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Maria Kondratjuk, Olaf Dörner et al. (Hrsg.): Qualitative Forschung auf dem Prüfstand

Rezensiert von Thomas Barth, 27.12.2023

Cover Maria Kondratjuk, Olaf Dörner et al. (Hrsg.): Qualitative Forschung auf dem Prüfstand ISBN 978-3-8474-2618-9

Maria Kondratjuk, Olaf Dörner, Heike Ohlbrecht, Sandra Tiefel (Hrsg.): Qualitative Forschung auf dem Prüfstand. Beiträge zur Professionalisierung qualitativ-empirischer Forschung in den Sozial- und Bildungswissenschaften. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2022. 393 Seiten. ISBN 978-3-8474-2618-9. D: 65,00 EUR, A: 66,90 EUR.

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Thema

Bei der aktuellen PISA-Studie erzielte Deutschland die bislang schwächsten Ergebnisse und bei der Ursachenanalyse ist der Beitrag der Sozialwissenschaften gefragt. Qualitative Forschung erfreut sich dabei steigender Beliebtheit, die Anwendung entsprechender Methodologien und qualitativ-empirischer Methoden findet daher immer mehr Interesse. Nicht immer ist jedoch klar, welche methodologisch-methodischen Voraussetzungen und Standards der jeweiligen Forschungsfrage angemessen sind. Die Ausbildung in qualitativ-empirischer Forschung ist an deutschen Hochschulen sehr unterschiedlich ausgeprägt, was auch in den Sozial- und Bildungswissenschaften Informationsbedarf weckt. Der Tagungsband liefert einen aktuellen Überblick zur Professionalisierung, zu Theorie und Empirie, Methoden und Methodologie sowie zur Frage der Vermittlung qualitativer Forschung auch in heutigen Zeiten der Pandemie und Digitalisierung.

Entstehungshintergrund

Anlass der Publikation war das 25-jährige Jubiläum des bundesweiten Magdeburger Methodenworkshops für qualitativ Forschende des Zentrums für Sozialweltforschung und Methodenentwicklung (ZMS) der Universität Magdeburg. Hierzulande haben sich viele Formate der Vermittlung qualitativer Forschung jenseits curricularer Strukturen formiert, etwa die oft selbst organisierten Forschungswerkstätten. Der Magdeburger Methodenworkshop war das erste derartige Format. Herausgegeben wurde der Tagungsband von vier ZMS-Vorstandsmitgliedern: Maria Kondratjuk, Technische Universität Dresden, Institut Berufspädagogik und Berufliche Didaktiken, Organisationsentwicklung im Bildungssystem, Olaf Dörner, Sandra Tiefel und Heike Ohlbrecht von der Universität Magdeburg, Institut Bildung, Beruf und Medien, Bereich Erziehungswissenschaft.

Aufbau und Inhalt

Das Buch untergliedert sich in drei Teile mit insgesamt 17 Kapiteln von 33 Autor*innen:

  • Teil A behandelt „Theorien und Methodologien in ihrer Bedeutung und Funktion für empirische Forschungsprozesse“,
  • Teil B „Methoden, Methodenentwicklung und qualitative Ergebnisformate“,
  • Teil C „Qualitative Forschung vermitteln, lehren und lernen“.

Es geht um die Debatte über qualitativ-empirische Forschung in den Humanwissenschaften, auch bezüglich der Vermittlung von Methoden sowie der Sensibilität für Grenzen der Erkenntnisgewinnung. Es geht auch um die kritische Frage nach der Qualität der qualitativ-empirischen Forschung und ihrer Ergebnisse. Mehr als bei quantitativen Methoden zeigt sich die eher konstruktivistisch geprägte Vorstellung eines gemeinsamen Einübens methodischen Handwerks, das über Rezeptwissen hinaus geht. Der Tagungsband spannt ein großes Themenspektrum auf und beleuchtet es aus zahlreichen Perspektiven. Erörterte Methoden sind u.a. Tiefenhermeneutik, Narrations- und Biographieanalyse, Rekonstruktive Situationsanalyse, Wissenssoziologische Videohermeneutik; es geht um das gemeinsame Erlernen und Anwenden qualitativer Methoden in selbstorganisierten Forschungswerkstätten, um Theorie-Praxis-Figuren in der qualitativen Methodenausbildung, um Befremdung als ethnographische Haltung forschenden Lernens, darum, den eigenen Forschungsstil zu entwickeln aus der Perspektive von Promovierenden, die das gemeinsame Erlernen und Anwenden qualitativer Methoden in selbstorganisierten Forschungswerkstätten praktizieren, um nur einige Themen zu nennen. Dem Interesse des Rezensenten geschuldet werden zwei Beiträge herausgegriffen, die sich mit Digitalisierung und den neuen Netzmedien befassen.

  1. Maria Kondratjuk untersuchte „Digitalisierung und qualitative Bildungs- und Sozialforschung“ und legte einen „Entwurf zur Systematisierung des Einflusses des Digitalen“ vor (S. 47–64). Für die qualitative Bildungs- und Sozialforschung haben sich durch die Digitalisierung vielfältige Veränderungen ergeben, die etwa auch das Online-Forum „Qualitative Bildungs- und Sozialforschung in Zeiten von COVID-19“ des ZSM maßgeblich prägten. Unter dem Schlagwort Digitalisierung der Forschung betrifft das Digitale die kollaborative Arbeitsorganisation, etwa Online-Forschungswerkstätten, und eröffnet neue Felder wie OpenScience, OpenAccess und OpenData. Geht es bei einer „digitalen Hermeneutik“ darum, nicht nur sprachlich kommunizierten, sondern heute auch maschinell berechneten Sinn zu verstehen? Nein, denn Sinn, so Kondratjuk, kann nur von Menschen ausgehen und weder maschinell berechnet noch kommuniziert werden. Es entstehen jedoch im Kontext der Digitalisierung neue Forschungsfelder und Feldzugänge qualitativer Forschung, die sogar angesichts der pandemiebedingten Einschränkungen wie gerufen kamen. Die Übertragung etablierter Forschungs- und Erhebungsverfahren in digitale Formate stellte oft die einzige Möglichkeit dar, die Arbeit fortzuführen, wenn auch unter veränderter methodologischer Signatur. Kontaktgebundene qualitative Bildungsforschung wurde mit bis dato unbekannten auch ökonomischen und rechtlichen Problemen konfrontiert. In der Konsequenz sei diese Entwicklung noch kaum zu überschauen, so eine Stellungnahme der Kommission Qualitative Bildungs- und Biographieforschung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Corona-Krisenjahr 2021.

Digitalisierung sei nutzbringend für die Sozialforschung etwa bei der Archivierung von Daten, der Anpassung von subjektbezogenen Analysemethoden an digitale Medialität sowie für die qualitative Analyse von digitalen Sinnstrukturen. Die Veränderung der Sozialökologien durch die Digitalisierung stellt jedoch auch metaphysische und sozialtheoretische Grundlagen der qualitativen Sozialforschung in Frage. Es sei zu problematisieren, ob die etablierten Methoden noch angemessen wären für die Anforderungen, die die neuen Datenarten an die Analyse stellen. Qualitativ interpretierbare Praktiken und Prozesse würden zudem Daten generieren, die „in anderen Datenwelten“ und dort auch in anderer, womöglich problematischer Weise genutzt werden, etwa durch maschinelles Lernen bzw. Künstliche Intelligenz, Mustererkennung, Verhaltensbeeinflussung etc. (S. 51).

Maria Kondratjuk nimmt vor diesem Hintergrund, der auch gesellschaftliche Entwicklungen wie Plattformökonomie, Überwachungskapitalismus, Online-Lebenswelten umfasst, eine Systematisierung vor, welche die qualitativ-empirische Relevanz des Digitalen in vier Feldern lokalisiert:

  1. als Forschungsfeld und Gegenstand,
  2. als Medium und Methode,
  3. Digitales im Kontext von Forschung als sozialer Praktik und
  4. als Bedingungskontext von Forschung allgemein und von qualitativer Forschung im Besonderen.

Unter Verweis auf Felix Stalder und Benjamin Jörissen stellt sie fest, dass wir uns das Digitale wie ein Myzel vorstellen müssen, bestehend aus unsichtbaren, miteinander zusammenhängenden Verflechtungen, die eine neue Infrastruktur der Wahrnehmung, der Kommunikation und der Koordination entstehen lassen. Diese betreffen grundlegende Dimensionen fast aller individuellen und kollektiven Tätigkeiten. Diese kulturelle Einschreibung habe sich verselbstständigt und gehöre „zum so genannten taken for granted“. Konkret beträfe das im Forschungsprozess etwa Recherchewege und -möglichkeiten und zunehmende Verfügbarkeiten wie Unverfügbarkeiten, Erhebungs- und Auswertungsmethoden, aber dabei auch Forschungsethik und Datenschutz. Wie sieht dies in der Forschungspraxis aus? Kondratjuk untersuchte im Rahmen von Lehrforschungsprojekten Beispiele audiovisueller bzw. digitaler Alltagskultur anhand der Selbstdokumentation in Messenger-Apps wie Whatsapp, Telegram oder Signal, wo Text, Audio, Videos und Bilder analysierbar waren. Dabei ging es um Aspekte der Veränderung von Medien, ihrem Zugang und ihrer Nutzung etwa in den sozialen Welten von Gamer*innen und deren Chatverläufen bzw. Online-Interviews. Dabei sollte nicht vergessen werden: „…auch ein ausgetüfteltes computergestütztes Analyse-Tool übernimmt nicht die notwendigen Denkprozesse und Interpretationsleistung -dies obliegt uns Forschenden“ (S. 54).

Gerade qualitative Forschung mit ihrer Affinität zur Selbstreflexion zeige neue Perspektiven auf, wie im Projekt „AutoEthnographische Forschung zu digitaler Lehre und deren Begleitung“, wo die Lehre in 16 Hochschulen untersucht wurde (S. 58). Vielversprechend wären hier Ansätze, die explizit auf einer methodologischen Reflexion gründen, wie die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Situationsanalyse, die relationale Netzwerkanalyse und die Sozialweltanalysen (Kondratjuk 2017). Maria Kondratjuk verweist am Ende optimistisch auf die vielen neuen Lösungen für die Methodenentwicklung, wachsenden Zugang und Teilhabe, etwa in kollaborativen Arbeitszusammenhängen, wie Forschungswerkstätten, und auf die neuen Möglichkeiten der Technologie: Etwa sensorische Immersion, wo Technologien uns ein Gefühl der präsenzlosen Nähe zu anderen Menschen vermitteln oder andererseits: welche Bedeutung physische Distanzen bekommen, wenn wir ständig online und connected sein können. Sie schließt mit dem Aufruf: „Und so bietet das Digitale Datenmaterial, welches auf unser soziales Handeln und Zusammenleben verweist. Fragend schreiten wir voran! (Preguntando caminamos) So einer der Lebensphilosophien der zapatistischen Bewegung in Chiapas, Mexiko und der gleichnamigen Replik ‚Fragend schreiten wir voran‘ – als Antwort auf die Altvorderen der qualitativen Sozialforschung“ (S. 60).

2. Alexander Geimer befasste sich mit dem Thema „Subjektivierung und (Medien)Bildung unter Bedingungen soziomedialer und (post)digitaler Lebensverhältnisse“ und untersuchte „theoretische und methodologische Herausforderungen für die qualitative Forschung“ (S. 117–140). Die Generierung neuen Wissens jenseits der Bestätigung von Hypothesen sei, so Geimer, nicht nur ein Anliegen der Forschung. Auch „Alltagsakteur_innen können die Erfahrung der Infragestellung von Gewissheiten und Befremdung von alltäglichen Prozess- und Relevanzstrukturen machen, sodass neues Wissen von sich selbst und der Welt entsteht“ (S. 117). Dieses gelte es zum Gegenstand der qualitativen Forschung zu machen, etwa der qualitativen, transformativen Bildungsforschung, der es um die Subjektivierung durch die Transformation von Lebensorientierungen gehe. Aus einer Perspektive, die digitale „Soziale Medien“ fokussiert, werden methodologische Möglichkeiten der Rekonstruktion von Subjektivierungs- und Bildungsprozessen erörtert. Der krisenhaften Charakter des Bildungsgeschehens beziehe sich auf eine normative Komponente des Bildungsbegriffs, die allerdings normbezogen eher schwach ausfalle. Man könne sie etwa als Erweiterung von Handlungsspielräumen, Offen- und Aushalten von Kontingenzen bzw. das Finden neuer Diskursarten oder gesteigerte Reflexion von Selbst- und Weltverhältnissen verstehen. Für die qualitative (Bildungs-)Forschung sei dabei zentral, dass Normbezüge theoretisch nicht so vorausgesetzt werden, dass alltägliche Handlungsweisen an Maßstäben der Forscher*innen gemessen werden. Oft erscheine Bildung in qualitativer Forschung als eine Sonderform der Subjektivierung, ohne dass letztere genauer bezeichnet würde. Fasse man Subjektivierung enger etwa mit Foucault oder Butler, so komme die konstitutive Kraft 1. normativer Ordnungen, 2. der Alltagspraxis und 3. ihrer Wissensbestände in den Blick. Subjektivierung sei dann ein Prozess der ‚Unterwerfung‘ unter- wie zugleich ‚Ermächtigung‘ durch normative Ordnungen (S. 119).

Alexander Geimer schlägt zur methodologischen Entwicklung von Analysedimensionen für Soziale Medien drei Perspektiven vor:

  1. Auf Interfacedesigns,
  2. auf ihren Gebrauch und Kaskaden der Rezeption und Produktion sowie
  3. auf dabei entstehende soziomediale Transaktionsräume.

Wenn wir die Angebotsstrukturen von spezifischen Sozialen Medien in den Blick nehmen, um die Voraussetzungen von Subjektivierung und Bildung zu erforschen, spielt die Gestalt des „interfaces“ eine zentrale Rolle. Eine methodologische Grundfrage wäre, inwiefern die Verfasstheit von spezifischen Sozialen Medien ihre Nutzung präkonfiguriert und spezifische Typen von Nutzenden produziert. Vergleichbar sei die Relation der Nutzenden zum Interface mit der Relation von Rezipierenden zum Filmbild. Die Analyse von Interfacedesigns ermögliche Einsichten in die (Vor)Strukturierung von Nutzungsprozessen. Aber Schlüsse auf die Praxis des Gebrauchs und somit auch auf Prozesse der Bildung und Subjektivierung könnten allenfalls vorsichtig getroffen werden (S. 124).

Der Gebrauch von Software-Strukturen kann weitergehende Analysepotenziale eröffnen: In Bezug auf klassische Bildschirm-Medien wurde von Rezeptionskaskaden gesprochen, die durch intra- und interindividuelle Kommunikationsprozesse entstehen – Soziale Medien erlauben demgegenüber auch Kaskaden der Rezeption, die in Produktionen übergehen, was als eine spezifische Ermöglichungsleistung zu verstehen sei. So nehme die heranwachsende Generation hier neue Kommunikationsräume in Besitz und produziere „sich im wahrsten Sinne selbst“. Entsprechend würden in Sozialen Medien Ideale (und Negativfolien) des Jugendlich-Seins bzw. Erwachsen-Werdens von Jugendlichen nicht nur rezipiert, sondern in eigenen Produktionen präsentiert oder sogar propagiert. Soziale Medien stellten somit in digital beschleunigten und Rezeptions- und Produktionskaskaden einen Raum für Alltagsvarianten von Coming of Age-Narrationen. Hier habe sich z.B. das Genre der Transformationsvideos etabliert, in welchen die eigene Lebensführung präsentiert wird, wo eine erhebliche Transformation des eigenen Körpers medial vorgelebt wird: Ein Vorbild dafür, wie auch Rezipierende ihr Leben in neue Richtungen lenken könnten (S. 125). Wie vergleichende Video-Analysen zeigen könnten, so Geimer, liege den Kaskaden von Produktionen insbesondere die Zirkulation und Weitergabe von körper- und geschlechtsbezogenen Fähigkeits- und Schönheitsnormen zugrunde. In der Form einer solchen mimetisch-angleichenden Aneignung erwiesen sich die Produser*innen als besonders ‚authentisch‘, da sie in der Lage wären, Normen der Selbst-Optimierung und -Disziplinierung nicht nur zu erfüllen, sondern sogar weiterzugeben. In den Lifestyle-Welten auf YouTube werde dazu aufgerufen, sich zu disziplinieren und zu optimieren. Insofern erscheinen bildungstheoretisch diese Subjektivierungsweisen als ein „einschließendes Gehäuse mit nur geringem Reflexionspotenzial“ (S. 126). Doch zumindest bestehe auch die Möglichkeit, dass Bilder, etwa Selfies eigene biografische Entwicklungen gewahr werden lassen und ein reflexives Distanzverhältnis zu sich selbst herstellen.

Insofern sei die Einschätzung von Jörissen zu bekräftigen, dass Bildung unter digitalen Bedingungen verstärkt in ihrer partizipatorischen Dimension zu verstehen sei. Zugleich würde aber deutlich, dass die Verästelungen von Kaskaden der Produktion und Rezeption und ihre Relation zu alltäglichen Erfahrungsräumen, weitergehende Kontextualisierungen erfordern. In Sozialen Medien würden neue Partizipationskulturen entstehen, deren Bildungs- und Subjektivierungseffekte jedoch in hohem Maße ambivalent wären. Die Rekonstruktion von soziomedialen Transaktions- und Erfahrungsräumen ermögliche die bildungstheoretisch aufschlussreiche Entdeckung neuer Praktiken sowie die Irritation von Orientierungen durch imaginierte, eigensinnige Affordanzen (Aufforderungscharakter).

Diskussion

Der materialreiche Tagungsband breitet ein buntes Spektrum wissenschaftlicher Ansätze, Methoden und Methodologien aus und belegt vielfach ihre Beiträge zum Bildungsbereich nicht nur in akademischer Hinsicht sondern auch praktisch und inhaltlich. So wurde etwa klar, dass die qualitative Bildungs- und Subjektivierungsforschung selbst zu Medienbildung sowie der Förderung von Medienkompetenz beitragen kann, indem ihre Ergebnisse in pädagogische Kontexte, auch im Kontext praktischer Medienarbeit integriert werden. Die Diskussion von Sozialen Medien im Fernsehen (und anderen Mainstream-Medien) könne darüber hinaus auch kritische Fragen für die politischen Diskurse in der Öffentlichkeit bewusst machen, etwa des Schutzes der Privatsphäre und die „ausbeuterische Verwendung von Algorithmen“ im Rahmen eines heute drohenden Überwachungskapitalismus (Geimer S. 134). Was die Sozialen Medien betrifft, wird trefflich für qualitative Forschung argumentiert: Wir stehen heute infolge Digitalisierung und Plattformisierung nicht mehr nur vor einem segmentierten Publikum, sondern vor „disrupted public spheres“. Fragmentisierung in Nischen-, Teil- oder alternative Gegenöffentlichkeiten führte zu einer „Intimisierung des Öffentlichen“ (Geimer S. 120). Diese intimen Sinnwelten seien eher qualitativen Methoden zugänglich. Formen der Sozialität würden neu verhandelt und definiert und damit die Rolle von nicht-menschlichen Akteuren/​Aktanten (Latour) und digitalen Dingen, die ko-aktiv an Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion beteiligt seien. Deren spezifische ‚Affordanz‘ stelle Möglichkeitsstrukturen bereit, lege Handlungsweisen nahe, greife aber auch normierend in Beziehungen ein. Die selbstreflexive Haltung der qualitativen Forschungskultur sei daher richtungweisend, denn das Feld des Digitalen sei ein „moving target“ mit hoher Eigengeschwindigkeit und Innovationskraft; Forschende liefen Gefahr, „beides zu sehr oder zu direkt in das eigene Arbeiten zu übernehmen“ (Maria Kondratjuk S. 59). Eine sehr kluge Warnung, bedenkt man wie etwa in der Technikanthropologie die wissenschaftliche Distanz dem technologisch-ideologischen Charme der eigenen „Apple-Watch“ erliegen kann (vgl. Rezension zu Puzio). Zu bemängeln ist am vorliegenden Tagungsband die teilweise selbst für eine akademische Textsammlung sehr schwerfällige Diktion, die einer breiten Rezeption leider im Wege stehen dürfte. Dies verwundert um so mehr als das Fachgebiet der Autor*innen oft die Bildung, also auch die Wissensvermittlung ist -der sind bekanntlich absatzlange, verquaste Bandwurmsätze wenig förderlich. 

Fazit 

Der Tagungsband liefert einen aktuellen Überblick über den Stand der Entwicklung qualitativ-empirischer Methoden. Qualitative Forschung wird auf den Prüfstand gestellt, um einen Beitrag zur Professionalisierung in den Sozial- und Bildungswissenschaften zu leisten. Dabei hat sich gezeigt, dass Reflexionsprozesse einen festen Platz und genügend Zeit in der Arbeit der selbst organisierten Forschungswerkstatt einnehmen müssen. Nur so kann der Reflexivitätsanspruch gerade der qualitativen Forschung auch im neuen Feld des Digitalen eingelöst werden, wo neue Formen der Sozialität neu verhandelt werden und auch die Rolle von nicht-menschlichen Akteuren und digitalen Dingen in den Blick kommt.

Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 22 Rezensionen von Thomas Barth.

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ISSN 2190-9245