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Christoph Schneider: Der Kalmenhof

Rezensiert von Gertrude Henn, 16.01.2025

Cover Christoph Schneider: Der Kalmenhof ISBN 978-3-506-79169-6

Christoph Schneider: Der Kalmenhof. NS-"Euthanasie" und ihre Nachgeschichte. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2024. 340 Seiten. ISBN 978-3-506-79169-6. D: 56,00 EUR, A: 57,60 EUR.
Schriftenreihe der Gedenkstätte Hadamar - 2.

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Thema

Die vorliegende Monografie untersucht die NS-„Euthanasie“ in der „Heilerziehungsanstalt Kalmenhof“. Sie umfasst die Tatgeschichte (während der NS-Zeit) und die Nachgeschichte (Strafverfolgung der Täter, Aufarbeitung der Geschehnisse).

Autor

Christoph Schneider ist Kulturwissenschaftler und freier Autor. Er forscht und publiziert zur NS-„Euthanasie“ und zur NS-Vernichtungspolitik. Christoph Schneider lebt in Frankfurt.

Entstehungshintergrund

Das Buch ist Teil einer Publikationsreihe der Gedenkstätte Hadamar, die sich Perspektiven und Fragestellungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Krankenmorden widmet. Im Jahr 2017 wurde ein Forschungsauftrag zum Kalmenhof im Nationalsozialismus vergeben. Im Rahmen der Forschungen zeigte sich, „dass die Geschichte dieser Idsteiner Einrichtung eine in weiten Teilen unerzählte ist und einige Ungereimtheiten aufweist“ (S. IX, Einleitung). Das Anliegen des Autors ist es, historische Vorgänge zu rekonstruieren, getilgten Spuren nachzuforschen und, soweit möglich, die Geschichte der Opfer zu erzählen.

Aufbau

Das vorliegende Buch umfasst 310 Seiten. Es gliedert sich in eine knapp 40-seitige Einleitung, die hilfreich für Verständnis und Orientierung im Buch ist.

Ihr schließen sich 12 Kapitel an. Sie lauten im Einzelnen:

  1. Beginn der „Euthanasie“ im Kalmenhof: Oktober 1939
  2. Das Jahr 1941 im Kalmenhof
  3. „Reichsausschussverfahren“ und die Einrichtung der „Kinderfachabteilung“
  4. Die Entwicklung 1943: Transporte aus Scheuern, Goddelau und Hamburg
  5. Die ersten Monate 1944 und die Abgabeanstalt Bonn
  6. Fazit: Die nationalsozialistische „Kindereuthanasie“ im Spiegel des Kalmenhofs
  7. Topografie eines Tatorts
  8. Zöglingsgräber auf drei Idsteiner Friedhöfen: das unbequeme Erbe
  9. Strafverfolgung
  10. Die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte
  11. Die Entwicklung zur „Gedenkstätte“ in den 1980er Jahren
  12. Schluss

Den Abschluss bilden u.a. ein ausführliches Literaturverzeichnis, ein Verzeichnis der genutzten Archive und Quellen sowie ein Personenregister mit den entsprechenden Fundstellen im Text. Letzteres differenziert nicht zwischen Opfern, Tätern und sonstigen Beteiligten.

Inhalt

In der Einleitung werden zunächst Fragestellungen des Forschungsauftrags skizziert.

Es folgt ein geschichtlicher Abriss der 1888 als Heim für Kinder mit geistiger Behinderung gegründeten Einrichtung, die sich zunächst einer fortschrittlichen Pädagogik verschrieben hatte. 1923 wurde sie zu einer Heilerziehungsanstalt, die Zuweisungen von kommunalen Jugend- und Fürsorgeämtern erhielt.

Im Anschluss wird die NS-„Euthanasie“ als Vernichtungspolitik beschrieben und wie ab 1939 Vernichtungspolitik und Fürsorgeerziehung gleichzeitig im Kalmenhof verortet waren. Hierzu wird geschildert, wie die Einrichtung als Selektionsinstanz fungierte.

In der Einleitung sind ebenso Angaben zu Quellenlage und Forschungsstand verortet. Hier werden drei Phasen differenziert, die die „Vorgänge im Kalmenhof zu erhellen versuchten“ (S. XXVI).

In der ersten Phase handelt es sich um die strafrechtlichen Ermittlungen und Verfahren nach Kriegsende, dokumentiert in umfangreichen Verfahrensakten.

In der zweiten Phase, den 1980er Jahren, begann die Aufarbeitung der NS-Geschichte des Kalmenhofs. Ein Idsteiner Pfarrer, der mit einer Jugendgruppe eine Studienfahrt nach Auschwitz gemacht hatte, gab hierzu den Impuls. Er mündete in erste wissenschaftliche Literatur, darunter die Standardwerke von Sick (1983) oder Schrapper und Sengling (1988), weiterhin die Auswertungen der Sterberegister des Standesamts Idstein.

In der dritten Phase – die Zeit des Forschungsauftrags ab 2017 - konnte auf weitere Quellen zurückgegriffen werden, u.a. Bestände von Patientenakten von Opfern der Aktion T4, Studien zu Kinderfachabteilungen, Fallakten überlebender Kalmenhofzöglinge sowie weitere Funde in den zugehörigen Archiven des LWV in Kassel und am Kalmenhof selbst. Gut erforscht waren inzwischen auch die Strukturen des Bezirksverbands Hessen-Nassau als damaligem Einrichtungsträger.

Als „struktursprengende Merkmale“ bezeichnet Schneider den nun folgenden Abschnitt der Einleitung. Was machte den Kalmenhof und die Aufarbeitung so anders? Hier benennt er zunächst die Gruppe der Opfer: Kinder von politisch Verfolgten, rebellische Jugendliche, geistig oder lernbehinderte Kinder, Kinder mit Missbildungen, müde gearbeitete Menschen, die nicht mehr nützlich eingesetzt werden konnten oder sehr alte Menschen.

Struktursprengend ist für ihn das zunehmend eigeninitiative Töten und der Verlust von Hemmungen, „schließlich auch arbeitsfähige Kinder, Jugendliche und Erwachsene umzubringen, die sich den Zumutungen entzogen hatten“ (S. XXVII) oder langjährige Zöglinge, die zu viel Einblick gewinnen konnten, dadurch gefährliche Mitwisser wurden.

Bemerkenswert erscheinen ihm – neben den allseits üblichen milden Urteilen der Strafverfolgungsbehörden – die „massiven Solidaritätsbekundungen von Idsteiner BürgerInnen für zwei der Angeklagten“ (S. XXXIII) oder die Versuche der Beseitigung und Umnutzung des Kalmenhof-Friedhofs.

2016 schließlich wird durch den Einrichtungsträger das leer stehende Gebäude des ehemaligen Kalmenhof-Krankenhauses – Ort der Tötungen – als „letzter Rohdiamant in Idstein“ (vgl. S. 268) zum Verkauf angeboten.

Letztlich führte dieser „Zwischenfall“ zu einer Gegenwehr historisch Interessierter. Eine Kalmenhof-Kommission wurde eingesetzt, die eine wissenschaftliche Untersuchung forderte. Sie mündete in den o. g. Forschungsauftrag, dessen Ergebnisse in die nun vorgelegte Monografie einflossen.

Beginn der „Euthanasie“ im Kalmenhof: Oktober 1939

Das erste Kapitel schildert den Beginn der Euthanasie im Kalmenhof im Oktober 1939. Teile der Einrichtung werden als Lazarett benötigt. Die Zahl der Sterbefälle steigt mit Kriegsbeginn deutlich an. Eine Erklärung hierzu lautet gemäß Schneider, dass bereits vor „einer administrativen Einbindung in eine größere organisatorische Struktur“ (S. XXXIV) im Kalmenhof getötet wurde.

Das Jahr 1941 im Kalmenhof

Im zweiten Kapitel werden die Vorgänge des Jahres 1941 eingehend beleuchtet. Zwischen Januar 1940 und August 1941 findet die Aktion T4 statt. Über 70000 Menschen werden in sechs reichsweiten Tötungsanstalten durch Gas ermordet. Zuvor werden sie auf Abruf in sogenannte Zwischenanstalten verlegt. Der Kalmenhof wird zur Zwischenanstalt für die Tötungsanstalt Hadamar.

Als Erstes werden nun vorgesehene StammpatientInnen nach Hadamar transportiert um Platz zu schaffen. Tötungen scheinen dabei ebenso weiterhin direkt im Kalmenhof stattzufinden. Ermordet werden Erwachsene, Kinder und Jugendliche.

Das Reservelazarett belegt 1300 Betten. Die Belegung mit Zöglingen sinkt. Die zurückgebliebenen Zöglinge müssen für das Lazarett arbeiten, die schulpflichtigen Zöglinge sind zu Erntearbeiten eingesetzt.

„Reichsausschussverfahren“ und die Einrichtung der „Kinderfachabteilung“

Im dritten Kapitel erläutert der Autor Aufbau und Organisation von „Reichsausschussverfahren“ und Kinderfachabteilungen. Kinder mit schweren angeborenen Leiden wurden erfasst und selektiert. In sogenannten Kinderfachabteilungen – von denen 31 heute bekannt sind – werden sie beobachtet und getötet. Das Alter der Kinder wird schrittweise erhöht, betrifft schließlich auch Jugendliche.

Wahrscheinlich Ende 1941 wird im Kalmenhof eine Kinderfachabteilung eingerichtet. Hierfür wird die dritte Etage des Krankenhauses genutzt. Sie besteht aus zwei Zimmern mit jeweils 3–5 Betten (vgl. S. 45).

Die Entwicklung 1943: Transporte aus Scheuern, Goddelau und Hamburg

Im vierten Kapitel werden die Entwicklungen des Jahres 1943 untersucht. Größere Transporte von Kindern kamen in diesem Jahr aus den Abgabeanstalten Scheuern, Goddelau (Philippshospital) und Hamburg (Alsterdorfer Anstalten). Schneider legt die Selektions- und Verlegungspraxis in den genannten Anstalten dar.

Für den Kalmenhof wurde das Krankenhaus zur Anlaufstelle der Transporte. Er beschreibt die Abläufe vom Eintreffen der Kinder bis zu ihrer Tötung: „Die Abläufe nach dem Eintreffen folgten der Arbeitsökonomie, nicht jedoch den Regularien des Reichsausschussverfahrens“(S. 59). Er versucht die Frage zu klären, von wem die Kinder selektiert wurden und ob überhaupt ein Verfahren stattgefunden hatte.

Ein „Einblick in die Arbeitsabläufe Krankenhaus“ ließ sich von ihm anhand der „Störung der Abläufe“ (vgl. S. 59) untersuchen. Als die Ärztin Weber und die Schwester Maria Müller krankheitsbedingt für mehrere Monate arbeitsunfähig außer Haus sind, stoppen die Tötungen vorübergehend. Von ihren Vertretungen wird das eingespielte Tötungs-Duo nicht in jeder Hinsicht ersetzt.

Die ersten Monate 1944 und die Abgabeanstalt Bonn

Kapitel fünf blickt auf die ersten Monate des Jahres 1944 und die nun vornehmlich aus der Rheinischen Landesklinik Bonn kommenden Transporte. Schneider erläutert die Zusammenhänge zwischen der o. g. Klinik und der Kinderfachabteilung Waldniel.

Deren Arzt Wesse wird im Mai 1944 neuer leitender Tötungsarzt im Kalmenhof. „Er war trotz seiner jungen Jahre – geboren 1912 - ein erfahrener Mann auf dem Gebiet der NS-„Euthanasie“ (S. 91). Er setzt sich dafür ein, dass seine eingespielte Pflegerin Wrona ebenfalls auf den Kalmenhof kommt.

Wesse „durchkämmte die Anstalt“ (S. 95). Er begann, alle Zöglinge zu begutachten. Die gesamte Einrichtung wird letztlich zur Kinderfachabteilung.

Die vorgesehenen Opfer müssen sich im Krankenhaus einfinden. Zur Ermordung werden sie nicht mehr in bestimmte Räume verlegt.

Gegen Ende werden die Opfer älter. Es werden auch unliebsame ZeugInnen getötet. Gut dokumentiert und eingehend geschildert ist die Ermordung der Hausgehilfin Margarethe Schmidt. Prügel- und Haftstrafen sowie Drohungen, welches Schicksal sie bei Nichtgehorsam erwarte, und letztlich bei einigen die Ermordung selbst, werden gegenüber rebellischen Jugendlichen umgesetzt.

Fazit: Die nationalsozialistische „Kindereuthanasie“ im Spiegel des Kalmenhofs

In Kapitel sechs resümiert der Autor die Kindereuthanasie im Spiegel des Kalmenhofs. Er legt dar, wie sich die Auswahl der zu tötenden Kinder in mehreren Kinderfachabteilungen immer weiter vom „individuellen gutachtergestützten Modus“ (S. 117) entfernt; der überwiegende Teil der Kinder aus Heimen oder kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen auf den Kalmenhof verlegt wird.

Die ÄrztInnen und PflegerInnen „adaptierten die Selektionskriterien und handelten im Geist der KdF“ (S. 121). Sie verstehen die „Einrichtung einer ‚Kinderfachabteilung‘ als Autorisierung“ und nutzen ihren Gestaltungsspielraum – d.h. treffen eigenmächtige Entscheidungen. Schneider konstatiert: „Die nationalsozialistische Kindereuthanasie ist in dieser Perspektive ein Geschehen, das in eine Richtung Züge der „Aktion T4“ aufweist … in die andere Richtung folgt das Geschehen Logiken der dezentralen „Euthanasie“ (S. 119).

Für den Kalmenhof hält er als Spezifikum fest, die Kinderfachabteilung habe sich „gewissermaßen die gesamte Einrichtung einverleibt“ (S. 122). Ab Mitte 1944 war jede und jeder, der dort aufgenommen war von Ermordung bedroht.

Auch von Geheimhaltung konnte im Kalmenhof seiner Schlussfolgerung nach keine Rede sein. Er benennt die Lage der Einrichtung mitten in der Stadt, Transporte, die am Bahnhof ankommen, dabei Aufsehen erregen, die Unzahl an Bestattungen, Sargtransporte durch die Stadt, der wachsende Anstaltsfriedhof, die Zöglinge, die auf Feldern oder örtlichen Betrieben arbeiten mussten.

„Die Idsteiner Bürgerinnen und Bürger konnten den Zustand der Kinder und Jugendlichen wahrnehmen“ (S. 124), sodass sie „durch die enorme Sichtbarkeit des Lebens und Sterbens … in hohem Maß involviert und zu Mitwissern der Vernichtungspolitik“ (S. 125) wurden.

Topografie eines Tatorts

Im siebten Kapitel untersucht Schneider die räumlichen Gegebenheiten.

Er nennt Zahlen zu Belegung, Arbeitseinsatzorten und Anzahl, der jeweils beschäftigten Zöglinge.

Er betrachtet das Krankenhausgebäude mit seinen Räumlichkeiten: das Erdgeschoss mit Untersuchungs- und Behandlungsräumen, das Lazarett-Stockwerk, die beiden oberen Stockwerke, die dem Krankenhausbetrieb dienen. Getötet wurde nicht nur im dritten Stock, so das Ergebnis der Auswertungen, die Taten verteilen sich auf mehrere Räume. Unweit des Krankenhauses befindet sich die Leichenhalle. Der Autor beschränkt sich nicht nur auf die räumlichen Gegebenheiten. Durch das Einbinden von Vorkommnissen, Zeugenaussagen, Erlebnissen oder Beschreibungen von Einzelschicksalen vermittelt er einen lebendigen Eindruck der grausamen Geschehnisse.

Zöglingsgräber auf drei Idsteiner Friedhöfen: das unbequeme Erbe

Den drei Idsteiner Friedhöfen und den Zöglingsgräbern – als Bestandteil der Topografie – ist ein eigenständiges Kapitel gewidmet. Schneider bezeichnet sie als „das unbequeme Erbe“. Die Friedhöfe hinterließen sichtbare Spuren. Noch nach Kriegsende wurden auf dem anstaltseigenen Friedhof Zöglinge bestattet. Die Gräber „wurden in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht geschützt und bewahrt“ (S. 170) – ein Umstand, der für den Autor eine „sich an diesem Ort manifestierende Missachtung der Zöglinge über den Tod hinaus“ darstellt (S. 170).

Neben den örtlichen Verhältnissen finden sich in diesem Kapitel eindrückliche Schilderungen der ebenso grausamen wie trostlosen Bestattungspraxis im Umgang mit den toten Zöglingen und deren Angehörigen. Insgesamt kommt Schneider auf 721 nachgewiesene ermordete Opfer, hält es aber für möglich, dass es weitere Opfer gegeben hat.

Strafverfolgung

Im neunten Kapitel werden die strafrechtliche Verfolgung und Ahndung durchleuchtet. Die LeserInnen erhalten einen Überblick über die vier Verfahren, die zwischen 1946 und 1948 durchgeführt wurden (Eichbergprozess, Kalmenhofprozess, Hadamarprozess und Schwesternprozess). Zunächst hohe Strafen werden in mildere Strafen umgewandelt. Die Entwicklung der Rechtsprechung vollzieht eine Wende. Aus Mord wird Totschlag, aus Täterschaft Beihilfe. Es werden Rechtfertigungs- und Strafausschließungsgründe zugebilligt, allen voran der Verbotsirrtum: Die Angeklagten konnten zur Tatzeit nicht übersehen, dass ihre Handlung unrechtmäßig war oder hatten sich subjektiv getäuscht – selbst wenn objektiv eine Tat unrechtmäßig war.

Für den Kalmenhofprozess wird ausführlich über die Vernehmungen und Ermittlungen sowie die Hauptverhandlung von 1947 berichtet.

Ein eigener Abschnitt ist der Kampagne von BürgerInnen aus Idstein und umliegenden Gemeinden gewidmet, die sich engagiert für die Tötungsärztin Weber einsetzen. Es folgen die Vorstellung des Revisionsurteils von 1948 und die Neuverhandlungen sowie weitere. Wie weit die TäterInnen ihre Strafe verbüßen mussten oder Gnadengesuche einreichten, wird abschließend berichtet.

Die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte

In diesem Kapitel wird ausführlich untersucht, wie die ersten drei Nachkriegsjahrzehnte geprägt sind vom widersprüchlichen Umgang mit Gedenken und Aufarbeitung der Geschehnisse. Sie sind gekennzeichnet von Nicht-hinschauen, Verdrängen, Vergessen und gipfeln im Jahr 1978 in folgender Feststellung: „ … die Frage, ob im Kalmenhof Menschen umgebracht wurden, kann mit einem klaren Nein beantwortet werden“ (S. 223, Festrede zum 90-jährigen Bestehen des Kalmenhofs).

Schneider schildert, wie die Gräber der getöteten Kinder und Jugendlichen von Bauten und Umbauten bedrängt werden, so nach und nach verschwinden. Der Friedhof wird nicht in seiner Gesamtlage identifiziert oder geschützt. Kinder finden beim Spielen hinter dem ehemaligen Krankenhausareal immer wieder Knochen.

Ein weiterer Abschnitt ist Apollonia (Loni) Franz gewidmet. Sie war Hausleiterin im sogenannten Altenheim, in dem Mädchen- und Bubenhaus untergebracht waren. Sie war bis zu ihrem Ruhestand 1967 weiter im Kalmenhof beschäftigt. Ihre Rolle im Zusammenhang mit den Ermordungen wurde im Sommer 1968 noch einmal untersucht. Das Ergebnis bleibt widersprüchlich. So habe sie „im Stillen alles getan … um unseren Kindern zu helfen“ (S. 217). Trotzdem war sie ein „funktionierender Bestandteil der gewöhnlichen Tötungsabläufe“ (S. 217). Unverständlich, dass ihr zu Ehren ein Gebäude im Kalmenhof und eine Straße in Idstein benannt wurden.

Erst 1979 kommt dann endlich die Notwendigkeit der Aufarbeitung über den Umweg der bereits erwähnten Studienreise in Gang. Hier macht der polnische Guide der Gedenkstätte Auschwitz auf das Geschehen in Idstein aufmerksam. Gleichzeitig gerät es in die Erinnerung über die Filmdokumentation „Holocaust“.

Die Entwicklung zur „Gedenkstätte“ in den 1980er Jahren

Der Autor stellt im 11. Kapitel die Entwicklung zur Gedenkstätte mit all ihren Schwierigkeiten, Besonderheiten und Verzögerungen vor. 1987 kann sie letztendlich eingeweiht werden. Ein Jahr später feiert der Kalmenhof sein 100-jähriges Bestehen.

Schluss

In seinen Schlussbetrachtungen im 12. Kapitel wird geklärt, warum der Kalmenhof ein kaum bekannter NS-Tatort wurde, sich dort jedoch gleichzeitig gut studieren lässt, wie NS-„Euthanasie“ funktionierte.

Die zeitlichen Abläufe und Geschehnisse werden noch einmal zusammenfassend erörtert. Noch immer waren Friedhof und ehemaliges Krankenhaus nicht endgültig als Gedenkorte gesichert.

2016 soll dann, wie eingangs bereits erwähnt, das Krankenhausgebäude verkauft werden. Heftige Kontroversen führen zu einer Kommission und zum Forschungsauftrag.

2020 endlich wird das Krankenhaus mit Gräberfeld und Liegehalle als Sachgesamtheit unter Denkmalschutz gestellt.

Diskussion

In seiner Monografie zum Kalmenhof lässt Schneider Opfer, Täter und Zeugen zu Wort kommen. Er flicht Einzelschicksale, Zeugenaussagen und Beschreibungen ein, die die Geschehnisse sehr anschaulich machen, aber auch die ganze Grausamkeit oder Perversion des Denkens verdeutlichen.

Er gibt einen umfassenden Überblick über die Chronologie der Ereignisse und die Entwicklung des Kalmenhofs von der Gründung, der Entwicklung zu einem Tatort, den Brüchen in der Aufarbeitung, dem fehlenden lokalen Bewusstsein bis zur Jetztzeit mit dem Gedenkort Kalmenhof. Er unterlegt seine Beschreibungen mit Zahlen, Daten und reichlichen Quellenangaben. Diese Quellenangaben sowie Verweise und Fußnoten lassen sich gut für weitere Recherchen nutzen.

So ist das vorliegende Buch gleichermaßen lebendig wie wissenschaftlich geschrieben. Das Engagement des Autors und sein Interesse für die Opfer sind spürbar.

Für alle, die sich mit der regionalen Euthanasiegeschichte beschäftigen gehört das Buch auf die Leseliste. Nicht regional begrenzt ist die Herkunft der Opfer, sodass es grundsätzlich bedeutsam für die Forschungslandschaft ist.

Für die privaten LeserInnen, die sich mit ihrer Familiengeschichte beschäftigen, bietet es überdies Anhaltspunkte für die eigene Recherche.

Fazit

Christoph Schneiders Monografie war notwendig und stellt eine wichtige Ergänzung zu bisherigen Veröffentlichungen zum Kalmenhof wie auch zur Kindereuthanasie dar. Sie ermöglicht einen umfassenden Einblick in die Chronologie der Ereignisse, den Tatort Kalmenhof und die Widersprüchlichkeiten in der Aufarbeitung im Spiegel der Jahrzehnte. Sie umfasst die gesamte zum heutigen Zeitpunkt verfügbare Quellenlage und den aktuellen Forschungsstand.

Rezension von
Gertrude Henn
Diplom-Sozialpädagogin, Entspannungs- & Stressmanagement-Trainerin
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Es gibt 12 Rezensionen von Gertrude Henn.

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ISSN 2190-9245