Inge Michels, Wencke Gerwig: Kinder & Gesundheit
Rezensiert von Ursula Christen, 29.12.2023

Inge Michels, Wencke Gerwig: Kinder & Gesundheit. Was Erwachsene wissen sollten. Klett-Kallmeyer (Hannover) 2023. 126 Seiten. ISBN 978-3-7727-1288-3. D: 24,95 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Das Versprechen des Titels wird eingehalten: Um „Kinder und Gesundheit“ dreht sich das ganze Buch. Der Untertitel „Was Erwachsene wissen sollten“, zeigt auf, an wen sich der Text richtet: nämlich an Erwachsene, die einen engen Umgang mit Kindern haben. Die abwechslungsreiche Gestaltung dürfte hingegen auch Kinder faszinieren; dadurch macht sich das Buch nicht nur in Privathaushalten gut, sondern auch auf den Bücherregalen von KITAs, Kinderärztinnen, Horten und Schulbibliotheken, insbesondere für jüngere Kinder.
Autorinnen
Inge Michels hat sich als Diplom-Pädagogin und freie Wissenschaftsjournalistin auf Themen wie Familie, Gesundheit und Bildung spezialisiert und ist (Mit-)Autorin mehrerer Bücher, die sich teilweise an Kinder, teilweise an Erwachsene richten und in deren Zentrum meist die Frage steht, wie ein Leben gelingen kann.
Wencke Gerwig ist Diplom-Sozialpädagogin und hat sich durch die Leitung einer Kindertagesstätte und durch Beratungen im Kindesschutz vielseitige Erfahrungen angeeignet, die sie weitergeben möchte.
Herausgekommen ist ein gemeinschaftliches Werk, das Wissen und Können beider Co-Autorinnen in interessanter Weise kombiniert.
Entstehungshintergrund
Das Verfassen des Buches fällt in die Zeit der Corona-Pandemie und des russischen Überfalls auf die Ukraine. Vermeintliche Sicherheiten sind ins Wanken geraten, die Zukunft ist ungewiss und eine ganze Kultur kommt in Bedrängnis. Nichtsdestotrotz will das Buch Mut machen: „Wir sollten uns darin üben, der heranwachsenden Generation vorzuleben, wie man abwägt; wie man sich Informationen holt und diese einordnet; wie man ausprobiert, innehält und neu entscheidet; wie man Prioritäten setzt und Freude und Glück Ausdruck verleiht.“ (Michels und Gerwig, S. 9).
Entstanden ist tatsächlich ein fröhliches und farbenfrohes Buch, das jeglicher Krise und Angst entschieden Resilienz und Selbstwirksamkeit entgegensetzt.
Aufbau und Inhalt
„Es muss bewusst werden, dass der Weg, wie Kinder aufwachsen, immer in mindestens zwei Richtungen wirkt: auf die individuelle Gesundheit und auf das Wohl des Planeten.“ (Michels und Gerwig, S. 9). Wichtiger noch als Gesundheit im engen Sinne ist daher ein umfassenderes Verständnis von Wohlbefinden (Well-being), welches auch Kinder mit Krankheiten und Beeinträchtigungen keineswegs ausschließt.
Schon die Titel der neun Kapitel zeigen, wie die beiden Autorinnen den Gesundheitsbegriff verstehen und wie wichtig ihnen die psychischen und sozialen Aspekte kindlicher Lebenswelten sind:
- Salutogenese oder: Was hält Kinder und Erwachsene gesund?
- „Ich träume davon…“ – gesund leben
- Kindliche Psyche und Gesundheit
- Kinderschutz
- Emotionale Intelligenz: Gefühle akzeptieren
- Kinderrechte und Partizipation
- Gesunde Schulen: Orte des Wohlbefindens und der Gesundheit
- Adultismus oder: Wenn Erwachsene die Grenzen der Kinder überschreiten
- Gesundheitsmanagement und Hygiene
Michels und Gerwig stützen sich auf Aaron Antonovskys Konzept der Salutogenese, wenn sie die Selbstwirksamkeit als wichtigsten Faktor für Gesundheit ausmachen: „Ein Kind mit einer hohen Selbstwirksamkeit ist im Grunde seines Herzens stets zuversichtlich.“ (ebd. S. 19). „Das Konzept der Selbstwirksamkeit gilt von Geburt an als Motor von Entwicklung.“ (ebd. S. 92). Und: „Wenn Kinder die Erfahrung machen dürfen, Gefühle zu zeigen, sich verletzlich zu machen, sich abgrenzen zu können, Konflikte auszuhalten und zu lösen, so werden sie zu starken Persönlichkeiten, die sich selbst ebenso wie anderen Menschen vertrauen können und sich wohlfühlen. Sie werden resilient.“ (ebd. S. 89).
Diese Sichtweise zieht sich durch das ganze Buch und wird mit zahlreichen seriösen und aktuellen Studien, sowie eigenen Praxisbeispielen untermauert. So wird etwa beim Thema Ernährung betont, dass für gesunde Mahlzeiten nicht nur wichtig ist, was auf den Teller kommt, sondern auch in welcher Atmosphäre gegessen wird und dass die Kinder ein Recht auf Auswahl von Speisen haben. Partizipation soll nicht nur in Bezug auf Essen und Freizeitgestaltung erfolgen, sondern auch beim Aushandeln von Regeln, beim Philosophieren und beim Überwinden institutioneller Grenzen (z.B. baulicher Vorgaben). Denn: „Kinder brauchen in ihrer Entwicklung eine Lernkultur, die zulässt, dass sie sich entfalten und ausprobieren können.“ (ebd. S. 87). Ein demokratischer Erziehungsstil mit liebevollen, geduldigen Erwachsenen ist unerlässlich, damit Kinder die in ihnen angelegten Fähigkeiten in ihrem Tempo und auf ihre Weise entwickeln können. Letztlich ist Adultismus (das Gestalten der Welt aus rein erwachsener Perspektive und das Abwerten der kindlichen Erlebnisweisen) nichts anderes als eine Form der Diskriminierung.
Dieser konsequent hoffnungsvolle Blick auf die Welt wird nicht nur mit dem Text, sondern insbesondere auch durch viele bunte Illustrationen verfolgt: Eindrückliche Farbfotos aus privaten Familienalben zeigen kleine Menschen beim Entdecken und Erobern ihrer Welt, beim freien Spiel, beim Tanzen, Musizieren, Kochen und Essen…
Fünf Kinderlieder von Reinhard Horn („Der Obstsalat bin ich.“, ebd. S. 30), sowie Kinderzeichnungen, Teddybären und der Froschkönig höchstpersönlich finden in diesem Buch ebenso Platz, wie ein Rezept für gesunde Snacks und warmes Frühstück aus der traditionellen chinesischen Medizin oder Anleitungen zur Meditation. Immer wieder sind dazwischen Fragen zum Innehalten und persönlichen Reflektieren eingestreut, z.B.: „Wie lange möchte ich aushalten, dass es mir nicht gut geht?“ (ebd. S. 7) oder: „Wie zeigen wir, dass wir die Kompetenzen und Stärken von Kindern und Kollegen und Kolleginnen wahrnehmen?“ (ebd. S. 61).
Wer das Buch kauft, erwirbt zusätzlich die Erlaubnis, beim Friedrich-Verlag die im Buch vorgestellten Übungen und Anregungen online herunterzuladen.
Diskussion
Das Buch verarbeitet etliche aktuelle, wissenschaftliche Studien mit seriöser Quellenangabe und fachlicher Diskussion. Auch besonders drängende Themen, wie die Auswirkungen der Corona-Pandemie oder mit Kindern über Krieg zu sprechen, werden aufgenommen. Dennoch kann auf den gut hundert Seiten vieles nur kurz angesprochen und nicht wirklich zu Ende gedacht werden.
Zum Beispiel werden die Lesenden mehrfach mit der Erkenntnis konfrontiert, dass Gesundheit (inkl. Bewegung, Ernährung und psychisches Wohlbefinden) stark mit Schicht und finanziellen Möglichkeiten korreliert. Vermutlich gehören Eltern, die dieses Buch in die Hand nehmen, bereits zu den 63,2 %, die nach Möglichkeit Produkte aus biologischem Anbau kaufen oder zu jenen, die für ihre Kinder Schulen mit einem förderlichen Lernklima suchen – aber wie findet das Buch seinen Weg zu Eltern, denen „Selbstwirksamkeit“ ein unzugängliches Konzept ist und die nichts von demokratischer Erziehung halten? Wie können Kinder allenfalls dabei unterstützt werden, sich in sehr unterschiedlichen und manchmal widersprüchlichen Lebenswelten in ihrem Elternhaus und in Räumen der öffentlichen Erziehung zurechtzufinden?
Sind die gut gemeinten Aussagen zu Menschen mit Behinderung: „Sie fühlen sich aufgrund ihres Handicaps nicht krank.“ und „Ein Mensch mit einer Behinderung fühlt sich nicht krank, es sei denn, er hat gerade eine Grippe oder ein anderes Leiden, welches behandelt und geheilt werden kann.“ (S. 17), nicht vielleicht in ihrer Kürze und Absolutheit zu dogmatisch, wenn man bedenkt, dass die allermeisten Behinderungen heutzutage als Folge von Krankheiten entstehen?
Andere Themen hingegen, die Eltern in Bezug auf die Gesundheit ihrer Kinder auch beschäftigen können, wie etwa Gefühle und Ausdrucksweisen kindlicher Sexualität, Fragen von Impfungen bei Kleinkindern oder die Sorgen im Hinblick auf den Klimawandel haben keinen oder zu wenig Platz gefunden.
Diese Beispiele zeigen, dass das Buch durchaus zum Weiterdenken anregt und viele unterschiedliche Themen rund um Gesundheit berührt. Es bietet eine Fülle an Ideen und praxistauglichen Materialien, ohne aber allzu sehr in die Tiefe zu führen und ohne vollständig abdecken zu können, was es zu Kindern und Gesundheit zu sagen gibt.
Fazit
Das liebevoll gestaltete Buch wendet sich mit seinem Text und seinen Verweisen auf wissenschaftliche Studien klar an erwachsene Leserinnen und Leser. Mit der vielfältigen kunterbunten Illustration können jedoch auch Kinder oder die inneren Kinder der Lesenden angesprochen werden. So ist das Buch sicherlich bestens geeignet, seinen eigenen Anspruch zu erfüllen: Mit Kindern über Fragen der Gesundheit und des Wohlbefindens in einen fairen und förderlichen Austausch zu kommen.
Rezension von
Ursula Christen
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