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Thomas Meyer, Gunda Voigts (Hrsg.): Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit

Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger, 31.05.2024

Cover Thomas Meyer, Gunda Voigts (Hrsg.): Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit ISBN 978-3-7799-7272-3

Thomas Meyer, Gunda Voigts (Hrsg.): Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit. Anspruch, Realität, Visionen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 357 Seiten. ISBN 978-3-7799-7272-3. D: 45,00 EUR, A: 46,60 EUR.

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Thema

Die aktuelle Reform des SGB VIII zielt in wesentlichen Aspekten darauf ab, die Kinder- und Jugendhilfe inklusiver zu gestalten und Teilhabeperspektiven, insbesondere für Kinder- und Jugendliche mit Behinderung, zu verbessern. Die Gesetzesnovelle betont die Notwendigkeit, dass alle Kinder und Jugendlichen – unabhängig von ihren individuellen Voraussetzungen – gleichermaßen von den Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe profitieren sollen.

Traditionell lag die leistungsrechtliche Zuständigkeit für Kinder und Jugendliche mit sogenannten Lernschwierigkeiten, mit Sinnesbehinderungen oder körperlich-motorischen Behinderungen im Bereich der Eingliederungshilfe und somit bei den Sozialhilfeträgern. Adressatinnen und Adressaten mit primär eher seelischen, psychischen Behinderungen und junge Menschen ohne diagnostizierte Behinderung waren den Jugendhilfeträgern zugeordnet. Trägerübergreifende Kooperationen und damit aufeinander abgestimmte, bedarfsgerechte Unterstützungsleistungen für die Betroffenen werden durch diese strukturellen Rahmenbedingungen sicher erschwert (vgl. S. 11).

Folglich hatten (und haben) die professionell helfenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus der Kinder- und Jugendarbeit wenig oder keine Berührungspunkte mit jungen Menschen mit Behinderung. Die inklusive Öffnung der Kinder- und Jugendarbeit kann – so die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes – eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention zukommen, weil unterschiedliche Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit zusammenkommen und so eine neue Form des Miteinanders erleben. Im Weiteren werden außerschulische Bildungsangebote für junge Menschen mit Behinderungserfahrung besser zugänglich, was wiederum deren Bildungs- und Entwicklungsperspektiven positiv beeinflussen dürfte (S. 11 f.).

Mit dem vorliegenden Buch wollen die Herausgebenden Thomas Meyer und Gunda Voigts „Mut machen, sich für die Teilhabe von jungen Menschen mit Behinderung in der Praxis wie in der Interessenvertretung der Kinder und Jugendarbeit einzusetzen …“ und „Lust darauf machen, Inklusion als Gestaltungsprinzip und Element von Konzeptions- und Organisationsentwicklung zu entdecken“ (S. 13).

Herausgeber:innen

Die Herausgebenden des umfangreichen Sammelbandes vereinen Texte von nicht weniger als 35 Autorinnen und Autoren, die im Autor:innenverzeichnis kurz in ihren Funktionen in Lehre und Praxis benannt sind.

Dr. Thomas Meyer ist Professor für Praxisforschung in der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Er leitet dort den Studiengang: Kinder- und Jugendarbeit und publizierte vielfältig, z.B. zur Kinder- und Jugendarbeit, zum Berufseinstieg in der Sozialen Arbeit oder dem persönlichen Budget für Menschen mit Behinderung.

Dr. Gunda Voigts lehrt und forscht als Professorin für Theorien Sozialer Arbeit und Theorie und Praxis der (Offenen) Kinder- und Jugendarbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg. In unterschiedlichen Forschungsprojekten und Publikationen widmet sie sich unterschiedlichsten Aspekten der Kinder- und Jugendarbeit.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband gliedert 37 unterschiedlich lange Textbeiträge in sechs Themenschwerpunkte:

  1. Grundlagenartikel
  2. Sichtweisen aus der Kinder- und Jugendarbeit
  3. Sichtweisen aus der Behindertenhilfe
  4. Forschungsergebnisse
  5. Projekte und Erfahrungen aus der Praxis
  6. Inklusionschecks

Die Herausgebenden verfassen neben eigenen inhaltlichen Beiträgen eine gemeinsame Einführung und abschließende, ausblickende Thesen auf dem Weg.

Gunda Voigts ist der erste Grundlagenartikel vorbehalten. Sie beschreibt die Kinder- und Jugendarbeit aus dem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien und greift dabei gleichermaßen Entwicklungen, Herausforderungen und Zukunftsvisionen nach 15 Jahren UN-BRK auf.

Skizziert sind die Entwicklung der Kinder- und Jugendarbeit als Teil einer nicht inklusiven Gesellschaft, die lange geltende Einengung des Inklusionsbegriffes für junge Menschen mit diagnostizierten Behinderungen oder die Einflüsse einer jugend- und finanzpolitischen Steuerung auf das Inklusionsverständnis.

Die Autorin schildert das Inklusionsdilemma, das sich aus dem neu formulierten § 11 SGB VIII ergibt, und verweist auf neue Handlungsformate, Praxisbeispiele sowie den Stand der Forschung zur Weiterentwicklung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit.

Als Resümee „gilt für die Weiterentwicklung inklusiver Kinder- und Jugendarbeit das, was mit Blick auf die (inklusive) Reform des SGB VIII derzeit insgesamt postuliert wird: Sie birgt die Chance einer nahezu revolutionär anmutenden Veränderung für die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt und damit vor allem für junge Menschen mit und ohne Behinderung und ihren Familien“ (S. 31).

Der Beitrag von Thomas Meyer zu Inklusion – Integration – Teilhabe diskutiert – so der Untertitel des Kapitels – zentrale Herausforderungen und Chancen einer inklusiven Kinder- und Jugendarbeit. Neben kurzen Erläuterungen zu den sich aus § 11 SGB VII ergebenden gesetzlichen Forderungen zur Umsetzbarkeit von Inklusion betrachtet der Verfasser zentrale Aspekte, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, und verbindet diese mit soziologischen und pädagogischen Perspektiven. Als Fazit besitzt nach Thomas Meyer die Kinder- und Jugendarbeit eine hohe Bedeutung für die gesamtgesellschaftliche Umsetzung von Inklusion. Als „Motor“ dieser Veränderung kann dieses Arbeitsfeld aber nur fungieren, wenn entsprechende Ressourcen für diesen Auftrag bereitgestellt werden (S. 41 ff.).

Dr. Clemens Dannebeck von der Hochschule Landshut beschreibt Krisenzeiten. Inklusionsorientierte Kinder- und Jugendarbeit in gesellschaftlicher Verantwortung. Thematisiert werden u.a. die Pandemiebekämpfung, der Klimawandel oder die Auswirkungen von Flucht und Migration. Diese Fülle an gegenwärtigen Herausforderungen braucht nicht nur eine inklusionsorientiert motivierte Kinder- und Jugendarbeit, sondern die Profession der Sozialen Arbeit im Allgemeinen, die sich ja als politische Menschenrechtsprofession versteht (S. 53 f.).

Dr. Dr. Christian Bernzen von der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berling erweitert die Grundlagen um Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit – rechtliche Aspekte. Zentral diskutiert werden das SGB VIII und die spezifischen Reglungen der §§ 11 ff. sowie deren Verbindungen mit dem SGB IX. Aus Sicht von Christian Bernzen formuliert eine zugängliche Jugendarbeit im Kontext der gesetzlichen Neuregelungen primär, „wie und warum sie für Menschen mit Behinderung attraktiv sein kann, was sich in und mit ihr erleben und gestalten lässt und wie wenig Hürden es zu ihren Angeboten gibt“ (S. 61).

Dr. Reinhard Markowetz – Professor für Pädagogik bei Verhaltensstörungen und Autismus einschließlich Inklusiver Pädagogik – widmet sich der Freizeit von jungen Menschen mit Behinderungen. Freizeit als Lebenszeit ist berechtigterweise etwas, wo Menschen mit Beeinträchtigungen die gleichen Bedürfnisse wie alle Menschen entwickeln. Um Freizeit als sinnentdeckende, sinnstiftende und sinnbefriedigende Lebenszeit für sich zu entdecken, braucht es Bildungsangebote und entsprechende Assistenz für die Menschen mit Behinderung, wodurch ein verstärkt zu beachtender Arbeitsbereich für die Pädagogik entsteht.

Dr. Christian Lüders – Abteilungsleiter „Jugend und Jugendhilfe“ im Deutschen Jugendinstitut – vermittelt einen Einblick in die Sichtweisen von Inklusion in den Kinder- und Jugendberichten der Bundesregierung. Ausgehend von den ersten acht Jugendberichten aus den Jahren 1965 – 1990 werden in einem – wie der Autor selbst schreibt „kuriosen Durchgang“ (S. 89) – Entwicklungen bis zum 16. Bericht aus dem Jahr 2020 aufgezeigt. Bedenklicherweise „dokumentieren die Berichte aufs Ganze gesehen, wie wenig die Kinder- und Jugendhilfe über die Lebenslagen junger Menschen mit Behinderung und die institutionellen Kontexte ihres Aufwachsens und die darin eingebetteten pädagogischen und fördernden Praxen weiß“ (S. 89 f.).

Das 2. Kapitel wird durch den Beitrag von Christian Weis und Lars Reisner zu Inklusion in Jugendverbänden aus der Sicht des Deutschen Bundesjugendrings eröffnet. Neben dem inklusiven Selbstverständnis der Jugendverbände thematisieren die Autoren unterschiedliche Ansprüche an die Kinder- und Jugendarbeit und das eigene professionelle Handeln (auch im Kontext der verbandlichen und gesellschaftlichen Realität). Mit Blick auf aktuelle Debatten und Herausforderungen wird u.a. die These vertreten, dass sich die gesetzliche Rahmung durch das SGB VIII für die Jugendverbände faktisch kaum verändert hat und dass es ggf. durchaus mit Sorge zu sehen ist, dass bei einigen öffentlichen Trägern teilweise Aktionismus vorherrscht (S. 100 f.).

Volker Rhode gibt – als Geschäftsführer des gleichnamigen Vereins – Einschätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendeinrichtungen zum Thema Inklusion wieder. Skizziert werden u.a. Einschätzungen zu den konzeptionellen Anfängen, eine aktuelle Bestandsaufnahme zu Arbeit und Selbstverständnis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder einige Einschätzungen zu Ansätzen vor Ort und in den Ländern sowie konzeptionelle, fachliche und räumliche Herausforderungen (auch im Zusammenhang mit der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung). Der Autor endet mit dem klaren Bekenntnis, dass „die Offene Kinder- und Jugendarbeit die Bedürfnisse und Bedarfe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen als gleichberechtigte Teilhabende in die Einrichtungen und Angebote aufnehmen“ muss (S. 113).

Dr. Peter Lautenbach’s Text ist mit Inklusion – Teilhabe und Vielfalt in der Deutschen Sportjugend überschrieben. Unverkennbar haben Spiel, Sport und Bewegung das Potenzial, Kinder und Jugendliche mit Behinderung in ihrer körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung positiv zu fördern. Ziel der Deutschen Sportjugend muss es demnach sein, die Mitgliedsorganisationen nicht nur für das Thema zu sensibilisieren, sondern sie aktiv dazu anzuregen, entsprechende Positionierungen und strukturelle, organisatorische oder personelle Veränderungen für ihren Bereich vorzunehmen (vgl. S. 115 f.).

Das Kapitel 2.4: Inklusion in der Jugendarbeit – Diskussionspapier gibt eine von der Arbeitsgemeinschaft der Kinder- und Jugendhilfe – AGJ veröffentlichte Positionierung wieder. Thematisiert wird, was mit Inklusion/​inklusiver Jugendarbeit gemeint ist, wie dieses Themenfeld aktuell ausgestaltet ist (dabei werden auch Praxisbeispiele beschrieben), wie es sein könnte und was dafür getan werden müsste, damit das gelingt. Das Diskussionspapier endet entsprechend mit konkreten, bedenkenswerten Hinweisen zu rechtlichen Änderungen oder Empfehlungen für Verantwortliche in Bund, Ländern und Kommunen wie auch Teams, Fachkräfte und die Wissenschaft.

Das Kapitel 2.5: Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit fördern und praxisnah gestalten – Orientierungen zur Umsetzung des § 11 SGB VII fast – im Sinne eines Orientierungspapiers – Perspektiven der Bundesarbeitsgemeinschaft Landesjugendämter zusammen. Neben gesetzlichen Grundlagen, Potenzialen und pädagogischen Konzepten für die Kinder- und Jungendarbeit sind konzeptionelle Handlungsempfehlungen entwickelt.

Das dritte Themenfeld der Sichtweisen aus der Behindertenhilfe beginnt mit dem Text von Helen Ghebremicael zu Kinder- und Jugendarbeit als selbstbestimmte Freizeitgestaltung junger Menschen mit geistiger Beeinträchtigung – Perspektiven der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Die Verfasserin benennt u.a. Teilhabebarrieren und verortet die inklusive Kinder- und Jugendarbeit als einen zwingend notwendigen Ort der Stärkung von Selbstbestimmung, Identitätsfindung, Partizipation und Teilhabe.

Der zweite Beitrag von Dr. Thomas Meyer umreißt Das Persönliche Budget – Chancen und Grenzen einer innovativen Finanzierungsmöglichkeit. Als ein zentrales Charakteristikum wird herausgestellt, dass durch das Persönliche Budget sogenannte „Dispositionsspielräume“ entstehen, wenn Menschen mit Behinderung bewilligte Teilleistungen als Geldbetrag zur (relativ) freien Verfügung ausgezahlt bekommen. Kurz dargestellt werden einige ausgewählte Befunde aus der Forschung und ggf. kaum berücksichtigte Potenziale (wie eine Finanzierung von Peer-Assistenz). Zusammenfassend kann das Persönliche Budget sicher durch mehr Aufklärung zur Funktionsweise und Beantragung des Instruments der Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung eine größere Nutzung erfahren und so Chancen für ein inklusiveres Leben der Betroffenen bieten. Kritisch zu bedenken wäre, dass das Persönliche Budget aber fehlende Strukturen und Angebote nicht kompensieren kann und eine „bezahlte“ Begleitung des Freizeitverhaltens von Menschen mit Behinderung auch moralisch diskutierwürdig ist (vgl. S. 167).

Dr. Deborah Lutz thematisiert Assistenzbeziehungen und deren Potenzial für eine inklusive Kinder- und Jugendarbeit. Ausgehend von empirischen Daten verdeutlicht die Autorin – auch über kurze Fallbeispiele – relevante personenbezogene und kontextbezogene Einflussfaktoren von Assistenzbeziehungen und entwirft Empfehlungen für eine inklusionsorientierte Assistenz in der Kinder- und Jugendarbeit.

Der Beitrag zu Familienunterstützender Dienst (FuD) als Beitrag zur selbstbestimmten Teilhabe von Jugendlichen in der Kinder- und Jugendarbeit stellt eine kurzfristige, individuelle und niedrigschwellige Unterstützungsleistung vor. Berit Wegner verdeutlicht zunächst die rechtliche Rahmung der Leistungen und die Einbettung in andere Angebote der Kinder- und Jugendarbeit. So haben Menschen mit Behinderung(en) unter anderem die Möglichkeit, an Freizeitaktivitäten teilzunehmen oder soziale Kontakte zu Menschen außerhalb familiärer Beziehungen zu pflegen (vgl. S. 181 f.).

Im vierten Themenschwerpunkt sind neun Berichte zu aktuellen, vielschichtigen Forschungsergebnissen in den Sammelband integriert:

  • Wissen über Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit – empirische Befunde aus den DJI-Befragungen von Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit (Dr. Andreas Mayrhofer und Dr. Liane Pluto)
  • Perspektiven junger Menschen mit Behinderung auf Ihre Freizeitgestaltung und Angebote der Offenen Jugendarbeit (Georg Austin Cliff und Dr. Shih-cheng Lin)
  • „Richtig niedrigschwellig für Leute mit Behinderung sind wir tatsächlich nicht …“ – Beteiligung junger Menschen mit Behinderungen in Einrichtungen Offener Kinder- und Jugendarbeit in Corona-Zeiten (Dr. Gunda Voigts)
  • Inklusive Gestaltungsstrategien in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – Evaluation des Projektes „Freiräume“ des Stadtjugendrings Bielefeld (Dr. Gunda Voigts)
  • „Mit den Augen von Jugendlichen – Was braucht inklusive Kinder- und Jugendarbeit“ – Erkenntnisse aus Expert:inneninterviews zur Situation in Hamburg (Juliana Petri und Dr. Gunda Voigts)
  • Inklusive Kinder und Jugendreisen (Judith Dubinski)
  • Kinder in Jugendverbänden im Kontext der gesellschaftlichen Debatten um Inklusion (Dr. Gunda Voigts)
  • Inklusion in der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg (DPSG) – zwischen inklusiven Kulturen und Praktiken (Laura Katharina Koch)
  • Perspektiven junger Menschen mit geistigen Behinderungen auf Angebote der Kinder- und Jugendarbeit. Erste Ergebnisse einer qualitativen Befragung von Jugendlichen in Hamburg und Ostholstein (Katharina Przybylski und Dr. Gunda Voigts)

Die qualitativen und quantitativen Kurzberichte zu den Studien zeigen in jedem Fall, dass das Themenspektrum inklusiver Kinder- und Jugendarbeit durchaus schon länger im Fokus des wissenschaftlichen Diskurses steht.

Das fünfte Kapitel vermittelt einen Einblick in Projekte und Erfahrungen aus der Praxis. Die zehn von Projektleitenden und Projektbeteiligten kurz vorgestellten Bereiche sind:

  • Modellprojekt „Zusammen? Geht doch! – Auftrag Inklusion in der evangelischen Kinder- und Jugendarbeit“ (Doris Klingenhagen und Pia Kuhlmann)
  • Projekte zur Förderung von Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit im Bayerischen Jugendring (BJR) (Frederike von Voigts-Rhetz)
  • Projekte zur Entwicklung kooperativer, inklusiver Angebote in der Kinder- und Jugendarbeit des Landesjugendrings Schleswig-Holstein (Diane Blötz und Anne-Gesa Busch)
  • „Leinen los“ für inklusive Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg (Katharina Przybylski und Kristina Krüger)
  • Die Projektfachstelle Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit in Baden-Württemberg (Matthias Nagel)
  • Forum Inklusion lebendig machen – Ein Netzwerkprojekt im Raum Bonn (Ruth Dobrinth)
  • Sensibilisierung im Team – Kinder- und Jugendförderung der Stadt Ludwigsburg(Franziska Marquardt)
  • Inklusive Ballschule des Bahlinger SC (Yannick Adler und Udo Wenzel)
  • „Das schönste Hobby der Welt“ – Jugendarbeit mit Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung in der Jugendfeuerwehr (Uwe Danker)
  • Next-Practice-Beispiele aus Esslingen: Assistenzpool und MitMachMomente (Bärbel Finkbeiner)

Auch, wenn die kompakten Projekt- und Praxisberichte verständlicherweise nur einen ersten Einblick in die konkrete Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung bieten können, zeigt sich auch im Kontext des Theorie-Praxis-Transfers eine durchaus große Vielfalt und Diversität bei der Umsetzung inklusiver Angebote.

Das sechste und letzte Kapitel soll die Praxisbetrachtungen um drei entwickelte und frei zugängliche Inklusionschecks erweitern.

Thomas Meyer skizziert Der INKLUMAT – der Index für die Jugendarbeit zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung. Dieser ab 2012 entwickelte Index adaptiert den Index für Inklusion, der bereits für Schulen und Kindertagesstätten eingesetzt wird, und verdeutlicht Handlungsempfehlungen für die Kinder- und Jugendarbeit in den Bereichen:

  • Inklusive Strukturen
  • Inklusive Kulturen
  • Inklusive Praxis

Gunda Voigts beschreibt Standortbestimmung und Inklusions-Check: Projekt „Auftrag Inklusion: Perspektiven für eine neue Offenheit in der Kinder- und Jugendarbeit“. Ausgehend von einer kurzen Standortbestimmung benennt die Autorin zwölft Fakten für den Weg zu inklusiven Gestaltungsprinzipien in der Kinder- und Jugendarbeit.

Andrea Heinz – Fachreferentin bei der Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Offene Kinder- und Jugendarbeit NRW – überschreibt ihren Beitrag mit „Mehr als Inklusions-Check“- Inhouse Inklusionsangebote der Landesarbeitsgemeinschaft katholischer OKJA NRW. Orientiert am vorgestellten „Index für Inklusion“ soll das Inklusionsverständnis über verschiedene Fortbildungsmodule in die Praxis gebracht werden. Über differenzierte Checklisten können Angebote von Einrichtungen auf ihre Teilhabeperspektiven geprüft werden.

Thomas Meyer und Gunda Voigts beenden den Sammelband mit der Darstellung von sieben kompakten Thesen auf dem Weg … – Was es jetzt braucht, damit Kinder- und Jugendarbeit inklusiv ist. Sie beschreiben u.a., wie wichtig es ist, gewachsene Strukturen im Hilfesystem für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung zu verändern, und dass es entscheidend sein wird, dass bei allen Beteiligten ein grundlegender Perspektivwechsel in der Planung, Ausgestaltung und Umsetzung von Maßnahmen stattfindet, denn „Kinder- und Jugendarbeit braucht auf ihrem Weg zu inklusiven Gestaltungsstrategien viele Engagierte aus Praxis, Wissenschaft, Politik und Verwaltung – und sie braucht junge Menschen, die ihre Orte für sich gestalten“ (S. 352).

Diskussion

Die Veränderung der Kinder- und Jugendarbeit hin zu einer inklusiven Ausgestaltung der Leistungen und Angebote ist – wie das vorliegende Buch aufzeigt – eine komplexe und herausfordernde Aufgabe.

Inklusion braucht oft zusätzliche Ressourcen, Mitarbeitende müssen entsprechend aus- und fortgebildet werden, von allen Beteiligten wird eine – teils grundlegende – Änderung der Einstellungen und Haltungen gegenüber Vielfalt und Unterschieden verlangt. Herausfordernd wird es dabei vor allen Dingen sein, individuelle Bedürfnisse und Handlungsbedarfe zu erkennen und zu berücksichtigen.

Die sich ergebenen Herausforderungen sind im vorliegenden Buch – mit dem im Untertitel des Sammelbandes benannten Blick auf Anspruch, Realität und Visionen – benannt und z.T. lösungs- und praxisorientiert weitergedacht. Gerade die Vielfalt der Themen und Texte lässt das eine oder andere Thema ein wenig zufällig ausgewählt erscheinen – z.B. wird mit der Inklusiven Ballschule einmal mehr ein inklusives Fußballprojekt vorgestellt). Regional sind viele Forschungen und Praxisbeispiele in den so genannten „alten Bundesländern“ angesiedelt – was die Frage aufwirft, ob es regionale Unterschiede gibt oder gerade nicht.

Gerade im Bereich der Handlungsempfehlungen und/oder der Inklusionschecks am Ende des Buches wäre vielleicht doch eine etwas umfassendere und nicht nur auf Quellen verweisende Darstellung sinnvoll gewesen.

Vielleicht ein wenig kritischer hätten die grundlegenden Probleme der Kinder- und Jugendarbeit und der Arbeit mit Menschen mit Behinderung in Zeiten des zunehmenden Fachkräftemangels und der Ökonomisierung Sozialer Arbeit thematisiert werden können. Gerade diese Aspekte könnten wichtige Veränderungen und das Bemühen um mehr Inklusion maßgeblich beeinträchtigen.

Als eine zentrale Frage bleibt nach der Lektüre – aber das mag‘ eine sehr subjektive Sicht des Rezensenten sein – wie es gelingen kann, Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und den sich daraus ergebenden Bedarfslagen zu schulen.

Ungeachtet solcher bedenkenswerten Aspekte, gibt der vorliegende Sammelband einen mehr als gelungenen, in dieser Form noch seltenen, Überblick zu zentralen Themen und Fragestellungen einer inklusiver werdenden Kinder- und Jugendhilfe.

Ein Sammelband zu einem derart komplexen Thema wie dem zu verstärkenden Paradigmenwechsel in der Kinder- und Jugendarbeit stellt einerseits die Herausgebenden, die Autorinnen und Autoren, aber auch die Leserinnen und Leser vor besondere Herausforderungen. Es gilt zu überprüfen, ob die einzelnen Beiträge thematisch zusammenpassen. Die Qualität der Beiträge kann verständlicherweise variieren und der praktische Nutzen stellt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Perspektiven verschiedenartig dar – Mitarbeitende aus der Praxis würden sich ggf. konkretere Handlungsempfehlungen wünschen, Forschende vielleicht detaillierte Einblicke in Design und Bewertung von erhobenen Erkenntnissen.

Bei allen Ambivalenzen, die eine so umfassende und vielschichtige Textsammlung mit sich bringt, gelingt es den Herausgebenden erkennbar, den Eindruck eines übergreifenden „roten Fadens“ entstehen zu lassen. Als verbindendes Element wird über alle Texte hinweg deutlich, dass die traditionell gewachsene strukturell-organisatorische Trennung von Kinder- und Jugendarbeit und den Hilfen für Menschen mit Behinderung überwunden werden muss und – auch, wenn das aktuell noch ein Stück weit Vision sein mag – tatsächlich überwunden werden kann.

Positiv wirkt sich aus, dass die Herausgebenden nicht nur selbst über eine breite Expertise und vielschichtige Erfahrungen im Themenbereich verfügen, sondern auch entsprechend kompetente Autorinnen und Autoren aus Lehre, Forschung und Praxis für einen Beitrag gewinnen konnten. Das Buch ist lesenswert, informativ und gut nachvollziehbar editiert.

Fazit

Insgesamt kann "Inklusion in der Kinder- und Jugendarbeit" Lehrenden, Studierenden und professionell Handelnden als sehr sinnvolle Textsammlung empfohlen werden. Das Themenspektrum erhält in der Regel eine vielschichtige theoretische Fundierung und hinreichende erste – aber sicher weiter zu entwickelnde – Praxisbezüge. Vorstellbar ist zudem, dass Forschende gute Anregungen für die weitere vertiefende Auseinandersetzung mit der Thematik erhalten.

Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. (FH) Mathias Stübinger
Diplom-Sozialpädagoge (FH) Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Hochschule Coburg, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, u.a. in tätig in den Lehrgebieten: Sozialmanagement / Organisationslehre / Methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit / Praxisanleitung und Soziale Arbeit für Menschen mit Behinderung.
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Es gibt 34 Rezensionen von Mathias Stübinger.

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ISSN 2190-9245