Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Professionalisierung
Rezensiert von Thomas Barth, 24.01.2024
Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Professionalisierung. Diagnostik von Lehr-Lern-Prozessen und evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung.
Klett-Kallmeyer
(Hannover) 2022.
400 Seiten.
ISBN 978-3-7727-1684-3.
D: 39,95 EUR,
A: 39,95 EUR.
Reihe: Schule weiterentwickeln - Unterricht verbessern. Orientierungsband.
Thema
In der aktuellen PISA-Studie 2023 erzielte Deutschland die bislang schwächsten Ergebnisse und bei der Ursachenanalyse ist der Beitrag der Bildungsforschung gefragt. Die PISA-Studien der OECD (dem „Club der reichen Länder“) werden seit der Jahrtausendwende im Dreijahrestakt durchgeführt. Sie sollen alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten 15-jähriger Schüler*innen messen und vergleichen. PISA bekam große Medienaufmerksamkeit, was zur sogenannten „empirischen Wende“ der Bildungspolitik führte. 2009 kam auf ähnliche Weise mit der Hattie-Studie ein weiterer Treiber quantitativ-empirischer Bildungsforschung hinzu, deren hier von Helmke aktualisierte Diagnostik seit zwei Dekaden immer tiefer in Bildungswesen und Schulalltag integriert wird. Kritiker sehen die Gefahr einer Abkehr vom klassischen wie auch kritischen Bildungsgedanken hin zu einer auf Ausbildung im Sinne wirtschaftlicher Verwertbarkeit zielenden Bildungspolitik und verweisen auf die -selbst nach deren eigenen Maßstäben- bescheidenen Erfolge der „evidenzbasierten“ Unterrichtsentwicklung -siehe die aktuellen PISA-Ergebnisse. Nicht oder „nur marginal“ geht es in Helmkes Buch um konkret verbesserte Unterrichtsmethoden.
Autor und Entstehungshintergrund
Prof. em. Andreas Helmke lehrte Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie an der Universität Koblenz-Landau. Als Experte für „Schulische Leistungsangst“ (1983), Unterrichtsqualität und Nestor des PISA-Prozesses berät er vor allem in Deutschland und der Schweiz Bildungsministerien und Qualitätsagenturen. Er ist international u.a. auch als Consultant des vietnamesischen Erziehungsministeriums tätig. Mit Franz E. Weinert (dem er den vorliegenden Band widmet) entwickelte Helmke das „Angebots-Nutzungs-Modell zur Erklärung des Lernerfolgs“ seines Doktorvaters Helmut Fend weiter, das den PISA-Studien zugrunde liegt (S. 77). Weinert und Helmke arbeiten seit den 80er-Jahren an bildungsdiagnostischen Studien und Instrumenten wie VERA und dem DESI der KMK (S. 90). Durch seine Tätigkeit in der Lehrerfortbildung und mit mehreren Standard-Lehrbüchern zu Unterrichtsqualität und „Lehrerprofessionalität“ nahm Helmke im Sinne der auch von ihm geforderten „empirischen Wende“ maßgeblichen Einfluss (vgl. Rezension vom 02.03.2010 zu: Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität). Der vorliegende Band schreibt diese Lehr- und Forschungstätigkeit unter neuem Titel in stark überarbeiteter Struktur und unter Berücksichtigung neuer Faktoren wie Digitalisierung, Neuropädagogik und Gender-Sensibilität fort. Er richtet sich an Lehrer*innen sowie an die Bildungsministerien, Schulaufsicht und Qualitätsagenturen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch untergliedert sich in sechs Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln:
- Einleitung;
- Lehren und Lernen: Theorien, Forschungsstrategien, Konzepte;
- Professionalität;
- Unterrichtsqualität;
- Erfassung der Unterrichtsqualität;
- Evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung.
Es geht dem Autor um eine umfassende Darstellung der evidenzbasierten Unterrichtsforschung, also um eine „Sichtbarmachung des Lehrens und Lernens durch… Methoden der Diagnostik und Selbstevaluation“, die er als „dauerhafte Herausforderung“ für die Professionalisierung des Lehrberufes sieht (S. 19). Im Vergleich zu zwei früheren Standardwerken des Autors (die zahlreiche Auflagen erfuhren) finden sich neue Ergebnisse auch zu den Bedingungen lernförderlichen Feedbacks, zur kognitiven Aktivierung und zu den digitalen Kompetenzen von Lehrpersonen und Lernenden. „Lernwirksamer Unterricht“ und „erfolgreiche Lehrpersonen“ sind Ziele der evaluierenden Diagnostik. Bezüglich der (aus Perspektive von OECD und PISA anvisierten) Bildungsziele fragt Helmke: „Was bewirkt der Unterricht für das Leben nach dem Ende der Schulzeit, das heißt für die Bewältigung der Anforderungen des Berufs und des Studiums?“ (S. 32).
Kapitel 2 führt „Lehr- und Lerntheorien“ aus, die in Forschungsstrategien und Konzepten auf eine Hauptfrage an die Unterrichtsqualität hin zugespitzt werden, die Helmke von Hattie zitiert: „What was the impact, with whom, about what and how efficiently?“ (S. 21). Besonders die Effizienz im Blick arbeitet Helmke sich durch Behaviourismus, Kognitivismus, Sozialkonstruktivismus über das eingangs erwähnte Helmke-Weinert-Modell des Unterrichts (PISA) bis hin zu Kulturvergleichen wie der München-Hanoi-Studie (2002) von Helmke und Tuyet Vo, die heute als Tuyet Helmke seine Ehefrau ist (so Helmke auf S. 97).
Kapitel 3 „Professionalität“ behandelt das, was früher „Lehrerprofessionalität“ und noch früher „Lehrerpersönlichkeit“ genannt wurde. Helmke beginnt mit der kulturvergleichenden Kritik an der offenbar spezifisch deutschen Bewertung des Prädikats „oberlehrerhaft“ bzw. „lehrerhaft“: Aus anderen Kulturen seien ihm „keine ähnlich negativ konnotierten Begriffe“ bekannt (S. 105). Dies zeige mangelnden Respekt der Schule und den Lehrer*innen gegenüber, was für ihn einer der Gründe für das schwache Abschneiden hiesiger Schüler etwa bei PISA ist. Die Lehrpersonenforschung schaue inzwischen jedoch nicht mehr auf die „Persönlichkeit“, sondern auf Kompetenzen und Orientierungen. Die KMK etwa definiere vier Schlüsselkompetenzen der Lehrertätigkeit: Unterrichten, Erziehen, Beurteilen, Innovieren (S. 125).
Kapitel 4 „Unterrichtsqualität“ ist mit 100 Seiten das umfangreichste und basiert empirisch auf Studien wie PISA, DESI, VERA, TIMSS, PIRLS sowie Meta-Analysen wie seit 2009 besonders der Hattie-Studie (S. 144). Behandelt werden in eigenen Kapiteln „Klassenführung (classroom management)“, „Klarheit, Verstehbarkeit, Verständlichkeit“, „Kognitive Aktivierung und Unterstützung“, „Konsolidierung, Festigung“, „Motivierung, lernförderliches Klima“, „Kompetenzorientierung“ sowie „Passung“ -letztere ziele als Metaprinzip auf die heute geforderte Individualisierung von Lernangeboten. „PISA und IGLU haben wiederholt gezeigt, dass das Kompetenzgefälle zwischen Schülergruppen unterschiedliche familiärer und sprachlicher Herkunft in Deutschland außerordentlich hoch ist, verglichen mit Ländern, die es schaffen, soziale Disparitäten gering zu halten.“ (S. 221) Große Chancen für verbesserte Individualisierung der Lernangebote sieht Helmke in Computern und Digitalisierung (S. 232), aber ohne zu erklären, warum diese nach 25 Jahren Internet nicht längst ausgebaut wurden -und ohne Kenntnis qualitativer Forschung zur Digitalisierung (vgl. Rezension vom 22.12.2023 zu: Klaus Grabska, Angela Mauss-Hanke, J. Utz Palußek, Falk Stakelbeck (Hrsg.): Virtuelle Berührung – zersplitternde Realität).
Kapitel 5 „Erfassung der Unterrichtsqualität“ präsentiert quantitative Forschung von den Gütekriterien über Akteure und Instrumente wie PISA, VERA, DESI sowie die Unterrichtsbeurteilung durch Lehrpersonen und „Schülerfeedback“ bis zur Unterrichtsbeobachtung mittels Rating, Video-Aufnahmen inklusive Eye-Tracking. Bezüglich der Lehrperson heißt es: „Die Rangordnungs- oder Korrelationskomponente ist das Kernstück der diagnostischen Kompetenz, weil sie die Fähigkeit umfasst, die Rangordnung bzw. Fähigkeitsabstufung zwischen verschiedenen Lernenden zutreffend zu erkennen“ (S. 251).
Kapitel 6 „Evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung und Professionalisierung“ geht es um die praktische Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse zur Verbesserung des Unterrichts und der „gegenwärtigen Lehrerausbildung“, die, laut Helmke, insbesondere wegen mangelnden Praxisbezugs kritisiert würde (S. 292). Ausgehend von einem zyklischen Verlaufsmodell (Information-Rezeption-Reflexion-Aktion-Evaluation-) geht es um Lehrerfortbildung, Programme wie LUUISE (Lehrpersonen unterrichten und untersuchen integriert, sichtbar und effektiv) bis zur Unterrichts-Videografie. Ein abschließender Ausblick (Kap.7) fasst zusammen und endet unter Verweis auf Hattie mit Weinerts fünf Thesen zur Qualität guten Unterrichts von 1998, die neben Didaktik und Klassenführung v.a. auch die diagnostische Kompetenz betonen. Weinert habe sich „immer wieder gegen die Vereinnahmung durch Ideologien, Heilslehren und Verabsolutierung einzelner Unterrichtsstile gewandt“ (S. 350).
Diskussion
Laut Verlag enthält der Band eine „kritische“ Bilanz der Hattie-Studien „Visible Learning“ und „Visible Learning for Teachers“. Tatsächlich finden sich im ganzen Buch zahlreiche Verweise auf die Hattie-Studie, aber ihre kritische Beleuchtung bleibt dürftig. Eher geht es Helmke darum, Hattie gegen Missverständnisse, ja „Missbrauch“ seiner Ergebnisse zu verteidigen. Im betreffenden Kapitel „Von Einzelstudien zu Meta- und Mega-Analysen: die Hattie-Studie“ gibt Helmke allenfalls im Unterkapitel „Grenzen der Aussagekraft und verbreitete Missverständnisse“ einige Schwächen der Hattie-Studie zu erkennen: Der Neuseeländer Hattie habe einen anglophonen bias, habe auch betagte Studien verwendet und seine Studien nicht nach Stichprobengröße gewichtet, sondern nur nach methodischer Qualität (S. 49). Aber vor der Fehlinterpretation eines simplen „Stellschraubendenkens“, das in „Ranking“-Listen der Wirkfaktoren nach schnellen Lösungen suche, habe Hattie selbst gewarnt. „Ideologien“ vermutet Helmke (mit Weinert) bei Sozialkonstruktivisten, Apologeten der offenen Teamarbeit, der „progressive education“ (S. 33, 53, 231), aber nicht hinter den PISA-Studien der OECD. Kritisch könnte man dort jedoch nach einer Ideologie namens „Neoliberalismus“ (vgl. Rezension vom 21.11.2023 zu: Jürgen-Michael Reimer: Der absurde Kapitalismus) fragen, die westliche Gesellschaften an Wünschen der Unternehmen ausrichtet und den Bildungssektor dabei seit 50 Jahren zugleich finanziell aushungert und ideologisch vereinnahmt. Man kann andererseits, wie Helmke, Konzernstiftungen etwa von Vodafon (S. 214) und die für ihre neoliberalen Bildungs-Rankings bekannte Bertelsmann-Stiftung (S. 305), Firmen wie den Beratungskonzern McKinsey (ebd.), Wacker Chemie (S. 201) oder IBM (S. 202) ideologisch unreflektiert zitieren, Industrie- und Handelskammern zum Maßstab der Berufsbezogenheit von Schulbildung machen (S. 29). Man könnte aber auch z.B. Sozialverbände fragen, ob sie soziale Werte und Kompetenzen ausreichend vermittelt sehen, oder Künstler- und Schriftstellerverbände, wie es um ästhetische-, Menschenrechtler und Klimaschützer, wie es um politische Kompetenzen steht. Dafür wären evtl. dann auch verstärkt qualitative Forschungsmethoden gefragt (vgl. Rezension vom 27.12.2023 zu: Maria Kondratjuk u.v.m.: Qualitative Forschung auf dem Prüfstand), die Helmke in nur einem einzigen Absatz seines voluminösen Bandes mit dem generösen Zugeständnis abhandelt, quantitative Forschung sei „nicht per se“ qualitativen Analysen überlegen (S. 40).
Fazit
Der didaktisch mustergültig aufbereitete Band liefert einen umfassenden Überblick über den Stand der Entwicklung der evidenzbasierten Diagnostik von Lehr-Lern-Prozessen zur Verbesserung der Unterrichtsqualität. Schwerpunkt sind die derzeit seit PISA und Hattie die Bildungspolitik und Schulpraxis dominierenden quantitativen Methoden der Bildungsforschung, die gegen Kritik verteidigt und als bildungspolitisch handlungsleitend vertreten werden. Eine kritische Reflexion dieses Ansatzes findet jedoch kaum statt.
Rezension von
Thomas Barth
Dipl.-Psych, Dipl.-Krim.
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Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Barth.
Zitiervorschlag
Thomas Barth. Rezension vom 24.01.2024 zu:
Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Professionalisierung. Diagnostik von Lehr-Lern-Prozessen und evidenzbasierte Unterrichtsentwicklung. Klett-Kallmeyer
(Hannover) 2022.
ISBN 978-3-7727-1684-3.
Reihe: Schule weiterentwickeln - Unterricht verbessern. Orientierungsband.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31743.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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