Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion
Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 08.01.2024
Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2022. 4. Gesamt Auflage. 319 Seiten. ISBN 978-3-451-39260-3.
Das Thema
Bildung und Inklusion in den Kindertageseinrichtungen fordern Erziehungs- und Bildungsgerechtigkeit. Es handelt sich um das Respektieren der Vielfalt der Kinderwelten, um Diskriminierungen vorzubeugen. Alle Kinder haben das demokratische Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Inklusives pädagogisches Handeln basiert u.a. auf Artikel 2 (1) des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Dieser lautet: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“ (In: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 16. Auflage, 2019).
Die Herausgeberin
Petra Wagner, Dipl.Pädagogin, ist Mitbegründerin und Leiterin der Fachstelle Kinderwelten für Vorurteil Bildung und Erziehung am Institut für den Situationsansatz/INA Berlin gGmbH. Sie hat zahlreiche Bücher und Fachartikel veröffentlicht.
Allen Autorinnen und Autoren gebührt Dank für die Veröffentlichung der sowohl erziehungswissenschaftlich als auch soziopolitisch relevanten Arbeit.
Inhalt
Dieses Werk geht folgenden Fragen nach:
- Was bedeutet inklusives pädagogisches Handeln?
- Wie ist Inklusion zu verstehen?
- Was bedeutet Normalität aus der Sicht der Inklusion?
- Wo liegen die Unterschiede in der Pädagogik in Ost und West?
- Was kann inklusive Pädagogik von anderen Ländern lernen?
- Welche Probleme sind im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund zu erwarten?
- Wo liegen die Schwerpunkte der „Anti-Bias- Pädagogik“?
Der Begriff „Bias“ bedeutet Verzerrung des Ergebnisses einer Repräsentativerhebung. „Anti-Bias-Pädagogik“ verfolgt vier Ziele, die aufeinander aufbauen: Kinder sollen selbstbewusst reagieren, Kinder mögen Freude und Wohlbehagen in den Beziehungen ausdrücken, Kinder sollen sensibel reagieren und ungerechte Äußerungen erkennen und- als viertes Ziel, Kinder sollen sich gegen Vorurteile wehren können (vgl. S. 303–305). Alle vier Ziele sind „ineinandergreifende Zahnräder“; sie funktionieren in einem logischen Kreislauf. Anti-Bias Ziele in der Praxis basieren auf pädagogischen Prinzipien, die eine inklusive Lernumgebung strategisch fördern muss (vgl. S. 309).
Das Handbuch gliedert sich in neun Kapitel: im ersten befasst sich Annika Sulzer mit der „Inklusion als Werterahmen für Bildungsgerechtigkeit“. Die Autorin analysiert dabei den Begriff Inklusion und dessen pädagogischen Rahmen. Sie fragt, wie sich Inklusion pädagogisch-organisatorisch verstehen lässt und fordert, Inklusion auf mehreren Ebenen zu betrachten: gesamtgesellschaftlich, institutionell, interaktional und subjektiv (vgl. S. 17).
Das zweite Kapitel mit der Überschrift „Der Ansatz Vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung als inklusives Praxiskonzept“ von Petra Wagner betont, dass der Anspruch auf Inklusion durch Menschen und Kinderrechte legitimiert ist (vgl. S. 23). Eine Bestätigung dieses Anspruches ist im Weltbildungsbericht der UNESCO 2020 zum Thema „Bildung und Inklusion für alle“ zu finden (vgl. S. 23). Nach Wagner ist eine vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung im Sinne eines inklusiven Praxiskonzeptes realisierbar, indem Kita-Teams fortgebildet und fachlich begleitet werden (vgl. S. 33).
Ebenso beschreibt die Herausgeberin des Handbuches im Kapitel „Gleichheit und Differenz im Kindergarten – eine lange Geschichte“ u.a. das Thema der Homogenisierung und Diskriminierung von Lerngruppen im Kindergarten. Am Beispiel der Vorschulerziehung als Kollektiverziehung in der DDR wird diese als undemokratische kritisch definiert (vgl. S. 44). Des Weiteren beschreibt Wagner fünf Strategien im Umgang mit Unterschieden, als „Respekt für Vielfalt“ (S. 51–61).
Monika Keller widmet sich im vierten Kapitel der Entwicklung und Förderung moralischen Denkens und moralischer Gefühle in der Kindheit. Einleitetend bezieht sich die Autorin auf die moderne Entwicklung psychologischer Moralforschung von Jean Piaget (1932/1973). Es handelt sich dabei um moralisches Verstehen, Normen, Respekt von Regeln, Liebe und Furcht (vgl. S. 67). Anschließend werden Entwicklungsstufen für die Zeitspanne von der Kindheit bis zur Adoleszenz (vgl. S. 74 ff.) beschrieben.
Das fünfte Kapitel „Vielfalt und Diskriminierung im Erleben von Kindern“ ist Produkt mehrerer Autoren. Dieses Kapitel behandelt grundlegend die Frage, was man fachpädagogisch gegen Diskriminierung unternehmen kann. Dieses sehr umfangsreiche Kapitel, gliedert sich entsprechend in 12 Teilabschnitte und behandelt u.a. konzeptionell die folgenden Themen: kindliches Erleben von Vielfalt und Diskriminierung; geschlechtsbewusste Pädagogik und Bedeutung der geschlechtlichen Identität für Kinder; Heterogenität als Bildungsprozess für Kinder mit und ohne Behinderung; Bedeutung der Herkunftsfrage; Migration und damit verbundene Hürden; Rassismuserfahrung von Kindern und die Sprachenvielfalt von Kindern im Verhältnis zwischen Ost und West.
Serap Azun befaßt sich im sechsten Kapitel mit der “Zusammenarbeit mit Eltern: Respekt für jedes Kind – Respekt für jede Familie“. Das Familienbild hat sich in der Gesellschaft verändert. In diesem Kapitel werden unterschiedliche Familienstrukturen, z.B. nichtelterliche Paargemeinschaften, Patchworkfamilien oder Alleinerziehende Familien aufgezeigt: „Ein Drittel der in Deutschland lebenden Kinder kommt aus Familien mit Migrationshintergrund (BMFSFJ 2020)“ (S. 245). Dabei stellt sich die Frage, welche tragfähigen pädagogischen Konzepte entwickelt werden müssen.
Auch im siebten Kapitel ergreift Petra Wagner das Wort und spricht über „Vielfalt respektieren, Ausgrenzung widerstehen – wie kann man das lernen“.
Interkulturelle Kompetenzen werden zur Bedingung einer künftigen Pädagogik. Das Kernstück dieser Kompetenzen bezieht sich auf die „Diversity-Ansätze“ (S. 267). Es wird diskutiert, mit welchen pädagogischen Strategien die Problematik der Vielfalt zu lösen ist.
Die „Internationale Zusammenarbeit für Vielfalt und Gleichwürdigkeit“ wird von Regine Schallenberg-Diekmann im achten Kapitel beleuchtet. Hierbei liegt das Augenmerk auf der Arbeitsgruppe DECET-Netzwerk, welche Qualitätskriterien für Vielfalt unter Einbeziehung der Sichtweisen von Kindern, Eltern und Pädagogen entwickelt (vgl. S. 283). Es wird u.a. die Frage untersucht, was und vor allem wie man voneinander lernen kann (vgl. S. 290).
Im neunten und letzten Kapitel befasst sich Louise Derman-Sparks mit „Anti-Bias Education for Everone – Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung für alle“. In diesem abschließenden Kapitel wird das Thema der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung im Kontext der Anti-Bias-Pädagogik geschildert (vgl. S. 299 ff.): „Anti-Bias Arbeit ist Teil der umfassenderen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit, deren Anliegen es ist, alle institutionellen und individuellen Formen von Vorurteilen und Diskriminierungen zu beenden“ (S. 301). Es wird untersucht, welche pädagogischen Anti-Bias-Ziele und welche Prinzipien in der Praxis der Kindertageseinrichtungen umgesetzt werden müssen, um diese Herausforderungen zu bewältigen.
Diskussion
Die deutsche Bundesregierung hat 2009 die UN Konvention zu den Rechten von Menschen mit Behinderung ratifiziert (vgl. S. 13). Inklusives pädagogisches Handeln soll Kindern Orientierung geben, ohne sie zu gängeln (vgl. S. 10). Der Inklusions-Begriff bedeutet Einbeziehung. Pädagogik als Begriff meint Führung eines Kindes. „Führung“, „Einbeziehung“ und „Orientierung geben“ sind eine Herausforderung an alle Akteure der inklusiven Pädagogik. Inklusion ist nach der Definition der Deutschen UNESCO-Kommission ein Prozess, „bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingegangen wird. Erreicht wird dies durch verstärkte Partizipation an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen sowie durch Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der Bildung…“ (vgl.S. 14) Inklusionspädagogische Hilfen sind ein „grundlegender gesetzlicher Auftrag an Kindertageseinrichtungen“(S. 19). Grundlage für inklusives Handeln ist Demokratie (vgl. S. 20). Die Herausgeberin beruft sich mit ihrem Aufsatz auf Glenda MacNaughton (2006) mit ihren fünf Strategien zur „Art und Weise, wie wir über Kinder denken und wie wir unsere Beziehungen mit Kindern gestalten“ (vgl. S. 51). Die fünf Strategien lassen sich wie folgt zusammenfassen: „Wir sind alle gleich“, „Wir bringen alle auf den gleichen Stand“, „Du bist anders als ich“, aber „Es soll fair zugehen“ und “Es muss für alle gerecht sein“ (vgl. S. 53–61). Diese Strategien lassen sich lediglich als einzelne Bausteine einer inklusiven Pädagogik im Kindergarten betrachten. Des Weiteren werden die Themen der Empathie, der moralischen Gefühle und der Verantwortungszuschreibung dargestellt (vgl. S. 70 ff.). Das moralische Lernen hängt mit der sozialen Umwelt zusammen. Es wird unterschieden zwischen affektiven Aspekten der Interaktion, z.B. „sich als Person erfahren, deren Bedürfnisse und Gefühle von anderen respektiert werden“(vgl. S. 82), und kognitiven Aspekten der Interaktion, z.B. „Verantwortungsübernahme/Eigenständigkeit“. In der Folge wird das Thema der Diskriminierung bei Kindern analysiert (vgl. S. 87 ff.). Zurecht wird auch festgestellt, dass Heterogenität als Motor für die Bildung aller Kinder zu verstehen ist (vgl. S. 108). Kinder aus Flüchtlingsgebieten haben nicht selten mit posttraumatischen Belastungsstörungen zu tun (vgl. S. 151), die oft den Beginn einer erfogreichen Integration und damit auch die inklusiv-pädagogischen Prozesse erschweren. Ein sensibles Thema in den Kindertagesstätten ist die Religion; hier ist eine hohe Toleranzschwelle zu fordern. Es ist festgestellt worden, dass die Pädagogik in den Kindertageseinrichtungen der DDR kaum dazu beigetragen hat, dass Kinder sich zu selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln konnten. Elementare Bedürfnisse der Kinder wurden nicht berücksichtigt (vgl. S. 224–225). Es bleibt festzustellen, dass Hautfarbe, Abstammung und Religionszugehörigkeit kein Grund zu Diskriminierung werden dürfen. Ein anderes Thema ist die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Kindergarten. Eltern wünschen sich oft Hilfe von den pädagogischen Fachkräften bei Konflikten und Informationen bzw. Unterrichtung über die Entwicklung ihrer Kinder. Die Gestaltung einer Zusammenarbeit ist gesetzlich geregelt im Kinder-und Jugendhilfegesetzes (KJHG) und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ 2020) (vgl. S. 247 ff.). Eine gute Zusammenarbeit kann gelingen, wenn u.a. Kompetenzen und Normvorstellungen dialogisch und mit Respekt anerkannt werden. Dabei kann die interkulturelle Kompetenz für pädagogisches Handeln, z.B. professioneller Umgang mit kultureller Vielfalt, entscheidend für Erfolg bzw. Misserfolg sein (vgl. S. 265). Das Motto „Voneinander lernen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg“ bedeutet eine Bereicherung für alle Beteiligten (vgl. S. 281 ff.). Es geht im Grunde darum, dass alle Menschen sich dem Gemeinwesen zugehörig fühlen sollen. Mit Hilfe der Anti-Bias-Pädagogik lernen wir Strategien für soziale Gerechtigkeit und in diesem Kontext, wie alle individuellen als auch institutionellen Vorurteile und Diskriminierung vermieden werden (vgl. S. 301 ff.).
Wagners Kompendium hat über die Kindertageseinrichtungen hinaus einen starken Bezug zur inklusiven Pädagogik auch anderer Institutionen, z.B. Schulen, Selbtshilfegruppen, für Familien mit Kindern mit Einschränkungen und Freizeiteinrichtungen für Kinder (wie z.B. Jugendzentren, Häuser der Jugend und Spielhäuser für Kinder), die ebenfalls davon profitieren können. Einer Neuauflage dieses Werkes wäre zu wünschen, sich auch dem sozialen bzw. pädagogischen Potenzial z.B. ehrenamtlicher „Miterzieher“ und Betreuer zu widmen. Wichtig ist der Herausgeberin die interkulturelle Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte. Inklusion bedeutet schließlich, dass man Menschen u.a. mit Behinderung soziale Teilhabe gewährt und überzeugende Antworten und nachhaltige Konzeption gegen jegliche Art von Diskriminierung anbietet. Sie fordert Unterschiede zwischen Normalität oder Anderssein nicht zu bewerten. Das Handbuch plädiert für ein pädagogisches Inklusionskonzept ohne Tabus; nur so – so die Autorin-lässt sich Vielfalt als Normalität und behindertengerecht verstehen und in der Gesellschaft verankern.
Fazit
Das Handbuch plädiert für ein pädagogisches Inklusionskonzept ohne Tabus; nur so – so die Autorin-lässt sich Vielfalt als Normalität und behindertengerecht verstehen und in der Gesellschaft verankern.
Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
Mailformular
Es gibt 18 Rezensionen von Siegmund Pisarczyk.
Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 08.01.2024 zu:
Petra Wagner (Hrsg.): Handbuch Inklusion. Grundlagen vorurteilsbewusster Bildung und Erziehung. Verlag Herder GmbH
(Freiburg, Basel, Wien) 2022. 4. Gesamt Auflage.
ISBN 978-3-451-39260-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31692.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.