Hugo Mennemann (Hrsg.): Betriebliche Soziale Arbeit - wie Theorien die Praxis stärken
Rezensiert von Prof. Dr. Edgar Baumgartner, 11.09.2024
Hugo Mennemann (Hrsg.): Betriebliche Soziale Arbeit - wie Theorien die Praxis stärken.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
167 Seiten.
ISBN 978-3-7799-7858-9.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Reihe: Betriebliche Soziale Arbeit.
Thema
Das Buch „Betriebliche Soziale Arbeit – wie Theorien die Praxis stärken“ ist ein weiterer Band in der Buchreihe zur Betrieblichen Sozialen Arbeit bei Beltz Juventa. Die Reihe soll gemäß dem Herausgeberwort zu einem Theorie-Praxis-Transfer beitragen. Dieses Ansinnen nimmt der Herausgeber Hugo Mennemann, der im Fachbereich Sozialwesen der FH Münster forscht und lehrt, mit dem vorliegenden Band auf. Konkret ist bezweckt, Sozialarbeitenden in der Praxis die Relevanz von Disziplintheorien für die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit und die Fundierung für Interventionen aufzeigen. Es sind insgesamt sechs ausgewählte Disziplintheorien, welche in diesem Buch von rund 160 Seiten vorgestellt und für ein gemeinsames Fallbeispiel nutzbar gemacht werden. Die einzelnen Beiträge stammen von Studierenden des Masterstudiengangs Soziale Arbeit an der FH Münster.
Aufbau und Inhalt
Der Herausgeberband widmet sich schwergewichtig sechs Theorien, die je in einem Kapitel von jeweils drei bis fünf Autorinnen und Autoren vorgestellt und besprochen werden. Diesem Hauptteil des Buches gehen ein Vorwort, eine Einleitung sowie die kurze Beschreibung eines fiktiven Fallbeispiels aus der Praxis der Betrieblichen Sozialen Arbeit voraus.
Im Vorwort von Martin Klein wird der Hintergrund des Buches sowie dessen Anspruch und Programm thematisiert. Das Vorhaben, die Verbindung von Theorie und Praxis mit diesem Buch beleuchten zu wollen, wird – unter anderem weil Studierendengruppen diese Verbindungen herstellen – von ihm als Wagnis bezeichnet.
In der Einleitung des Herausgebers Hugo Mennemann wird die Relevanz von Disziplintheorien für die Wahrnehmung sozialer Wirklichkeit herausgearbeitet. Sie prägen Erkennen und Handeln gleichermaßen, da sie über Fachbegriffe und deren Verknüpfung ein „Verstehensraster“ für Sozialarbeitende bilden und auch Hinweise auf professionelle Handlungsformen geben. Die Darstellung verschiedenen Theorien orientiert sich daher daran, das „hermeneutische Raster“ durch die Benennung von Fachbegriffen und deren Verknüpfung aufzuspannen, um dann bezogen auf ein Fallbeispiel den ausgeleuchteten Ausschnitt sozialer Wirklichkeit sowie mögliche Handlungsimpulse aufzuzeigen. Intendiert ist, ein Kapitel jeweils mit einer kritischen Besprechung der Theorie im Kontext anderer Theorien abzurunden. Zur Auswahl der Theorien ist einleitend wenig ausgeführt, betont werden die unterschiedlichen Schwerpunkte in Bezug auf das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft.
Das Fallbeispiel aus der Betrieblichen Sozialen Arbeit wird auf etwas mehr als einer Seite beschrieben und handelt vom Familienvater Herrn R., bei dem sich wirtschaftlicher und beruflicher Druck negativ auf die Beziehungen im Familiensystem auszuwirken beginnen. Die Stresssituation lösen schließlich auch gesundheitliche Probleme aus, worauf der Vater sich entscheidet, die Betriebliche Sozialberatung der eigenen Firma aufzusuchen.
Die erste im Buch thematisierte Theorie ist Integration und Lebensführung (Peter Sommerfeld et al), die Britta Andreas, Andreas Banaschak, Anna-Lena Effkemann, Torsten Mößner und Claudia Schierloh vorstellen. Die Studierenden führen die systemtheoretischen Grundlagen der Theorie ein und legen dar, dass sich der zentrale Begriff der Integration vom Luhmann’schen Verständnis unterscheidet und als gesellschaftliche Strukturierung der Lebensführung referenziert wird. Es ist das Zusammenspiel von strukturellen Integrationsproblemen und individueller Lebensführung, welche den Gegenstand der Sozialen Arbeit bezeichnet, und dessen Verständnis für eine Interventionsplanung zentral ist. Dies wird am Fallbeispiel in Form einer Systemmodellierung mit der Identifikation von Triggern, etwa neue Anforderungen im Arbeitsfeld von Herrn R., und von möglichen Ansatzpunkten für eine fallangemessene Intervention, z.B. eine berufliche Fortbildung, illustriert.
Postmoderne Sozialarbeit nach Heiko Kleve (Untertitel: Die Eigenschaftslosigkeit der Sozialen Arbeit als innovatives Potenzial – Handreichung zur Theorie) stellen Christin Garweg, Alexander Hasekamp und Verena Feller vor. Sie führen den Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Grundlage ein, wonach eine postmoderne Gesellschaft durch eine pluralistische Wirklichkeit geprägt ist und sich widersprechende Beobachtungen und Beschreibungen gleichermaßen als plausibel erscheinen („Ambivalenz“). Gemäß dem systemtheoretischen Zuschnitt des Ansatzes können in einer funktional differenzierten Gesellschaft Personen aus Funktionssystemen exkludiert sein und der Sozialen Arbeit kommt die Aufgabe der Re-Inklusion oder die Verhinderung von solchen Exklusionen zu. Im Fallbeispiel manifestiert sich ein Exklusionsdrift, der auch die Zugehörigkeit zu Systemen wie Familie (Desintegration) miterfasst. Die Einflussnahme der Sozialen Arbeit besteht in der Dekonstruktionsarbeit und der Irritation der Systeme, etwa über das Tetralemma-Modell.
Eine weitere Disziplintheorie im Buch ist das Konzept der Lebensbewältigung von Lothar Böhnisch, in welche Petra Fuchs, Francis Huffener, Daniel Manca und Jacqueline Oing einführen. Dieser in der Sozialpädagogik verankerte Zugang greift verschiedene Bestimmungen von gesellschaftlichen desintegrativen Effekten auf, welche sich in individuell-psychosozialen Belastungs- und Problemkonstellationen von Personen niederschlagen. Lebensbewältigung ist das Streben nach subjektiver Handlungsfähigkeit in kritischen Lebenssituationen unter bestimmten sozialstrukturellen Bedingungen. Die Stützung der subjektiven Handlungsfähigkeit und die Wahl der Handlungsformen Sozialer Arbeit ergibt sich aus der Analyse der psychodynamischen, der soziodynamisch-interaktiven und der gesellschaftlichen Dimension, wie punktuell am Fallbeispiel veranschaulicht wird.
Zur Reflexiven Sozialarbeit von Bernd Dewe und Hans Uwe Otto stellen Marvin Aden, Christina Dück, Sebastian Helm Marita Meissner und Patrick Unger die zentralen Begriffe wie Reflexivität und Professionalisierung vor. Ausgehend von einer Absage an eine Verwissenschaftlichung und Expertisierung der Praxis soll die Praxis für die fallbezogene Deutung von Bedarfslagen vielmehr reflexiv verschiedene Wissensformen (Alltags-, Wissenschafts- und Professionswissen) beiziehen und hierbei Adressatinnen und Adressaten der Hilfe aktiv und kooperativ involvieren. Im Fallbeispiel wird aufgrund der Drucksituation eine eigenständige Analyse der eigenen Lage durch Herrn R. nicht erfolgen können, eine professionelle Hilfe würde daher aus der Position der stellvertretenden Deutung eine Aufklärung und Entwicklung autonomer Lösungsstrategien implizieren.
Das Theoriegebäude zur Sozialpädagogik von Klaus Mollenhauer rücken Anna Battke, Marc Becker, Daniela Behrens, Annika Schaefer und Nils Sieckmann in den Mittelpunkt. Sie ordnen das Werk des Autors mit seiner Biographie und dem akademischen Werdegang in der Theoriegeschichte der Sozialpädagogik ein. Es ist die Abkehr von einer geisteswissenschaftlich ausgerichteten Sozialpädagogik und die Hinwendung hin zu einer kritischen und emanzipierenden Funktion der Sozialpädagogik, was den Autor Mollenhauer ausmacht. Die Konzeption zentraler Begriffe wie Bildung, Erziehung und Emanzipation wird am Fallbeispiel verdeutlicht. Das Beispiel ist auch die Grundlage, um die Rolle gesellschaftlicher Bedingungen und Verhältnisse für die Problemdynamik zu illustrieren und das Potenzial von Bildung und Erziehung für die Entwicklung von adäquaten Problemlösungsstrategien und die Einlösung eines emanzipatorischen Anspruchs aufzuzeigen.
Eine Beschreibung und Analyse der „Sozialarbeit von unten“ von Karam Khella haben Tobias Ganske, Daniel Grewe und Maike Heyen verfasst. Die Grundlegung im historischen Materialismus wird mit der Kritik an der etablierten bzw. institutionalisierten Sozialen Arbeit verdeutlicht. Der Sozialen Arbeit von oben stellt Khella ein Gegenprogramm gegenüber, das soziale Probleme in der kapitalistisch-gesellschaftlich verfassten Gesellschaft verortet und sich auf die Seite der Betroffenen stellt. Deren Befähigung zum Widerstand bis hin zur Veränderung von gesellschaftlichen Verhältnissen folgt zehn Schritten, bei denen sich Theorie- und Praxisphasen abwechseln. Beim Fallbeispiel dominiert entsprechend der Blick auf durch die kapitalistische Produktionsweise bedingte Problemursachen.
Diskussion
Das Buch „Betriebliche Soziale Arbeit – wie Theorien die Praxis stärken“ greift sechs ausgewählte Disziplintheorien der Sozialen Arbeit auf. Das Buch bezweckt, Sozialarbeitenden in der Praxis als Zielpublikum die Relevanz von Theorie zu veranschaulichen. Die Bedeutsamkeit von Theorien ergibt sich dadurch, dass diese über Fachbegriffe und Zusammenhänge zwischen diesen einen „Verstehensraster“ anbieten, um soziale Wirklichkeit erkennen und Hinweise auf professionell Handlungsformen identifizieren zu können. Folgerichtig werden zu jeder Disziplintheorie zentrale Begriffe und Konzepte in den Mittelpunkt gestellt und das Potenzial für die Interventionsplanung an einem identischen Fallbeispiel erläutert. Es sind diese Anlage wie auch die Qualität der einzelnen Beiträge selbst, welche den Leserinnen und Lesern erlauben, den Kern der einzelnen Disziplintheorien zu erfassen und einzuordnen. Es sind Masterstudierende in Sozialer Arbeit, die mit großer Akribie, abgestützt auf eine Vielfalt an Quellen und mit Esprit auf 24 bis 32 Seiten eine fundierte und angenehm zu lesende Beschreibung von Ansätzen liefern.
Das einleitend erwähnte „Wagnis“ hat sich gelohnt. Das Buch bietet für Sozialarbeitende eine gute Grundlage, um sich einführend oder vertieft mit einzelnen Theorien wie auch mit der Theorielandschaft in der Sozialen Arbeit auseinanderzusetzen und Anregungen zu erhalten, welche Ansatzpunkte eine bestimmte theoretische Perspektive für die praktische Arbeit nahelegen. An manchen Stellen hätte man sich mehr Nähe bzw. Auseinandersetzung zur Betrieblichen Sozialen Arbeit oder eine Reflexion über eine arbeitsfeldbezogene Theoriebildung gewünscht. Für den Vergleich der verschiedenen Ansätze hätte sich zudem ein zusätzliches zusammenfassendes Kapitel angeboten, da die Beiträge zum Teil unterschiedliche Gliederungen und Schwerpunktsetzungen, auch in Bezug auf eine kritische Einordnung der jeweiligen Theorie, vornehmen.
Fazit
Das Buch stellt insgesamt sechs ausgewählte Disziplintheorien der Sozialen Arbeit vor, welche auch für ein gemeinsames Fallbeispiel aus der Betrieblichen Sozialen Arbeit nutzbar gemacht werden. Die Darstellungen von Studierenden eines Masterstudiengangs in Sozialer Arbeit sind gut strukturiert, verständlich verfasst und ermöglichen einen fundierten Einblick in die Theorielandschaft. Das Buch ist ein gelungenes Beispiel, die Verbindung von Theorie und Praxis in einem Arbeitsfeld der Sozialen Arbeit zu beleuchten.
Rezension von
Prof. Dr. Edgar Baumgartner
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Edgar Baumgartner. Rezension vom 11.09.2024 zu:
Hugo Mennemann (Hrsg.): Betriebliche Soziale Arbeit - wie Theorien die Praxis stärken. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2024.
ISBN 978-3-7799-7858-9.
Reihe: Betriebliche Soziale Arbeit.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31698.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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