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Georg Auernheimer: Die strategische Falle

Rezensiert von Johannes Schillo, 01.03.2024

Cover Georg Auernheimer: Die strategische Falle ISBN 978-3-89438-822-5

Georg Auernheimer: Die strategische Falle. Die Ukraine im Weltordnungskrieg. PapyRossa Verlag (Köln) 2024. 191 Seiten. ISBN 978-3-89438-822-5. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR.
Reihe: Neue Kleine Bibliothek - 335.

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Thema

Thema des Buchs ist der Krieg in der Ukraine. Dabei geht es vor allem um die strategischen Kalkulationen der direkt und indirekt beteiligten Parteien, um die Frage, wie sie zu dem gewaltsam ausgetragenen Konflikt geführt haben, und um dessen Auswirkungen auf die bestehende Weltordnung.

Autor

Der Erziehungswissenschaftler Dr. Georg Auernheimer war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Interkulturelle Pädagogik an der Universität zu Köln, wo er die dortige Forschungsstelle für interkulturelle Studien mitbegründete.

Entstehungshintergrund

Der Autor hat bereits 2023 die Studie „Der Ukraine-Konflikt – Wie Russlands Nachbar zum Kriegsschauplatz wurde“ vorgelegt, die die Vorgeschichte des Konflikts ins Blickfeld rückte. Die neue Veröffentlichung stellt dies in einen größeren Kontext, hält aber an dem Programm fest, speziell Sachverhalte zu thematisieren, die in der westlichen bzw. deutschen Öffentlichkeit eher ausgeblendet werden.

Aufbau und Inhalt

In einer kurzen Einleitung macht der Autor die Zielsetzung seiner Analyse deutlich. Sie will das NATO-Narrativ vom „unprovozierten Angriffskrieg“ Russlands, der dessen imperiale Pläne eines weltweiten Eroberungsfeldzugs offenbart habe, kritisch befragen und dabei besonders die Kalkulation der USA berücksichtigen, die in und von der Ukraine einen „Stellvertreterkrieg mit nicht ganz klaren Kriegszielen“ (S. 8) führen ließen.

Das erste Kapitel blickt auf die Vorgeschichte zurück, indem es die weltpolitische Ausgangssituation anhand der Rolle der drei Akteure Russland, BRD/EU und USA untersucht. Auernheimer rekapituliert die Entwicklung seit der Abdankung des realsozialistischen Ostblocks, die für den russischen Staat unter Jelzin eine destruktive Auslieferung an Marktkräfte und eine nachfolgende – im Westen zunächst begrüßte – Stabilisierung unter Putin bedeutete. Für die BRD bot sich hier in Fortsetzung einer Linie aus dem Kalten Krieg die Chance, durch wirtschaftliche Verflechtung auf eine benützbare und somit – flankiert durch die außenpolitische Wucht der EU – in die eigenen Ansprüche eingeordnete östliche Großmacht hinzuarbeiten. Dies war jedoch Teil der NATO-Strategie, deren Führungsmacht USA um Durchsetzung und Erhalt der eigenen globalen Vormachtrolle kämpfte, sodass sich, wie auch Stimmen aus der US-Elite bezeugen (S. 23, 28), eine Rivalität zu dem kontinentalen Vereinigungsprozess ergeben habe: „Das US-Establishment verfolgte seit Langem mit Besorgnis die europäisch-russischen oder deutsch-russischen Gemeinschaftsprojekte.“ (S. 27) Im Endeffekt habe sich so das politische Subjekt „der Westen“ wieder in die Frontstellung gegen eine russische Macht begeben, die zwar marktwirtschaftlich gewendet, aber politisch-militärisch zu anspruchsvoll war. Die Frontbildung vollzog sich vor allem durch die NATO-Osterweiterung, die in Moskau als Vertrauensbruch empfunden wurde. Für die US-Politik war diese Strategie die konsequente Fortsetzung der Blockkonfrontation; so sah schon während der Jelzin-Ära der ehemalige Sicherheitsberater Brzeziński die Notwendigkeit, „die Ukraine der Russischen Föderation zu entziehen“ (S. 43).

Das zweite Kapitel resümiert die Vorgeschichte konkret am Fall der Ukraine, die vom Westen systematisch aufgerüstet und scharf gemacht und so in die Rolle eines kriegerischen Stellvertreters eingewiesen worden sei. Für Russland und dessen Anspruch, seine Sicherheitsbedürfnisse autonom zu definieren, sei dies der Ernstfall gewesen, auf den Putin nach langem Zögern mit seiner „Spezialoperation“ reagiert habe, die den eigenen Einfluss im nahen Ausland sicherstellen sollte. Sein Versuch, die Unsicherheit an der Westgrenze durch eine niedrig angesetzte Intervention zu beseitigen, habe dem Kalkül des Westens entsprochen; dieser habe Russland letztlich wie beim Afghanistankrieg – wo Brzeziński diese Redeweise prägte – „in eine Falle gelockt“ (S. 48). Der Bruch des Völkerrechts führte dann zu einem veritablen Krieg, auf den die Ukraine bestens vorbereitet war und den das Kiewer Regime, so Auernheimers Nachweis, im Grunde schon mit dem „Staatsstreich“ des Euro-Maidan (S. 75) und dem nachfolgenden Bürgerkrieg gegen die abtrünnigen Provinzen im Osten eingeleitet hatte. Dabei habe es in dieser Stellvertreterrolle, ausgestattet und dirigiert von EU- oder US-Politikern, seine eigenen Chancen wahrgenommen, da eigentlich „erst die russische Invasion die Ukrainer zur Nation gemacht“ habe (S. 49). Über deren aggressiven Nationalismus und seine zahlreichen Opfer bei der bürgerkriegsmäßig betriebenen Entrussifizierung – Sachverhalte, die in der deutschen Öffentlichkeit meist vernachlässigt würden – informiert dann der Rest des Kapitels. Auernheimer erinnert daran, dass die ukrainische Führung kein Interesse hatte (und auch vom Westen nicht dazu gedrängt wurde), Minsk II umzusetzen, und zieht den Schluss: „Das Scheitern der Vereinbarungen von Minsk war vermutlich der wichtigste Anlass für den russischen Angriff.“ (S. 86)

Im dritten Kapitel wird dann der Kriegsverlauf bis zum Herbst 2023, also bis zum Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive und bis zum Übergang in den Stellungs- bzw. Abnutzungskrieg, geschildert. Auernheimer geht im Blick auf die westliche Anleitung und Munitionierung der Ukraine der Besonderheit dieses „Stellvertreterkriegs“ (S. 101) nach. Dazu gehören die Unterschiede bei dem Einfluss nehmenden Staaten, die sich etwa in den mehr oder weniger massiven Interventionen zur Fortführung des Krieges zeigten (ein Unterfall davon: die Sonderrolle Großbritanniens); ferner zählen dazu „strittige Kriegsziele“ (S. 133) in der westlichen Bündniskonstellation. Die Streitpunkte zeigten sich auch in der politischen Klasse der USA, wo davor gewarnt wird, dass man über den Ukrainekonflikt den eigentlichen Gegner in Fernost, den „Systemrivalen“ China, vergessen könnte. Der Wille zum Krieg sei aber im Westen die eindeutige Gemeinsamkeit, abzulesen auch am Wirtschaftskrieg, der, so die deutsche Außenministerin, „Russland ruinieren“ (S. 133) solle. Außerdem bringt das Kapitel einen Exkurs zu den Kriegsverbrechen, die in der westlichen Kriegspropaganda fast ausschließlich der russischen Seite angelastet werden.

Das vierte Kapitel bilanziert das bisherige Ergebnis des Krieges und belegt damit die Einstufung des Konflikts als „Weltordnungskrieg“: Eine neue – die alte antisowjetische Linie fortsetzende – Blockbildung bestimme heute den Globus und eröffne die Perspektive eines Dritten Weltkriegs, der dann die VR China als den eigentlichen Rivalen der US-Suprematie ins Visier nehme. Die atomare Gefahr wachse, aber auch die Klimakatastrophe rücke immer näher, wozu Auernheimer zahlreiche Informationen über die enormen Klimaschäden durch Militär und Rüstung beiträgt. Scheinbar unaufhaltsam arbeite dem eine Militarisierung der Gesellschaft und der Öffentlichkeit zu – gerade auch in Deutschland, für das ja offiziell eine „Zeitenwende“ angesagt wurde. Gegenkräfte macht Auernheimer in Stellungnahmen und Interventionen des „globalen Südens“, hier vor allem bestärkt durch China, aus, wobei er realistischerweise die konkurrierenden politischen und ökonomischen Interessen benennt.

Hinweise für eine „abschließende Diskussion“ bietet das kurze fünfte Kapitel. Es macht Probleme bei der Einordnung der Kriegsparteien deutlich und hält noch einmal den entscheidenden Punkt der vorausgegangenen Analyse fest, dass es den USA gelungen sei, „Russland zu dem Angriff auf die Ukraine zu provozieren“ (S. 177). Zugleich wird hier deutlich, dass hinsichtlich der unterschiedlichen Triebkräfte der Konfliktdynamik – die im Grunde ja alle relevanten Akteure auf dem Globus einbezieht – weitere Analysen notwendig sind.

Diskussion

Auernheimers Buch nimmt sich die – eigentlich selbstverständliche – Freiheit, den aktuellen Krieg in der Ukraine nicht vom Standpunkt einer der Kriegsparteien bzw. ihrer Propaganda zu analysieren, sondern als ein komplexes Geschehen, das in vieler Hinsicht Klärungsbedarf aufweist und Fragen nach den Motiven und Triebkräften der Beteiligten aufwirft. Leider gehört er damit schon fast zu den Außenseitern im deutschen Wissenschaftsbetrieb, wo auf die nationalmoralische Leitlinie der Einordnung des Krieges Wert gelegt wird. (Analoge Tendenzen der Formierung der öffentlichen Diskussion sind auch in der Ukraine oder in Russland zu beobachten, was Auernheimer etwa am nationalistischen Aufschwung in beiden Ländern thematisiert.) Dass es sich um einen Weltordnungskrieg handelt, in dem die Ukraine als – selbstbewusster – Stellvertreter agiert, kann die Studie in überzeugender Weise darlegen. Hier dürfte sie auch am wenigsten Widerspruch bei den Parteigängern des westlichen Narrativs hervorrufen. Die globale Dimension wird dem regionalen Konflikt ja mittlerweile allseits attestiert, wobei jedoch wieder eine moralisch vereinfachende Fassung bevorzugt wird. Demnach soll einem werte- und regelbasierten Westen ein tief sitzender russischer Eroberungswille gegenüberstehen. Kurz gefasst: Demokratie versus Autokratie.

Auernheimer bestreitet mit fundierter Argumentation diese Schwarzweiß-Malerei. Er verharmlost nicht die Brutalität, mit der die russische Seite vorgeht, weist auch immer wieder – neben den gigantischen Umweltschäden, die er ausführlich bespricht – auf das Eskalationspotenzial des Krieges hin, das zur atomaren Katastrophe führen könnte. Er betont aber durchaus die unterschiedlichen Positionen, aus denen heraus die weltpolitischen Akteure antreten: auf der einen Seite die USA mit ihrem Anspruch auf eine weltweite Vormachtrolle, die das „America first!“ gegen neue (und alte) Rivalen behaupten wollen und dazu ihr NATO-Bündnis benützen, und auf der andern die Russische Föderation, die sich angesichts drohender Machtlosigkeit zur Behauptung ihres Status aufgerufen fühlt und sich deswegen in eine strategische Falle locken lässt. Die Defensive, die man auf russischer Seite feststellen kann, versteht Auernheimer dabei nicht als Entschuldigung: „Russland hätte diesen Krieg nie beginnen dürfen. Aber in der Logik eines Systems konkurrierender Staaten kann es sich keine Regierung leisten, bei ihren Entscheidungen Rücksicht auf das Schicksal der Menschheit zu nehmen“ (S. 172).

Um die Logik dieses Konkurrenzsystems zu erfassen und damit eine theoretisch fundierte Kritik am eingerichteten Staatenverkehr auf den Weg zu bringen – woraus sich erst die Möglichkeit einer grundsätzlichen Änderung ergäbe –, müsste hier die Analyse fortgeführt werden. Insofern schließt das Schlusskapitel die Diskussion nicht ab, sondern formuliert weiteren Bedarf. Ohne eine solche Klärung bliebe man bei vagen Hoffnungen stehen, wie sie Auernheimer aus der Diskussion um die nächste Frontbildung in Fernost mitteilt: „Vielleicht kann die erstarkenden VR China den Raum schaffen für eine Politik des Friedens und der Nachhaltigkeit“ (S. 173). Die vorgelegte Studie, die Auernheimers vorausgegangene Analyse der Vorgeschichte des Krieges auf erweiterter Grundlage fortsetzt, hat hierzu das relevante Material aufbereitet.

Das Buch bietet – gestützt auf Fachliteratur und zahlreiche Quellen – eine faktengesättigte, gut lesbare Analyse der Konfliktdynamik, die zum Ukrainekrieg geführt und seitdem eine neue Blockbildung in Gang gesetzt hat. Es wendet sich gegen eine vorgängige moralische Einordnung des Geschehens, die angesichts von Putins Völkerrechtsbruch dessen (Neo-)Imperialismus als Quelle allen Übels dingfest und die Parteinahme für die NATO zur verbindlichen, auch analytischen Leitlinie macht. Die zentrale These vom Stellvertreterkrieg, der um Fragen der Weltordnung geführt wird, trägt es gut begründet vor, geht auch auf alle Weiterungen ein, die die Länder des „globalen Südens“ und speziell die Volksrepublik China betreffen. Zugleich ist es ein Plädoyer dafür, mit unvoreingenommener wissenschaftlicher Analyse gegen die zunehmende Militarisierung und Umweltzerstörung, die gerade durch das Militär betrieben wird, Stellung zu beziehen.

Fazit

Auernheimers Studie steuert eine konzise und aktuell ausgerichtete Konfliktanalyse zur Diskussion um den Ukrainekrieg bei. Sie setzt sich mit gängigen Rechtfertigungsmustern auseinander und bezieht dabei vor allem die Vorgeschichte mit ein. Wichtig sind ihr auch die Auswirkungen auf die bestehende Weltordnung und auf die globale Problemlage.

Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Es gibt 23 Rezensionen von Johannes Schillo.

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ISSN 2190-9245