Kai Ambos: Doppelmoral
Rezensiert von Thomas Barth, 23.01.2024
Kai Ambos: Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine. Westend Verlag GmbH (Neu-Isenburg) 2022. 90 Seiten. ISBN 978-3-86489-404-6. D: 14,00 EUR, A: 14,40 EUR.
Thema
Durch den Nahostkrieg ist der Ukrainekrieg derzeit medial etwas aus dem Blick geraten, nachdem sich zuvor schon Ermüdungserscheinungen des deutschen Fernsehpublikums gezeigt hatten. Doch es bleiben wichtige moralische und völkerrechtliche Fragen offen, nicht nur weil ein Frieden immer noch nicht in Sicht ist, sondern auch weil die westliche Position in vielerlei Hinsicht kritisiert wurde. Der deutschen Debatte um den Ukraine-Krieg lag die Überzeugung zugrunde, dass eine Verurteilung des russischen Angriffskriegs von der ganzen Welt geteilt würde. Diese Annahme erwies sich jedoch als unzutreffend. Der russische Bruch des Gewaltverbots verdient unzweifelhaft eine konsequente und nachhaltige Antwort, doch kann diese Antwort glaubwürdig vom Westen gegeben werden?
Autor
Kai Ambos ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Internationales Strafrecht, Völkerrecht, Straf- und Strafprozessrecht sowie Rechtsvergleichung an der Georg-August-Universität Göttingen und seit 2018 geschäftsführender Direktor des dortigen Instituts für Kriminalwissenschaften, Gastprofessuren in Lateinamerika, Spanien, Italien und Israel und Gastwissenschaftler in UK (Cambridge und Oxford). Ambos ist List Counsel am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag und seit 2017 Richter am Kosovo Sondertribunal. 2020 erhielt er den Wissenschaftspreis Niedersachsen in der Kategorie „Wissenschaftler“. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen zum deutschen und internationalen Straf- und Strafprozessrecht sowie zum Völkerstrafrecht und gehört laut Wikipedia zu den Autoren eines Rundbriefs gegen eine Corona-Impfpflicht.
Aufbau und Inhalt
Drei Kapitel entfalten straf- und völkerrechtlich eine juristisch-moralische Argumentation und politische Schlussfolgerung für den Westen.
- Die begrenzte Unterstützung der westlichen Ukraine-Politik
- Der widersprüchliche Umgang des Westens mit dem Völker(straf )recht
- Schlussfolgerungen: Größere westliche Konsistenz im Völker(straf )recht
Ambos versucht in drei Schritten seine These von der westlichen Doppelmoral völkerrechtlich zu belegen: Erstens geht es um die begrenzte Unterstützung der westlichen Ukraine-Politik in der Weltgemeinschaft; zweitens um den widersprüchlichen Umgang mit dem Völker(straf)recht und drittens fordert er eine größere westliche Konsistenz in dieser Frage. Ambos argumentiert durchaus von einem westlichen Standpunkt, versucht diesen aber mit dem Blick auf das Völkerrecht zu objektivieren -was ihn in Opposition zum in unseren Leitmedien vertretenen Weltbild bringt:
„Ich habe mich an verschiedenen Stellen zu völker(straf) rechtlichen Aspekten der Ukraine-Situation geäußert, zuletzt auch zunehmend kritisch, weil ich mehr und mehr eine Diskrepanz zwischen dem hierzulande und in anderen westlichen Staaten propagierten Anspruch der Verteidigung einer regelbasierten Völkerrechtsordnung qua militärischer Unterstützung der Ukraine und der (sonstigen) westlichen Völkerrechtspraxis zu erkennen glaube“ (S. 9).
So stellt Ambos sich die Frage, warum die westliche Ukraine-Politik im weltweiten Maßstab keineswegs von der viel beschworenen »internationalen Gemeinschaft« unterstützt würde, sondern vielmehr vor allem im Globalen Süden auf viel Kritik stößt. Besagte »internationalen Gemeinschaft« sei im Übrigen ein im hiesigen Mainstream unreflektiert und fast postkolonial gebrauchtes Konzept. Wie begründet der Autor seine erste These? Die UN-Generalversammlung habe 2022 zwar eine Resolution gegen Russland verabschiedet, aber es hatten 40 Staaten mit Nein gestimmt oder sich enthalten, darunter China, Indien und Südafrika. 143 Länder haben zwar mit Ja gestimmt, aber dennoch tragen davon nur etwa 40 die westliche Ukrainepolitik aktiv mit, d.h. indem sie sich an Sanktionen, Waffenlieferungen oder Maßnahmen wie der internationalen Strafverfolgung beteiligen. Das sei nur die Nato plus ein paar andere Länder. Wie kommt das angesichts einer so flagranten Völkerrechtsverletzung wie des russischen Angriffskriegs? Eine Ursache sei unsere Doppelmoral, die uns unglaubwürdig mache, wenn wir eine regelbasierte Völkerrechtsordnung proklamieren. Wir sollten uns, so Ambos, endlich klarmachen, dass wir nicht die Welt sind und damit auch nicht beanspruchen können, die internationale Gemeinschaft alleine zu repräsentieren. Schon das Bild, das unsere Leitmedien auch bereits in den Jahren vor dem russischen Angriff von der Ukraine zeichneten, scheint von besagter Doppelmoral verzerrt gewesen zu sein: Der beispiellose russische Angriffskrieg gegen die Ukraine solle uns nicht blind machen gegenüber den komplexen rechtsstaatlichen Problemen, denen sich dieses Land gegenübersehe, etwa struktureller Defizite der Justiz, deren mangelnde Unabhängigkeit, Korruption:
„Die reflexhafte und überaus emotionale Ablehnung des jüngsten Berichts von Amnesty International (AI) durch die ukrainische Führung war insoweit wenig hilfreich, als dass sie schon vorhandene Zweifel an der Unparteilichkeit der ukrainischen Ermittlungsbehörden verstärkt“ (S. 13).
Der angesprochene AI-Bericht vom 4.8.2022 warf der Regierung Selenskij vor, mit ihrer Kriegsführung die eigenen Zivilisten zu gefährden, weil sie ihre Kanonen in Wohngebieten positionierte -gegenüber anderen Regierungen sprachen unsere Medien in so einem Fall in der Regel vom Missbrauch der Zivilbevölkerung als „menschliche Schutzschilde“.
Im zweiten Kapitel geht es um den widersprüchlichen Umgang mit dem Völker(straf)recht durch westliche Staaten, von der historischen Schuld des Kolonialismus (S. 33) über heutige Brüche des Völkerrechts wie der Tötung verdächtiger Personen durch US-Streitkräfte im Ausland (S. 38) zu völkerstrafrechtlichen Widersprüchen: „…wie die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs mit möglichen völkerrechtlichen Verbrechen westlicher Staaten umgegangen ist.“ (S. 41) Es ging um „…mutmaßliche Verbrechen, die von britischen Staatsbürgern zwischen 2003 und 2008 begangen wurden, darunter Mord, Folter und andere Formen von Misshandlungen“, wo die Ermittlungen 2020 unter Verweis auf die Tätigkeit der Britischen Justiz eingestellt wurden: „Allerdings wurden die besagten innerstaatlichen Ermittlungen zwischenzeitlich ebenfalls ohne Anklageerhebung eingestellt“ (S. 42).
US-Verbrechen in Afghanistan sei ebenfalls nicht nachgegangen worden, die Trump-Regierung habe sogar gegen die Chefanklägerin Bensouda und ihr Team Sanktionen verhängt, um die Strafverfolgung westlicher Kriegsverbrecher zu vereiteln (S. 43). Als jüngste völkerrechtliche Inkonsistenzen führt Ambos bezüglich der katastrophalen Leiden der Bevölkerung des Jemens an, „…dass Deutschland (nach wie vor) Waffen für den Krieg im Jemen liefert und zwar an Staaten, die der saudiarabischen Kriegskoalition angehören. Sieht so die deutsche Verteidigung der regelbasierten Völkerrechtsordnung jenseits der Ukraine aus?“ (S. 46).
Im dritten Kapitel konstatiert Ambos, dass der Westen seine Ansprüche, eine regelbasierte Völkerrechtsordnung zu vertreten, nur dann legitimieren kann, „…wenn der Westen sich selbst an die völkerrechtlichen Regeln hält“. Man mag im Westen Unterschiede zwischen der aktuellen russischen Invasion und jener des Westens im Irak oder Afghanistan sehen, „…doch diese Unterschiede sind, sofern man sie überhaupt akzeptiert, bestenfalls gradueller, aber nicht prinzipieller Natur“ (S. 51). Gleiches gilt für Hinrichtungen von Regierungsgegnern durch russische Agenten in Berlin und Drohnentötungen durch die USA in Afrika und Asien.
Diskussion
Kai Ambos brilliert mit juristischer Fachkompetenz mehr als mit historischem Wissen, wie seine Formulierung „der beispiellose russische Angriffskrieg gegen die Ukraine“ dokumentiert: Von aktiver Vergangenheitsbewältigung geprägte Deutsche sollten wohl wenigstens ein weiteres Beispiel kennen -den deutschen Angriff auf die Ukraine und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. Bei der Erwähnung des Staschinsky-Falles als „Ermordung eines ukrainischen Oppositionellen im Jahre 1957 in München“ (S. 79, Fn 121) übersah Ambos, dass der KGB-Agent Staschinsky damals erstens zwei Ukrainer tötete und zweitens, wer diese waren: 1957 tötete er Lew Rebet und 1959 Stepan Bandera. Besonders letzterer ist bekannt als faschistischer Ultranationalist, Nazi-Kollaborateur und mutmaßlicher Massenmörder. Bandera wurde als Idol der ukrainischen Rechtsextremisten spätestens ab 2014 zur wichtigen Symbolfigur für den politischen Rechtsruck der Ukraine. Dieser Hintergrund kam in der von Ambos dazu zitierten juristischen Fachliteratur zur westdeutschen Verurteilung Staschinskys durch den BGH 1962, laut Ambos ein „Standardfall der deutschen juristischen Ausbildung“, offenbar nicht zur Sprache.
Fazit
Das größtenteils gut lesbare Taschenbuch stellt einen moralischen Standpunkt aus hochkompetenter Sicht dar, der die westliche Sicht des Ukrainekriegs infrage stellt. Aus juristischer Sicht werden westliche Kriegsverbrechen jenen der russischen Regierung gegenüber gestellt und als blinder Fleck der Internationalen Strafjustiz gezeigt. Die Bedrohung und Missachtung der Anklagebehörden von Den Haag insbesondere durch die USA unter Trump werden angeprangert und westlicher Respekt eingefordert -mit dem Ziel, Legitimität in den Augen der Weltöffentlichkeit zurückzugewinnen.
Quellenempfehlung
Doppelmoral des Westens im Ukraine-Krieg? Autoreninterview von Kai Ambos durch T.Barth https://www.telepolis.de/features/​Doppelmoral-des-Westens-im-Ukraine-Krieg-7350071.html
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Barth.
Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 23.01.2024 zu:
Kai Ambos: Doppelmoral. Der Westen und die Ukraine. Westend Verlag GmbH
(Neu-Isenburg) 2022.
ISBN 978-3-86489-404-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31730.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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