Svenja Heck: Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung
Rezensiert von Prof.in Dr.in Ulrike Mattke, 21.05.2024

Svenja Heck: Partnerschaft, Sexualität und geistige Behinderung. Professionelles Handeln und Verstehen in der Heilpädagogik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2023. 166 Seiten. ISBN 978-3-17-039540-4. 32,00 EUR.
Thema
Das Thema Sexualität und geistige Behinderung wird auf den Aspekt der Partnerschaft bezogen und mit einem psychoanalytischen Verständnis professionellen heilpädagogischen Handelns verknüpft.
Autorin
Prof.in Dr. Svenja Heck lehrt an der Hochschule Darmstadt im Fachbereich Sozialwesen „Behinderten- und Heilpädagogik“. Bereits ihre Dissertation (2010) beinhaltet die Thematik „Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung. Perspektiven der Psychoanalytischen Pädagogik“. Zudem liegen mehrere einschlägige Publikationen im Themenbereich Sexualität und Behinderung vor.
Entstehungshintergrund
Neben der aktuellen Fachdiskussion und Forschung bezieht sich die Autorin auf Erfahrungen aus zwei Forschungsprojekten: einer wissenschaftlichen Begleitung zur Partnervermittlung von Menschen mit Behinderungen sowie der Beratungsstelle „Liebelle für selbstbestimmte Sexualität von Menschen mit Lernschwierigkeiten“ in Mainz.
Aufbau
Die Publikation startet mit einer Diskussion zum „Phänomen geistige Behinderung“ (Kapitel 1) und erörtert „Grundlegende Aspekte professionellen Handelns im Bereich von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung“ (Kapitel 2). Dem folgen Ausführungen zu „Partnerschaft und geistige Behinderung“ (Kapitel 3). Anschließend richtet sich der Fokus auf die praktische Ebene mit Kapitel 4 zu „Sexualität in der heilpädagogischen Praxis“ und Kapitel 5 „Handlungsweisende Ansätze, Leitideen und Konzepte“. Abschließend werden „Ausgewählte Praxisfelder“ (Kapitel 6) in Bezug auf das Thema Sexualität und geistige Behinderung beleuchtet.
Inhalt
Einführend wird die Frage der Terminologie „Geistige Behinderung oder Lernschwierigkeiten?“ (Kapitel 1.1) differenziert abgewogen. Der Begriff „geistige Behinderung“ wird in der vorliegenden Veröffentlichung präferiert, „da er eine (inter-) disziplinäre Verständigung erlaubt, im wissenschaftlichen Diskurs noch kein Konsens über eine ähnlich fundierte Bezeichnung existiert“ (S. 10). „Ein psychodynamisches Verständnis von geistiger Behinderung“ (Kapitel 1.2) beschäftigt sich vor allem mit dem Ansatz eines verstehenden Zugangs zum belastenden Erleben von Eltern nach der Diagnosestellung und der bisher in der Disziplin kaum diskutierten Mentalisierungsfähigkeit, die bei Menschen mit geistiger Behinderung oft reduziert ist und sich sowohl auf Möglichkeiten zur Selbstreflexion als auch auf soziale Interaktionen auswirkt. Im folgenden Kapitel 2 „Grundlegende Aspekte professionellen Handelns im Bereich von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung“ werden „Merkmale und Bedingungen professionellen Handelns in der Heilpädagogik“ (S. 19) weitgehend unabhängig von der Thematik Sexualität erarbeitet. Beschrieben werden Kernelemente des Fallverstehens, die Notwendigkeit professioneller Selbstreflexion sowie konkrete Schritte einer ethischen Reflexion. Das zentrale Thema „Partnerschaft und geistige Behinderung“ (Kapitel 3) wird recht kurz, auf nur neun Seiten, behandelt. Hier bezieht sich die Autorin zunächst auf Ergebnisse von Studien und Praxisberichten und sie rezipiert einige problematische Aspekte bei der Partnersuche, bei Partnerwünschen und bei Einstellungen von Bezugspersonen. Positiv hervorzuheben ist die kurze Ausarbeitung von „Gelingensbedingungen und Bedeutungen von Partnerschaften (Kapitel 3.2). Hier werden mehrere individuelle und soziale Faktoren benannt wie „Reglementierungen von Partnerschaften aufgrund von Normvorstellungen“ (S. 41). Partnerschaften bei dem Personenkreis von Menschen mit geistiger Behinderung können zu einer Stabilisierung der Persönlichkeit, einer Erhöhung von Selbstständigkeit sowie einer sozialen Aufwertung führen. Zudem werden „Mögliche Konfliktfelder (Kapitel 3.3) skizziert, die in Lebensbedingungen und in inadäquaten Vorstellungen über Kontaktaufnahmen und Gestaltung von Partnerschaften dargestellt werden.
Im 4. Kapitel „Sexualität in der heilpädagogischen Praxis“ wird die „Sexuelle Entwicklung im Kontext der geistigen Behinderung“ (Kapitel 4.2) vom ersten Lebensjahr bis zur adoleszenten Entwicklung detailliert ausgearbeitet. Auf anhaltende Einschränkungen in der sexuellen Selbstbestimmung und in Bezug auf positive sexuelle Erlebensmöglichkeiten und insbesondere eine „fortdauernde Tabuisierung von Kinderwunsch und Elternschaft“ (S. 60) weist die Autorin im Teilkapitel 4.3 „Sexualität und geistige Behinderung – aktuelle Entwicklungen“ hin. Eine „Verstehende Annäherung an die Perspektive der Fachkräfte“ enthält das Teilkapitel 4.4. Hier wird anhand von Interviews und Forschungsergebnissen auf die besondere fachliche und emotionale Herausforderung im Umgang mit dem Thema für Fachkräfte hingewiesen. Ihre eigenen Interviews resümiert Svenja Heck folgendermaßen: „Zum einen wurde eine uneingeschränkte (scheinbare) Offenheit gegenüber der Thematik Sexualität und Partnerschaft bei Menschen mit geistiger Behinderung betont, zum anderen trat auch eine hohe Verunsicherung in der Konfrontation mit diesem Thema zum Vorschein“ (S. 64).
Vielfältige Aspekte werden im 5. Kapitel „Handlungsweisende Ansätze, Leitideen und Konzepte“ diskutiert. Im Fokus des Teilkapitels 5.1 „Psychoanalytische Pädagogik und geistige Behinderung“ stehen szenisches Verstehen mit Übertragung und Gegenübertragung und die Strukturierung von Fallbesprechungen. Betont wird, dass das Erfassen der Klientenperspektive Entwicklungsräume eröffnet und korrigierende Beziehungserfahrungen ermöglicht mit positiven Auswirkungen auf die Mentalisierungsfähigkeit von Klient*innen. Zudem werden die heilpädagogischen Leitkonzepte „Selbstbestimmung“ (5.2) und „Empowerment“ (5.3) erörtert, „Professionelle Unterstützung im Kontext von Queerness und geistige Behinderung“ (5.4), „Leichte Sprache“ (5.5) sowie „Nähe und Distanz“ (5.6).
Acht „Ausgewählte Praxisfelder“ mit spezifischem Themenbezug werden im 6. Kapitel behandelt.
Kritisch beleuchtet wird in (Kapitel. 6.1) die häufig unzureichende oder aufgrund von Unsicherheit von Eltern und Fachkräften unterlassene „Sexuelle Bildung“ von Menschen mit geistiger Behinderung. Im Teilkapitel 6.2 „Sexuelle Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen berichtet die Autorin zunächst positive Entwicklungen, die sich in zunehmenden einschlägigen Publikationen in Leichter Sprache spiegelt. Auf der anderen Seite sei oft restriktives und infantilisierendes Handeln von Fachkräften zu beobachten. Herausgestellt wird jedoch auch, was sexuelle Selbstbestimmung im Positiven heißen kann: „unter anderem die Bereitstellung von Explorationsräumen beispielsweise durch eine Öffnung gegenüber Sexualassistenz und Kinderwunsch […] und die Achtung von Intimität und Privatsphäre“ (S. 107). Weiterhin wird „Sexualisierte Gewalt“ (6.3) thematisiert, wobei deren hohe Prävalenz bei Menschen mit geistiger Behinderung referiert wird und besondere „Gefährdungsdimensionen“ (6.3.1) sowie „Präventions- und Interventionsansätze“ (6.3.2).
Als viertes Praxisfeld skizziert die Autorin „Sexualassistenz und Sexualbegleitung“ (6.4). Diese „bezahlte Dienstleistung für Menschen mit Behinderung“ (S. 119) wird sehr differenziert und kritisch diskutiert. Ausführungen zu „Eltern- und Angehörigenarbeit“ folgen im Teilkapitel 6.5. Hier wird zum einen eine innere und äußere Abhängigkeit von Kindern mit geistiger Behinderung bis ins Erwachsenenalter angesprochen und zum anderen „der Bedarf einer Eltern- und Angehörigenarbeit im gesamten Lebensverlauf, auch im Erwachsenenalter der Kinder und Angehörigen“ (S. 127).
„Kinderwunsch und Elternschaft“ stehen im Fokus des nächsten Praxisfeldes (6.6). Dieses Thema befindet sich im Spannungsfeld eines Rechts auf Elternschaft und zahlreichen Einschränkungen in der Praxis. Tatsächlich liegt Studien zufolge Elternschaft bei dem Personenkreis sehr selten vor.
Ein wenig beachtetes Praxisfeld stellt „Mediennutzung und Medienbildung im Kontext von Partnerschaft, Sexualität und geistiger Behinderung“ (6.7) dar. Aufgezeigt wird eine im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine deutlich geringe Nutzung digitaler Medien sowie Chancen und Risiken der Mediennutzung, letzteres besonders beim Konsum von Pornographie. Schließlich werden verschiedene aktuelle „Ansätze der Unterstützung von Partnerschaft und Partnerschaftssuche“ (6.8) beschrieben.
In einer sehr kurzen „Schlussbemerkung“ (Kapitel 7) betont die Autorin die Notwendigkeit „einer fachlichen und reflexiven Rahmung in Aus- und Weiterbildung sowie in Institutionen“ sowie eine lohnende Herausforderung, da die Thematik „für alle Menschen mit vielfältigen Chancen in Hinblick auf Lebensqualität, -glück, Gesundheit und Zufriedenheit“ verbunden ist (S. 144).
Diskussion
Der Autorin ist ein sehr gelungener Überblick über zahlreiche Facetten des Themas gelungen. Eine Darstellung der sexuellen Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung ist in der Fachliteratur erstmals in dieser Form ausgearbeitet. Positiv hervorzuheben ist neben der außerordentlich umfangreichen Rezeption von Fachliteratur der hohe Praxisbezug, der in zahlreichen Fallvignetten zum Tragen kommt. Leicht irritierend und nicht immer unmittelbar nachzuvollziehen sind die Beispiele aus der eigenen Frühförderpraxis der Autorin. Zu empfehlen wäre zudem die häufige Verwendung der Formulierung „Ausleben von Partnerschaften“ zu ersetzen durch „Erleben von Partnerschaften“.
Fazit
Die vorliegende Veröffentlichung ist uneingeschränkt sowohl Fachkräften aus der Praxis als auch Vertreter*innen der Fachdisziplinen an Universitäten und Hochschulen sowie Studierenden zu empfehlen. Das Kapitel zu professionellem Handeln könnte und sollte unabhängig von der Thematik Sexualität und Partnerschaft Eingang finden in den Diskurs zur heilpädagogischen Professionalität.
Rezension von
Prof.in Dr.in Ulrike Mattke
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