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Petra Herzmann, Johannes König: Forschungsmethoden im Lehramtsstudium

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Beywl, 19.06.2024

Cover Petra Herzmann, Johannes König: Forschungsmethoden im Lehramtsstudium ISBN 978-3-8252-5926-6

Petra Herzmann, Johannes König: Forschungsmethoden im Lehramtsstudium. Zugänge und Perspektiven forschenden Lernens. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2023. 215 Seiten. ISBN 978-3-8252-5926-6. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR, CH: 25,50 sFr.
Reihe: UTB - 5926. Schulpädagogik.

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Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

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Thema

Das Buch will eine anwendungsbezogene Konkretisierung empirischer Forschungsansätze und -methoden auf den schulischen Kontext leisten (S. 12). Lehramtsstudierende sollen Kompetenzen zur kritischen Rezeption von Bildungsforschung erwerben und Anregungen für eigene Studienprojekte erhalten, die sie im Rahmen ihrer Ausbildung durchführen (forschendes Lernen).

Autor:innen

Beide haben an der Universität zu Köln eine Professur für Empirische Schulforschung inne, mit dem Schwerpunkt qualitative (Petra Hermann) bzw. quantitative Methoden (Johannes König).

Aufbau

Neben den zwei einleitenden Kapiteln besteht das Buch aus drei Teilen:

I Qualitative Forschung (Kapitel 3 bis 5 mit 80 Seiten)

II Quantitative Forschung (Kapitel 6 bis 10 mit 95 Seiten)

III Fazit – als Zusammenfassung (5 Seiten)

Hinzu kommen Literaturverzeichnis sowie Abbildungs- und Stichwortverzeichnis.

Alle Kapitel in den Teilen I und II sind didaktisch aufbereitet, je mit folgenden Elementen:

  • Erwartungshorizont (zwei bis vier Lernziele zum Kapitel)
  • Textteile mit ca. 10 bis 30 Seiten
  • Zusammenfassung des Kapitels in einem meist längeren Absat
  • bis zu fünf Fragen zum Textverständnis
  • bis zu vier Fragen zur Reflexion bzw. forschungspraktische Fragen
  • ausgewählte weiterführende Literatur.

Inhalt

Kapitel 1 „Einleitung“ adressiert angehende Lehrkräfte. Es will:

  1. eine verständige Rezeption der Fachliteratur und empirischer Studien ermöglichen;
  2. für eigene empirische Forschungsarbeiten vorbereiten;
  3. die Entwicklung einer forschenden Grundhaltung fördern.

Kapitel 2 verortet „Das Forschende Lernen im Lehramtsstudium“ im Rahmen verlängerter Praxisphasen als Kernelement eines „professionellen Selbstkonzeptes“. „Forschendes Lernen“ wird in Anlehnung an einschlägige Literatur (Ludwig Huber sowie Ralf Schneider und Johannes Wildt) umrissen; Herausforderungen werden angesprochen.

Kapitel 3Methodologie: Erkenntniswege qualitativer Forschung“ stellt ausschließlich theorieangeleitete Verfahren qualitativer Forschung vor („Grounded Theory“, vgl. Kap. 5, als theoriegenerierender Ansatz, wird hier nicht erwähnt) und führt als zwei grundlegende Prinzipien „Offenheit“ und „Standortgebundenheit“ ein. Als zentrale Gütekriterien werden „Akzeptanz der Forschung im Untersuchungsfeld“ Schule sowie „intersubjektive Nachvollziehbarkeit der Interpretationen“ erläutert.

Kapitel 4 „Erhebungsverfahren“ behandelt zwei Hauptzugänge:

„Verbale Zugänge: Befragen und an Gesprächen teilnehmen“ mit dem Erkenntnisinteresse, „Erlebnisse und Perspektiven der Befragten“ herauszuarbeiten. Je ein eigenes Unterkapitel ist „narrativen“, „Leitfaden-“, „problemzentrierten“ und „Expert:innen-Interviews“ gewidmet, ein weiteres, „Gruppendiskussionen“, beschränkt auf real existierende Gruppen.

„Visuelle Zugänge: Beobachten“: Hier geht es darum, wie Daten zu „Praktiken, Aktivitäten und Interaktionen“, die auch ohne Anwesenheit Beobachtender ablaufen würden, vorbehaltslos und unaufdringlich, also ohne Beeinflussung durch die Beobachtungssituation erhoben werden können. Zum Festhalten der Beobachtungsdaten wird auf Vor- und Nachteile von Protokollieren und Videografieren eingegangen.

Kapitel 5 „Auswertungsverfahren“ geht beispielhaft zunächst auf zwei Grundprinzipien der qualitativen Auswertung ein:

(A) die Verpflichtung auf Schriftlichkeit, was in der Regel wörtliche, sich an explizierte Regeln haltende Transkriptionen erfordert;

(B) die Gewährleistung intersubjektiver Nachvollziehbarkeit von Interpretationen.

Wie dies systematisch geleistet werden kann, dafür geben fünf im deutschsprachigen Raum verbreitete Methodologien Orientierung. Deren Grundannahmen und Basisoperationen werden in eigenen Unterkapiteln vorgestellt: (1) Qualitative Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring, (2) Grounded Theory nach Barney G. Glaser und Anselm Strauss, (3) Dokumentarische Methode nach Ralf Bohnsack, (4) Objektive Hermeneutik nach Ulrich Oevermann sowie (5) Adressierungsanalyse nach Sabine Reh und Norbert Ricken. Letztgenannte ist spezifisch auf längerfristig angelegte schulische Bildungsprozesse zugeschnitten. Das abschließende Unterkapitel behandelt die „Dokumenten- und Artefaktanalyse“, also die Auswertung von durch Schüler:innen produzierten Produkte, und schließt damit die im Kap. 4 gelassene Lücke.

Kapitel 6 „Methodologische Perspektiven“ führt ausgehend von zwei verschiedenen Darstellungsarten quantitativer Datenverteilungen didaktisch geschickt zu einem Grundverständnis von Wesen und Funktion der Statistik hin. Anschließend wird der in der Tradition des kritischen Rationalismus stehende ‚klassische‘, aus den frühen 1970er Jahren stammende, soziologisch geprägte „forschungslogische Ablauf“ nach Jürgen Friedrichs eingeführt. Dieser basiert wesentlich auf theorieabgeleiteten Hypothesen und orientiert die nachfolgenden Kapitel dieses Teils II.

Kapitel 7 „Stichprobenwahl“ behandelt das Thema Grundgesamtheit-Stichprobe und verschiedene Auswahlverfahren, mit einer gewissen Präferenz für die Zufallsauswahl.

Kapitel 8 „Grundlagen der Messung“ führt für die „Messtheorie“ grundlegende Konzepte wie Operationalisierung, Verbindung von „empirischem“ und „numerischem Relativ“ sowie „Variable“ ein. Es bleibt dabei teils recht abstrakt. Die vier für die spätere Datenanalyse entscheidenden „Skalenniveaus“ (nominal, ordinal, intervall, Verhältnis) werden vorgestellt.

Kapitel 9 „Erhebungsinstrumente“ thematisiert zunächst Erhebungsmethoden, besonders die standardisierte Befragung mit einer Präferenz für bereits vorliegende Instrumente. Als Auswahlkriterien werden Messgenauigkeit und Durchführbarkeit angesprochen (Ethik/​Fairness fehlt). Beispielhaft werden anschließend vorgestellt: (1) „Instrumente zur Erfassung der Merkmale von Lernenden“, mit vertieftem Blick auf Fragebogen-Skalen, die aus mehreren Items zu einem Thema bestehen; (2) „Instrumente zur Erfassung der Merkmale von Unterricht“, z.B. um dessen Qualität durch Schüler:innen einschätzen zu lassen.

Kapitel 10 „Statistische Datenanalyse“ ist mit 34 Seiten das umfangreichste. Detailliert, beispielreich und für (engagiert) Lesende gut nachvollziehbar wird ausführlich auf „deskriptive“ Auswertungsmöglichkeiten eingegangen; zu Verteilungen, statistischen Maßzahlen und grafischen Darstellungsmöglichkeiten für (1) ein Merkmal/​Variable (=univariat – besonders lesenswert „Bedeutung der Standardabweichung“) und (2) zwei Merkmale/​Variablen (bivariat – besonders lesenswert „Korrelationskoeffizient Eta-Quadrat“ sowie „Produkt-Moment-Korrelation“).

Diskussion

Die der Buchkonzeption zugrunde liegende Absicht, Wissen zu Forschungsmethoden konsequent auf „Schule“ zu beziehen, wird konsequent umgesetzt. Veranschaulichungen und Beispiele sind fast ausnahmslos der Schul- und Unterrichtsforschung entnommen. Allerdings sind es in manchen Kapiteln viele verschiedene, was Noviz:innen eine hohe kognitive Last aufbürdet, insofern sie sich stets in den jeweiligen Kontext eindenken müssen.

Dass hier eine ‚qualitative‘ Exponentin (für Teil I) und ein quantitativer Exponent (für Teil II) der Schulforschung für eine übergreifende Darstellung zusammenspannen, um beide Strömungen im Sinne von „Methodenvielfalt und -entwicklung“ parallel darzustellen, ist für ein Lehrbuch besonders anerkennenswert. Dabei könnte die Integration z.B. dadurch verstärkt werden, dass verdeutlicht wird, dass die (streng genommen abzuschließende) qualitative Analyse Voraussetzung jeder quantitativen ist. So kann z.B. Geschlechtszugehörigkeit nicht gezählt werden, solange die relevanten Ausprägungsformen über „weiblich“ und „männlich“ hinaus nicht ‚qualitativ‘ geklärt sind. Ein Vergleich quantitative-qualitative Methodologien wäre wünschenswert, z.B. bzgl. der Stichprobenziehung, und würde die Alleinstellungen des qualitativen Zugangs (u.a. Potenziale der Entdeckung und der Theoriegenerierung) herausheben können.

Als Ziel der Forschung wird in beiden Teilen die Gewinnung von generalisierbaren, also verallgemeinerbaren bzw. allgemein gültigen theoretischen Aussagen hervorgehoben (S. 25; S. 95). Forschung zielt demnach (beinahe) exklusiv auf Erkenntnisgewinn. Die angesprochenen empirischen Projekte der Lehramtsstudierenden dienen somit dem forschenden Lernen über einen Forschungstypus, dessen umfassende Beherrschung professionell Forschenden vorbehalten ist. Nicht wenige Textteile, z.B. Kap. 2 zum Forschenden Lernen im Lehramtsstudium, bedienen die Rezeptionserwartungen von Profis bzw. Lehrenden der empirischen Bildungsforschung. In diese Richtung weist auch die im Fazit prominent genannte Erwartung nach Buch-Lektüre zu wissen, „inwiefern unser Studienbuch […] einen Beitrag zur Methodenausbildung im Lehramtsstudium leisten möchte“ (S. 187).

Die hohe Relevanz von Fragestellungen für den Forschungsprozess wird vielfach unterstrichen. Dabei wird dieses Schlüsselkonzept (sowohl im qualitativen als auch im quantitativen Teil – dort aber für „Hypothese“ – kaum elaboriert und lediglich durch Beispiele veranschaulicht (z.B. S. 54 oder S. 101 f.). Betont wird besonders im qualitativen Teil I, dass die Fragestellungen in aktuellen Theoriediskursen und empirischen Befunden entwickelt werden müssen (S. 34) – und damit weniger aus den Bedarfen der Schulpraxis – was eine Folge der Selbstverpflichtung der Autorinnen auf das Ziel generalisierbarer Befunde zu sein scheint.

Die Ermöglichung der Nutzung oder auch lediglich Rückmeldung von Forschungsergebnissen durch bzw. an das Praxisfeld Schule wird lediglich als Option angesprochen. Im kurzen Unterkapitel 10.4 (offenbar als Verlegenheitslösung das Statistik-Kapitel abschließend) steht Dissemination von Ergebnissen in wissenschaftlichen Zeitschriften klar im Vordergrund, gegenüber einer direkteren Nutzung für Schule und Unterricht.

Angesichts einer – auch von der Autorin konstatierten – „Forschungssättigung“ im Schulfeld (S. 28; S. 37) und dort verbreiteter Inakzeptanz von empirischen Forschungsvorhaben (S. 32) sowie einer verbreiteten Infragestellung der Praxisbedeutsamkeit des Lehramtsstudiums mutet diese eher ‚szientistische‘, denn ‚pragmatistische‘ Ausrichtung des Buches gewagt an.

Lehramtsstudierenden dürfte es oft schwerfallen, einen Anschluss an ihre (künftige) standortgebundene (sic!) Berufstätigkeit herzustellen, und damit eine Bereitschaft zu entwickeln oder zu stärken, auch als Lehrpersonen Forschungsbefunde kritisch zu bewerten und zu nutzen, oder gar selbst systematisch Daten und Ergebnisse im Sinne „forschenden Lernens“ zu eigenem Unterricht zu generieren.

Highlights des Buches – gerade für Forschungsnoviz:innen – sind die knappe, gut verständliche Darstellung relevanter Interview-Methoden im Teil I und das Statistik-Kapitel des Teils II, das eine geschickte didaktische Reduktion auf das Wesentliche leistet.

Für weitere Auflagen zu wünschen wäre ein Stück Emanzipation von einem exklusiven Referenzsystem, das auf Theoriebildung, Generalisierung und Publikation in bildungswissenschaftlichen Journalen ausgerichtet ist; dies zugunsten einer mit der Schulpraxis auf Augenhöhe interagierenden Schulforschung. So könnte es wahrscheinlicher werden, dass Lehrkräfte in der Schulpraxis eine forschende Grundhaltung als Kernelement ihres professionellen Selbstverständnisses ausbilden.

Fazit

Es ist lohnenswert, ein die qualitative und die quantitative Methodologie integrierendes, spezifisch auf das Schulfeld bezogenes Buch für Lehramtsstudierende zu verfassen. Diese Fokussierung sowie die didaktische Umsetzung gelingen.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Beywl
Evaluationswissenschaftler, Seniorprofessor, Fachhochschule Nordwestschweiz, Pädagogische Hochschule, Institut Weiterbildung und Beratung. Professur für Bildungsmanagement und Schulentwicklung – wissenschaftlicher Leiter Univation– Institut für Evaluation, Köln.
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Es gibt 24 Rezensionen von Wolfgang Beywl.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Beywl. Rezension vom 19.06.2024 zu: Petra Herzmann, Johannes König: Forschungsmethoden im Lehramtsstudium. Zugänge und Perspektiven forschenden Lernens. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2023. ISBN 978-3-8252-5926-6. Reihe: UTB - 5926. Schulpädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31696.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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