Werner Weidenfeld, Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2023
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.01.2024

Werner Weidenfeld, Wolfgang Wessels (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2023. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2023. 595 Seiten. ISBN 978-3-7560-0446-1. 94,00 EUR.
Europe en avant
Der Kontinent Europa ist mehr als eine geografische, territoriale Zusammenfügung von politischen Staaten und Gesellschaften. Das Europa-Parlament hat 1991 in Straßburg ein Kolloquium zum Thema „Das Universelle und Europa“ durchgeführt. Dabei wurde betont, dass Europa, wie Gott Janus, zwei Gesichter habe. „schwankend zwischen Gut und Böse“. Es ist die „globale Ethik“, mit der ein humanes Bewusstsein von einer „europäischen Identität“ entwickelt werden kann. Ego-, ethnozentristische, nationalistische, faschistische und rechtsextreme Einstellungen und Ideologien bringen Gewalt, Kriege und Höherwertigkeitsvorstellungen hervor und bewirken, dass sich Einheits- und Integrationskonzepte nur schwer durchsetzen. Der „Europäische Konvent“ legte am 20. Juni 2003 den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung Europa vor. In diesem, allerdings bis heute nicht verwirklichten Dokument wird erinnert, „dass der Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Über die Entstehung und Entwicklung, das ethnische, kulturelle und politische Werden Europas, wird in vielfältigen Formen und Aktivitäten nachgedacht. In den historischen und zeitgeschichtlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen der Hochschulen und Universitäten werden Fragen dazu thematisiert. Der Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Münchner Universität, Werner Weidenfeld, und der Politikwissenschaftler Wolfgang Wessels geben das Jahrbuch 2023 heraus. Sie versammeln Forschungsbeiträge zu europäischen Ereignissen aus den Jahren 2022/23.
Aufbau und Inhalt
Das umfangreiche Werk wird, neben dem Vorwort der Herausgeber Werner Weidenfeld sowie Wolfgang Wessels und dem Anhang, in acht Kapitel gegliedert:
- Im Ersten wird „Bilanz“ gezogen und eine Bestandsaufnahme der europäischen und EU-Entwicklungen vorgenommen;
- im Zweiten werden die „Institutionen der Europäischen Union“ vorgestellt und ihre Zielsetzungen und Arbeitsweisen diskutiert;
- im Dritten geht es um die „politische Infrastruktur“, mit den parlamentarischen, organisatorischen, medialen, interessenbedingten und weltanschaulichen Strukturen;
- Im Vierten wird die „Innenpolitik der Europäischen Union“ thematisiert;
- Im Fünften die „Außenpolitik“;
- Im Sechsten werden Realitäten und Perspektiven der „Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitik“ diskutiert;
- Im Siebten wird der Bogen zu Fragen der „Europäischen Union und andere(n) Organisationen“ geschlagen;
- Und im achten Kapitel wird die „Europapolitik in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union“ beleuchtet.
Die differenzierten Ausführungen, Forschungsfragen und -ergebnisse der mehr als 100 Autorinnen und Autoren zur politischen, sozialen, kulturellen Entwicklung im institutionalisierten und werdenden Europa, gewinnen Handbuchcharakter. Jedem Beitrag werden Schlüsselwörter vorangestellt. Sie dienen als Fundstellen und erleichtern die Benutzung der Informationen.
Diskussion
Der wissenschaftliche Anspruch, seit fast einem halben Jahrhundert Jetzt-Zeit- und Jahresdokumentationen zur Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses vorzulegen, bedarf der „Lücken“-Kompetenz: Es wird nicht gelingen, alle wesentlichen, positiven und negativen Aspekte zur europäischen Einigung bzw. Spaltung zu thematisieren. Es werden immer wieder Fragen auftreten wie: „Warum die Betonung dieser und die Vernachlässigung jener Entwicklung?“ – Warum kommen diese AutorInnen und warum andere nicht zur Sprache?“. Es soll nicht Beckmesserei sein, wenn der Rezensent nach den Auswahlkriterien fragt, welche Forschungsergebnisse in das „Jahrbuch der Europäischen Integration“ aufgenommen wurden und welche nicht. Warum zum Beispiel fehlen Arbeiten, wie sie von der sogenannten Hildesheimer „Europa-Schmiede“ kommen (z.B.: Michael Gehler, Europas Weg von der Utopie zur Zukunft der EU, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27342.php); von Aleida Assmann (2018, www.socialnet.de/rezensionen/​25041.php); von Arnd Uhle (2020, www.socialnet.de/rezensionen/​27855.php); von Winfried Böttcher (2021, www.socialnet.de/rezensionen/​28324.php).
Auf ein Problem soll hingewiesen werden: Literatur, die Handbuchcharakter besitzt und wegen des Preises und Umfangs eher nicht auf privaten Schreibtischen landet, sondern als Bibliotheksexemplare vorliegen und deshalb starker Benutzung ausgesetzt ist, sollte nicht als Paperback-, sondern als Festeinband herausgegeben werden. Das „Jahrbuch der Europäischen Integration 2023“ ist ein Handbuch, das in keiner öffentlichen und universitären Bibliothek fehlen sollte.
Fazit
„Quo vadis, Europa?“. Die Vision, dass die Menschen auf dem Kontinent Europa und global sich darauf besinnen und einigen, dass „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“ (Menschenrechtsdeklaration), steht weiterhin auf der Tagesordnung. Ohne die Erkenntnis und dem Bewusstsein, dass nur mit gemeinschaftlichen, gleichberechtigten Denken und Tun Euzôia, ein gutes Leben, möglich ist, wird es auch kein gemeinsames Europa geben.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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