Martha Richards, Francesca Cogni: Victoria
Rezensiert von Prof. Dr. Matilde Heredia, 09.04.2024
Martha Richards, Francesca Cogni: Victoria. Ankommen und überleben in Deutschland. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 104 Seiten. ISBN 978-3-8497-0371-4. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Dieses Buch, das als Graphic Novel gestaltet ist, erzählt die Geschichte von Victoria und ihrer Ankunft in Deutschland. In der Erzählung werden unterschiedliche Perspektiven rund um die Themen Flucht, Traumata, die Behandlung/​Begleitung von Traumata sowie der Weg und die Erfahrungen, die Betroffene vor und nach der Ankunft in Deutschland machen, erfasst. Die Autorin Martha Richards hat gemeinsam mit der Illustratorin Francesca Cogni Victorias Biografie erzählt und im Comicformat dargestellt: Victoria ist jung, schwanger und hat auf ihrem Fluchtweg durch Libyen und Italien traumatische Erfahrungen gemacht. Gemeinsam mit vielen anderen Frauen hat sie unmenschliche und brutale Geschehnisse erlebt, welche in Form von eindrucksvollen Zeichnungen erzählt und visualisiert werden.
Am Beginn des Buches steht Victorias erste Begegnung mit der Psychologin Martha. Victoria denkt dabei über alles nach, was ihr passiert ist. Über einige Erfahrungen möchte sie zugleich nicht sprechen. Martha zeigt volles Verständnis und unterstützt Victoria dabei, durch traumatherapeutische Maßnahmen resilienter zu werden.
Autor:innen
Martha Richards ist Psychotherapeutin und arbeitet mit geflüchteten und traumatisierten Frauen.
Francesca Cogni, die Illustratorin,ist darüber hinaus Filmemacherin sowie Künstlerin und begleitet künstlerische, soziale und pädagogische Projekte in kulturellen Organisationen, Schulen und Universitäten.
Aufbau
Das Buch „Victoria – ankommen und überleben in Deutschland“ ist entlang von Victorias Biografie aufgebaut. Victoria ist eine junge Frau, die auf der Flucht von Afrika nach Europa sexualisierte Gewalt sowie andere unmenschliche traumatische Erfahrungen erlebt hat und in der Folge schwanger wurde. Die Kapitel des Buches sind nicht nummeriert, sondern chronologisch an der Erzählung von Victoria orientiert. Das Comicformat des Buches ermöglicht die visuelle Darstellung der Themen, Gefühle sowie der Beratungssituationen, die Victoria und Martha erleben. Abschließend werden mit einem Nachwort, Nachbemerkungen und mehrsprachigen Informationen für Personen mit Fluchterfahrung nützliche Hinweise und Informationen vermittelt.
Inhalt
Das Buch ist nach den Themen bzw. Erfahrungen strukturiert, die von Victoria während ihrer Beratungen mit Martha behandelt werden. Dies beinhaltet auch die Interventionen, die Martha Victoria während der Beratungen empfiehlt, um mit den Situationen und Erfahrungen während und nach der Flucht optimal umzugehen. Inhaltlich ist das Buch wie folgt aufgebaut:
- Ein sicherer Ort: Victoria besucht zum ersten Mal Marthas Beratungsstunde und beginnt dort, von ihrer Situation zu erzählen. Martha schlägt ihr daraufhin vor, die Interventionsmethoden „Abstand zu schlimmen Erinnerungen“, „Ein sicherer Ort“ und „Es-geht-bald-besser Schachtel“ auszuprobieren.
- Zurückfinden in den eigenen Körper: Victoria berichtet von schwerer körperlicher Misshandlung, die sie in Libyen und Italien erlitten hat, was sie bis heute belastet. Martha übt mit ihr daraufhin die Interventionsmethoden „In den eigenen Körper zurückfinden“, „Nur die Liebe zählt“ und „Reise zum Mond“. Außerdem gibt sie Victoria Tipps für eine bessere Schlafhygiene und gegen Depressionen.
- Die Freundin: Martha telefoniert mit einer Freundin und berichtet dieser dabei von den Gefühlen und Erfahrungen, die sie bei ihrer Tätigkeit als Beraterin von Frauen, die Traumatisches erlebt haben, gesammelt hat.
- Das Leben geht weiter: In diesem Abschnitt erzählt Victoria Martha von der Geburt ihres Kindes Goodness. Victoria berichtet dabei auch von ihrer eigenen Geburt, ihrer Herkunftsfamilie, ihrer Zwangsehe und den dabei erlebten Gewalterfahrungen. Beschneidungen und die Folgen, die Frauen davontragen und die bis zum Tod führen können, werden ebenfalls thematisiert. Die Narben und Überlebensstrategien werden in diesem Kapitel durch Zeichnungen hervorgehoben. Ebenso werden Victorias Beweggründe für die Flucht aus ihrer Heimat nachvollziehbar dargestellt, obwohl sie dabei ihre Tochter Happiness zurücklassen musste. Martha schlägt vor, an einer Zukunftsvision zu arbeiten, um dem Schwur oder dem Fluch, den Victoria empfindet, die Macht zu nehmen. Posttraumatische Belastungsstörungen werden beschrieben und der PROTECT-Test zur Früherkennung von Asylsuchenden mit traumatischen Erlebnissen wird erklärt sowie bei Victoria angewendet.
- Löwinnen sind mutig: Victoria erfährt von der Ablehnung ihres Asylantrags in Deutschland sowie von Wut, Ohnmacht und Verzweiflung beispielsweise bezogen auf das Arbeitsverbot. Als therapeutische Unterstützung erzählt Martha das afrikanische Märchen, die Löwinnen-Geschichte. Gegen die Panik, die Victoria spürt, wird ihr die Übung „Trauma Tapping Technique“ gezeigt.
- Beim Anwalt: In diesem Abschnitt besucht Victoria ihren Anwalt und informiert sich über ihre rechtliche Situation sowie die Möglichkeiten, die sie hat, um in Deutschland zu bleiben.
- Eine echte Heldin: In diesem Abschnitt werden Victorias traumatische Erfahrungen in dem Lager, wo sie aktuell in Deutschland wohnt, beleuchtet. Der Versuch, sie und ihr Kind abzuschieben, sowie der unmenschliche Umgang, den sie, ihr Kind und weitere Personen erlebt haben, stehen hierbei im Mittelpunkt. Sie wurde von dem Lager weggebracht und an einem entfernten Bahnhof abgesetzt, von dort aus hat sie zurück zum Lager gefunden und später wieder zu Martha.
- Unter Kolleg:innen: An dieser Stelle unterhalten sich Martha und ihre Kolleg:innen aus der Einrichtung, wo sie arbeiten, über ihre Gefühle und den Umgang mit belastenden Situationen aus der Arbeit. Die Kolleg:innen geben einander nützliche Ratschläge.
- Die Täter entmachten: In diesem Kapitel wird die schwierige Essenssituation, die Victoria und ihr Baby in der Wohneinrichtung erleben, beschrieben. Gegen die Rückkehr der Gedanken zu vergangenen Erfahrungen empfiehlt Martha Victoria Interventionen, welche die Täter entmachten, und „Platzanweisungen“ für Erinnerungen, wobei die EMDR-Technik verwendet wird. Ebenso werden die Technik „Alles wird gut“ und ein Ressourcencheck empfohlen.
- Der Zettel: Victoria ist nicht zu der Sitzung mit Martha gekommen; sie wurde von den Beamten woanders hingebracht. Sie hat einen Zettel für Martha hinterlassen und sich für alles bedankt.
- Ein Nachwort für alle, die das Schicksal geflüchteter Menschen kennenlernen wollen: In diesem Nachwort benennt die Autorin konkrete Herausforderungen, die von ihr bei der alltäglichen Begleitung von Frauen und Menschen mit Fluchterfahrung erlebt werden. Gleichzeitig werden die Stärken und die Kraft der betroffenen Frauen betont.
- Nachbemerkungen für (Trauma-)Therapeut:innen: In diesem Abschnitt werden Empfehlungen für das Fachpersonal gegeben, für die Implementierung von Interventionen in der Praxis, trotz bestehender Herausforderungen.
Abschließend wird Victorias Geschichte durch ein Nachwort, Nachbemerkungen und mehrsprachige Informationen für Personen mit Fluchterfahrung abgerundet.
Diskussion
Das hochkomplexe Thema Flucht sowie sexualisierte Gewalt gegen Frauen auf der Flucht werden in diesem Buch in sehr gelungener Weise behandelt. Obwohl Victoria eine fiktive Figur ist, sind die von der Autorin und der Illustratorin in diesem Kontext dargestellten Erfahrungen real. Diese Graphic Novel beleuchtet ernüchternd diejenigen Erfahrungen und Risiken, denen Frauen und Menschen insgesamt, die sich auf der Flucht befinden, ausgesetzt sind. Obwohl der Erzählstrang in diesem Buch nicht geradlinig verläuft, gelingt es der Autorin, die Leser:innen ansatzweise die Gefühle und Situation der Betroffenen nachempfinden zu lassen. Dadurch wird klar, dass die Erfahrungen vor und auf der Flucht, so wie Victoria sie beschreibt, für sie „die Hölle“ waren und von ihr in Deutschland weitere traumatisierende Erfahrungen erlebt werden. Die Erzählung und die Zeichnungen schaffen zugleich eine emotionale Verbindung zu Victorias Geschichte, die das allgemeine Interesse an diesem Thema weckt.
Dieses Buch bietet den Leser:innen weitere Zugänge zu der Thematik Flucht, Fluchterfahrungen und Traumata, die für die Praxis als Sozialarbeiter:innen, Psycholog:in oder Beraterin von Menschen mit Fluchterfahrung nützlich sein können: Marthas Perspektive und ihr Umgang mit den traumatischen Erfahrungen von Victoria sowie traumatherapeutische Maßnahmen, die bei den Begleitungsprozessen von Menschen mit ähnlichen Erfahrungen nützlich sein können.
Fazit
Dieses Buch in Comicform bietet eine qualitativ hochwertige sowie lesenswerte Grundlage, um Flucht und Fluchterfahrungen aus der Perspektive der Betroffenen kennenzulernen und nachzuvollziehen. Ebenso bietet es durch die verschiedenen Zugänge praktische Hinweise, die für die Interaktion mit entsprechend traumatisierten Frauen und Personen insgesamt nützlich sein können.
Die Autorin Martha Richards und die Illustratorin Francesca Cogni haben ein feinfühliges und hochwertiges Buch geschaffen, das zur Reflexion und Verbesserung der Begleitung und Unterstützung von Frauen mit Fluchterfahrung einlädt.
Rezension von
Prof. Dr. Matilde Heredia
Professur für Kindheitspädagogik
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Es gibt 10 Rezensionen von Matilde Heredia.
Zitiervorschlag
Matilde Heredia. Rezension vom 09.04.2024 zu:
Martha Richards, Francesca Cogni: Victoria. Ankommen und überleben in Deutschland. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2022.
ISBN 978-3-8497-0371-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31723.php, Datum des Zugriffs 11.11.2024.
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