Niels Werber: Geopolitik zur Einführung
Rezensiert von Thomas Barth, 10.01.2024
Niels Werber: Geopolitik zur Einführung.
Junius Verlag
(Hamburg) 2022.
2., überarb. Auflage.
208 Seiten.
ISBN 978-3-88506-085-7.
14,90 EUR.
Reihe: Zur Einführung.
Thema
„Geopolitik ist wieder en vogue. Von Gaspipelines als Lebensadern ist die Rede, von der Amputation von Territorien oder auch vom Willen, eine lebenswichtige Landbrücke zu einer Enklave herzustellen. Staaten werden in Analogie zu Lebensformen betrachtet: Nicht Staaten, sondern Lebewesen fehlt die Luft zum Atmen, benötigen mehr Raum oder leiden unter Gebietsverlusten als ein verstümmelter Körper.“ (Verlagsinformation) Die Nachauflage erfolgt nach der russischen Invasion in der Ukraine, der Sprengung der neuralgischen Nordstream-Gaspipelines und inzwischen vollzogener Zeitenwende zur Kriegstüchtigkeit. Sie wirft geopolitisch folgerichtig auch einen Blick auf das heutige russische Großraumdenken als Adaption eines geopolitischen Denkens, dessen Blütezeit schon durch das Titelbild im Nazi-Faschismus lokalisiert wird. Sie nähert sich dem Thema jedoch literatur- und medienwissenschaftlich u.a. von Tolkiens Fantasy-Epos „Lord of the Rings“ her.
Autor
Niels Werber ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, er lehrte auch Mediengeschichte und Kommunikationstheorie. 1994 hatte er eine Gastprofessur in Moskau und ist heute Sprecher des Sonderforschungsbereichs „Transformationen des Populären“ und Leiter des Teilprojekts „Serienpolitik der Popästhetik: Superhero Comics und Science-Fiction-Heftromane“; Arbeitsgebiete: Selbstbeschreibung der Gesellschaft, soziale Insekten, Literatur und ihre Medien, Geopolitik der Literatur.
Aufbau und Inhalt
In 13 Kapiteln entwickelt Nils Werber einen originellen Zugang zum Gebiet der Geopolitik, der nach einer definitorischen Abgrenzung auch Literatur und Medien auf vielfältige Weise in eine chronologisch-ideengeschichtliche Darstellung einbezieht. Neben klassischen Autoren wie Karl Haushofer (dessen „Wehr-Geopolitik“ von 1941 die Landkarte des Titelbildes liefert), Friedrich Ratzel, Alfred Mahan, Halford Mackinder, Carl Schmitt und Samuel Huntington zeigt Werber Bezüge zu populären Repräsentationen geopolitischen Denkens auf.
Werber beginnt mit der Kritik einer Definition von „Geopolitik“ des Sozialgeographen Benno Werlen: „Geopolitik“ sei eine Theorie der politischen Geographie, die auf der Theorie des Geodeterminismus beruhe und mithin von einer kausalen (Vor-) Bestimmtheit des menschlichen Handelns, insbesondere der Staatspolitik, durch den Raum bzw. die Natur ausgehe. In Anlehnung an den geopolitischen Klassiker Friedrich Ratzel würde der Staat dabei als Organismus betrachtet, der über einen ausreichend dimensionierten Lebensraum verfügen sollte. Werber stimmt Werlens Kritik zu, geopolitische Diskurse seien durch „sozialdarwinistische Denkmuster“ geprägt, nicht jedoch dem diagnostizierten Determinismus. Der Zoologe Ratzel habe selbst auf die Offenheit der politisch bestimmten Ausfüllung der „Lebensräume“ durch verschiedene „Staatsorganismen“ hingewiesen, Werlens „Geodeterminismus“ sei daher zu eng definiert. Klaus Dodds dagegen fasse Geopolitik zu weit, wenn er ein ganzes Set von Ideologien, Propaganda und Othering darunter fasse. Dabei sieht Werber jedoch auch ethnische Stereotypien und Feindbilder mit Geopolitik verknüpft: „Z.B. leitet die deutsche Geopolitik aus der Topographie des russisch beherrschten Raums ab, die Bevölkerung dieser unendlich weiten, versteppten und letztlich unkultivierten Räume könne dort keine Wurzeln schlagen und daher auch keine Individualität ausgeprägt haben, die mit der individuellen Prägung der Bewohner westlicher Kulturlandschaften zu vergleichen wäre“ (S. 11). Die Spur dieser Ideologie nimmt Werber im poetischen Realismus eines „proto-geopolitischen“ Romans von Gustav Freytag auf, der 1855 erschien (S. 29), und verfolgt sie über den NS-belasteten Machttheoretiker und Juristen Carl Schmitt bis zum postmodernen Philosophenpaar Deleuze/​Guattari mit ihrer nach Schmitt „reformulierten“ Unterscheidung von „glattem und gekerbten Raum“ (S. 33).
Aus ähnlichen topographischen „Gründen“ habe man schon Sowjets und Yankees (US-Amerikanern) Typologien angedichtet. „Eine geographische Beschreibung zur Grundlage der Abwertung einer ganzen Ethnie oder Gesellschaft zu machen, ist typisch geopolitisch“ (S. 11). Sehr oft seien geopolitische Texte rassistisch, sexistisch, nationalistisch, imperialistisch, bellizistisch oder propagandistisch, was jedoch umgekehrt nicht gelte, da Rassisten nicht zwingend Landkarten brauchen. Der US-Stratege Robert Kagan, den Werber öfter herbeizitiert als das Personenregister glauben macht, habe den Europäern unterstellt, sie hätten die raue geografische Realität „unter dem Schutz der USA“ verdrängt „…wie einst die Hobbits im von Menschen des Westens (…) gut behüteten, paradiesischen Auenland.“ (S. 12) Soweit die erste Anspielung Werbers auf das popkulturelle Fantasy-Universum von J.R.R.Tolkiens „Herr der Ringe“, von dessen geopolitischen Untertönen das zweite Kapitel handelt. Deutsche Vertreter von Kagans Sicht, deren Umsetzung im geopolitischen „Project New American Century“ nicht erwähnt wird, finden sich später in Herfried Münkler und Ulrich Beck. Münkler meint, die Welt bestünde aus Imperien und deren Einflusszonen (S. 186), der (im Personenregister fehlende) Soziologe Beck „hat -nahezu hellsichtig- eingewendet, dass gerade der Verzicht auf geostrategische und machtpolitische Analyse dazu geführt habe, die Europäer in einer 'pazifistischen Lebenslüge' gefangen zu halten“ (S. 188).
Im zweiten Kapitel „Mittelerde: Ein geopolitisches Exempel“ erfahren wir, dass Tolkien, wie der geopolitische Klassiker Halford J. Mackinder „ein Oxford-Mann“ (S. 17), in seinem Epos die Erde wie den organischen Teil einer Polis als eigene politische Kraft handeln lässt. Elbenprinzessin Arwen und Hobbit Frodo entkamen nur durch ein sie schützendes Land den Schwarzen Reitern des Lord of the Rings, wobei die Geopolitik Mittelerdes „keineswegs in Magie aufgeht“ (S. 18). Der elbische Bergbach habe vielmehr beim Wegschwemmen der Bösen eine politische Freund-Feind-Separation (Carl Schmitt) vorgenommen (S. 19). Die 1930er-Jahre, in denen Tolkien seine Mittelerde-Fantasy-Welt schuf, wären „…ohne Zweifel die Blütezeit geopolitischen Denkens“ (S. 22). Seine Einführung in die Geopolitik werde deren „Rede über den Raum“ anhand einer „geopolitical aesthetic“ (Jameson) oder „popular geopolitics“ darlegen: „Eine Einführung in die Geopolitik haben wir immer schon erhalten – etwa als Leser oder Zuschauer des Lord of the Rings“ (S. 23).
Nach dieser Vorgeschichte der Geopolitik kommt die Phase der „politische Geographie“ mit dem schwedischen Staatswissenschaftler Ulrich Kjellén, „Urheber des Neologismus 'Geopolitik'“, und dem Zoologen Ratzel, dem „Reformator der politischen Geographie“ (S. 46), die den Sozialdarwinismus geopolitisch zum Bellizismus verschärften (S. 56). Imperialistisch fragen mit Mackinder und Mahan Vertreter von UK und USA nach „Heartland oder Seapower“, wobei der Brite Mackinder mit seiner Heartland-Theorie zunächst v.a. in Hitlers Deutschem Reich von Haushofer rezipiert wurde: Wer Eurasien, „die Weltinsel“, das globale Herzland beherrsche, beherrsche die Welt (S. 69). Folge war -auch durch die literarische Vorarbeit von Romanciers wie Freytag- die Ost-Orientierung der deutschen Geo- und Expansionspolitik, besonders nach 1939 (S. 126). In der Nachkriegszeit ab 1945 wäre die klassisch-imperialistische Raumorientierung dann von einer ideologischen Ost-West-Blockkonfrontation überlagert worden, in der aus westlicher Sicht die Sowjets der Welt den Antagonismus zwischen Kommunismus und Kapitalismus aufgezwungen hätten, so der US-Stratege George F. Kennan (S. 141). Bei der ersten Auflage habe er, Werber, russische Geopolitik noch nicht berücksichtigt, denn er sei vom „Ende der Geopolitik“, das Apologeten von Globalisierung und Internet-Kultur verkündeten, „allzu beeindruckt gewesen“ (S. 203). Das heutige Russland greife mit der Ukraine-Invasion jedoch wieder zur alten Geopolitik und Kreml-Ideologe Aleksandr Dugin beziehe sich in „einer bizarren Hommage“ auf Mackinder, wenn für ihn der „letzte Krieg um die Weltinsel“ beginne; Dugin schreibe, „man werde mit Putin gegen den Westen siegen oder untergehen“, was „überaus unoriginell“ sei, da schon 1915 Kjellén die „weltpolitische Mission“ Russlands darin sah, „die eurasische Insel zu dominieren und von den 'abgelebten' Zivilisationen des Westens zu befreien“ (ebd.).
Diskussion
Eine Wende erlebte, so Werber, die klassische Geopolitik nach Auflösung der Sowjetunion mit den „seit den 1990er Jahren auf kommenden 'critical gepolitics'“, die Räume als sozial konstruiert und damit kontingent analysiert, etwa als transnationale Netzwerkgesellschaft bei Manuel Castells: „Geopolitik, die ja notorisch positivistisch ist, verliert damit ihren Grund“ (S. 145). Von Deleuze/​Guattari geht es zum Netzwerk Castells, zum Netz der Multitude im Kampf mit dem Empire (Hardt/​Negri) und zu Bruno Latour. Bei Latour ist die Erde selbst ein Akteur („Gaia“), welcher im Anthropozän gegen menschliche Industriemacht ums Überleben kämpfen muss (S. 174), was Werber wieder an Tolkien erinnert haben dürfte. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass die hier zitierten Gegner von Empire und Klimakollaps durch geopolitische Ideen dergestalt infiziert sind, dass sie zu ähnlich motivierten Gewaltmitteln greifen, wie die Geopolitik besagter Imperien. Kann man Autoren wie Deleuze/​Guattari, Hardt/​Negri oder Bruno Latour in eine Reihe mit imperialistisch-faschistischen Ideologen der Geopolitik stellen? Werber zeigt z.B. wie im Begriff vom „glatten“ oder „gekerbten“ Raum, den Deleuze/​Guattari entwickeln, Schmitts Unterscheidung von Land und Meer aufgegriffen wird. Dies erweckt den Eindruck, er hätte auf ein problematisches geopolitisches Erbe hingewiesen, das sie weiterführen, ohne es explizit auszuweisen (Korf). Denkbar ist aber auch, dass hier oder bei Hardt/​Negri bzw. Latour machtdiskursive Tiefenstrukturen dekonstruiert werden: Die ideengeschichtliche Entdeckung geopolitischer Aspekte bei Machtkritikern zeigt sie so gesehen einfach bei ihrer Arbeit der Kritik.
Störend ist an dieser nicht immer leicht lesbaren Neuausgabe auch, dass versäumt wurde, das Register zu ergänzen, sodass zitierte Autoren wie Ulrich Beck, Habermas, Foucault oder der von Werber scharf kritisierte Tim Marshall („Die Macht der Geographie“) dort fehlen.
Fazit
Der Einführungsband rekonstruiert den geopolitischen Diskurs von literarischen und akademischen Anfängen im 19. Jahrhundert über imperiale Diskurse auch in der Popkultur bis hin zu Netzwerkgesellschaft, Multitude und Gaia. Als Fazit dieser Einführung kann Werbers Urteil gelten: „Diese dem Raum in der Geopolitik zugesprochene Handlungsmacht hat sich durchweg als fatal erwiesen“, denn sie rechtfertige „die schrecklichsten Verbrechen als Vollzug von Naturgesetzen“ (S. 150).
Literatur
Benedikt Korf, Im Raume lesen wir die Spuren der Gewalt, Geographica Helvetica 71, 215 f., 2016, https://gh.copernicus.org/articles/71/215/2016/gh-71-215-2016.pdf
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
Mailformular
Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Barth.
Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 10.01.2024 zu:
Niels Werber: Geopolitik zur Einführung. Junius Verlag
(Hamburg) 2022. 2., überarb. Auflage.
ISBN 978-3-88506-085-7.
Reihe: Zur Einführung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31726.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.