich und handhabbar macht verknüpft werden sollte. An zwei Fallbetrachtungen wird das Vorgehen anschaulich dargestellt. Zum Buch aus dem Jahr 2015 liegt ebenfalls eine Rezension vor.

Im Anhang findet sich zusätzliches Material für die Analyse der angewandten pädagogischen Hilfsmittel, pädagogische Hilfsmittel für das Verstehen von Alltagsaktivitäten und pädagogische Hilfsmittel für die Handhabung von Alltagsaktivitäten. Der schwedische Autismus- und Aspergerverband hat autismusspezifische Kompetenzen definiert, damit endet das Buch.

Diskussion

Handeln, Auswerten und Verändern richtet sich an alle, die mit Kindern und Erwachsenen mit besonderen Bedürfnissen leben und arbeiten: im Betreuten Wohnen, in ambulanten Betreuungs- und Tageseinrichtungen, in Förder- oder Regelschulen, in Assistenzmodellen oder zu Hause. Vorgestellt werden verschiedene Werkzeuge, deren Funktion und Anwendung bekannt sein müssen, um wirksam zu sein. Fokus ist, zwischen den eigenen Werten und den Wünschen sowie Bedürfnissen des Gegenübers zu unterscheiden und sich auf eine eigene Entwicklungsreise als Fachkraft oder Elternteil zu begeben.

Es gibt nicht viele gute Bücher zum Umgang mit Verhaltensweisen, die herausfordern. das hier vorgelegte Buch und das schon genannte aus dem Jahr 2015 „Herausforderndes Verhalten vermeiden. Menschen mit Autismus und psychischen oder geistigen Einschränkungen positives Verhalten ermöglichen“ gehören auf jeden Fall zu der Literatur, die man kennen muss!

Im hier vorliegenden Buch beschreibt der erste Teil Werkzeuge zum Handeln, der zweite Teil „Auswerten“ beginnt mit einer Konfliktanalyse auf der Grundlage von Fragen zu den Phasen des Erregungsablaufs, Fragen nach dem Affektauslöser, Fragen in der Eskalationsphase, Fragen zu eskalierten Situationen, Fragen zur Deeskalationsphase sowie der Anregung, die Person nach ihrer Meinung zu fragen, was viel zu selten geschieht, aber wichtige Informationen liefert und der dritte Teil das Verändern.

Ergänzen möchte ich ein weiteres hilfreiches konzeptionelles Werkzeug aus meiner Erfahrung in der Arbeit mit Menschen mit herausforderndem Verhalten: die Benennung einer für die Person sprechenden Person (ich nenne es Fürsprecher-System). Jeder Klientin und jedem Klienten wird ein Mitarbeitender zugeordnet, um diese Rolle zu übernehmen. Diese Person hat die Aufgabe, bei der Analyse der Situation und des Geschehens konsequent die Sichtweise der Fokus-Person einzunehmen und zu benennen. Damit ist sichergestellt, dass diese Perspektive einen Raum bekommt und einbezogen wird. Wie im Buch beschrieben wird häufig reflexartig auf das Verhalten geschaut und nicht berücksichtigt, in welcher Situation das Verhalten gezeigt wird. Das ist eine einseitige Sichtweise, die Erweiterung der Perspektive eröffnet weitere zahlreiche Lösungs-Möglichkeiten.

Menschen, die sehr unsicher sind, brauchen als Unterstützung ein Stellvertreter-Ich im Sinne eines ordnenden Außen. Auch diese Rolle dem zuständigen Mitarbeitenden als Aufgabe zu geben, ist nach meiner Erfahrung von zentraler Bedeutung. Der im Dienst zuständige Mitarbeitende ist dabei quasi „drei Schritte voraus“, sodass er sich innerlich vorbereitet, wenn die Situation als überflutend erlebt wird und die Fokus-Person davon bedroht ist, die Kontrolle zu verlieren. In solchen Situationen kann es zu einem enormen Stresserleben kommen, bei manchen Servicenehmenden drückt sich dies durch selbst- und fremdschädigende Verhaltensweisen aus. Im Buch findet sich dazu ein Hinweis: es wird eine Autistin zitiert, die diese Unterstützung als Begleitung durch einen Mitarbeitenden, der aufrecht steht, bezeichnet (S. 328).

In diesem Zusammenhang wird oft behauptet, dass es eine feste Person braucht, die einem Servicenehmenden fest zugeordnet ist. Das ist in vielen Einrichtungen Praxis. Meine Erfahrung geht in eine andere Richtung. Ich kann davon nur abraten und habe mit meinem Team ein anderes Konzept entwickelt, das der „rotierenden Mitarbeitenden“. Das bedeutet, dass in einem Team alle Mitglieder mit allen Menschen arbeiten können. Damit verteilt sich die Verantwortung. Dieses Konzept setzt natürlich voraus, das pädagogische Handeln abgestimmt ist, alle darüber Bescheid wissen und die abgestimmten Strategien sicher anwenden können. Neben dem Wissen über pädagogisches Handeln braucht es auch Strategien zur Organisationsentwicklung.

In dem hier vorliegenden Buch nimmt das Autorenteam die Rolle der Mitarbeitenden verstärkt in den Blick, die mit dem Buch einen Werkzeugkasten erhalten. Es gibt also nicht einen Universalwerkzeugkasten für alles, es braucht verschiedene Werkzeuge zum Handeln, zum Auswerten und zum Verändern – deshalb der Titel des Buches. Aber nur der Besitz eines Werkzeugkastens macht noch nicht professionelle Arbeit aus, es braucht Mitarbeitende/​Servicegebende, die die Werkzeuge auch adäquat und sicher anwenden können. Neben dem geeigneten Werkzeug zum Handeln braucht es auch passende Werkzeuge zur Reflexion dahingehend, unsere eigenen Werte und Bewertungen von den der anderen zu unterscheiden. Auch braucht es eine fortlaufende Reflexion der eigenen Rolle. Nach jedem Kapitel findet sich deshalb die Frage danach auf einer Skala mit Piktogrammen, wie die eigenen Fähigkeiten eingeschätzt werden mit den Kategorien „Kann nicht – bin auf dem Weg – kann“.

Fazit

Für einen unaufgeregten Umgang mit Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind verschiedene Kompetenzen gefragt. Das vorliegende Buch benennt hilfreiche Werkzeuge und ordnet diese drei Bereichen zu: dem Handeln, Auswerten und Verändern. In akuten Krisensituationen ist schnelles Handeln erforderlich und es gilt, sowohl die Ursachen zu beurteilen als auch herauszufinden, welche Unterstützung die Person benötigt. Ein prall gefülltes Buch mit praxiserprobten Hinweisen und Anregungen mit dem besonderen Merkmal, dass immer wieder zur Reflexion des eigenen Verhaltens, der eigenen Rolle und des eigenen Wissenstands angeregt wird.

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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ISSN 2190-9245