Claudia Schmidt, Gernot Hahn: Herausforderung Pädophilie
Rezensiert von Anna-Lena Mädge, 12.06.2024
Claudia Schmidt, Gernot Hahn: Herausforderung Pädophilie. Beratung, Selbsthilfe, Prävention. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2023. 3., vollständig überarbeitete Auflage. 216 Seiten. ISBN 978-3-96605-230-6. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Thema
Das Fachbuch zum Thema Pädophilie vermittelt grundlegendes Wissen von der Definition nach ICD-11 über gesetzliche Regelungen bis zum aktuellen Forschungsstand der Ursachen. Hierbei wird über den sachlichen Kontext hinaus die Bedeutung der thematisierten Inhalte anhand von persönlichen Zitaten und Fallbeispielen verdeutlicht. Das Fachbuch richtet sich an Fachkräfte, Angehörige und Betroffene mit dem Ziel Kinder zu schützen, indem durch präventive Angebote sexuelle Übergriffe verhindert werden können.
Autoren
Claudia Schmidt ist Dipl. Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Von 2002 bis 2020 arbeitete sie in Arbeitsfeldern der Forensik. Von 2009 bis 2020 war sie Einrichtungsleiterin der Psychotherapeutischen Fachambulanz für Sexual- und Gewaltstraftaten in Nürnberg.
Gernot Hahn ist Dr. Dipl. Sozialpädagoge und Dipl. Sozialtherapeut. Der Schwerpunkt seiner praktischen Tätigkeit liegt in der ambulanten Nachsorge straffälliger Menschen nach Entlassung aus dem Maßregelvollzug. Im Rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts setzte er sich mit den Schutzfaktoren rückfallfreier Sexualstraftäter auseinander.
Entstehungshintergrund
Die erste Auflage des Fachbuchs entstand mit dem Anspruch, in einfachen und verständlichen Worten sachliche Informationen zum Thema Pädophilie für Betroffene, Angehörige und Therapeut*innen zur Verfügung zu stellen. Mit dem Ziel, sexuellen Missbrauch an Kindern zu verhindern. Die vorliegende dritte Auflage enthält Aktualisierungen in der Darstellung der Behandlung, Begleitung und Selbsthilfe pädophiler Menschen, da sich diese aufgrund neuer Erkenntnisse in den vergangenen Jahren verändert haben.
Aufbau und Inhalt
Der erste Inhalt der Leser*innen erwartet, ist ein Foto sowie Informationen zu den Autor*innen. Dem thematischen Einstieg vorangestellt wurden die Hinweise zu den begleitenden Download Materialien und Verweise auf gesetzliche Regelungen im Kontext Pädophilie die im Internet nachlesbar sind.
Hierauf folgen das Geleitwort zur ersten Auflage, sowie die Vorworte zur zweiten und dritten Auflage in denen die Autor*innen verdeutlichen, dass es an verständlichen Fachinformationen zum Thema Pädophile fehlt. Zu den bisher erschienenen Auflagen erhielten die Autor*innen viele Rückmeldungen von Betroffenen, Angehörigen und Fachkräften, denen das Fachbuch erste verlässliche Informationen bieten konnte.
In der Einleitung stellen die Autor*innen dar, wie ihre beruflichen Erfahrungen zu der Entstehung dieses Fachbuchs führten. Sie erklären, die Bedeutung einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Pädophilie, um präventive Arbeit zu ermöglichen. Und bedanken sich bei allen Personen, die einen Beitrag zu dieser Arbeit geleistet haben.
Im ersten Kapitel „Was ist Pädophile?“ wird grundlegendes Wissen, beginnend mit der Definition, vermittelt. Hierbei werden die Unterschiede zwischen Pädophilie, Hebephilie, Päderastie und Pädosexualität erklärt, da diese oftmals unbekannt sind und zu thematischen Vermischungen führen können. Es folgt die Diskussion von Pädophilie als Erkrankung und Darstellung der stark schwankenden Zahlen über die Anzahl der Betroffenen. Zitate Betroffener zu den angesprochenen Themen und Arbeitsmaterialien zum Thema sexuelle Orientierung vertiefen die Inhalte.
Die Frage nach den Ursachen wird im zweiten Kapitel behandelt. Hier wird der aktuelle Stand der Forschung dargestellt, wobei deutlich wird, dass es wenig Forschung in diesem Bereich gibt, wodurch auch die Ursachen weiterhin unzulänglich erklärbar sind. Daher werden Psychoanalytische, Lerntheorethische, Sozialisationstheorethische und Genetische Erklärungsansätze sowie der Missbrauch-Missbraucher-Zyklus thematisiert.
Ab wann eine strafrechtliche Relevanz vorliegt, wird im Kapitel „Verlangen und Verhalten: Was ist strafbar?“ thematisiert. Der begleitende Exkurs zur Entwicklung des deutschen Sexualstrafrechts ermöglicht es, die Entstehung der aktuellen Rechtslage nachzuvollziehen.
Welche Gefühle und Gefühlschaos Pädophilie bei den Betroffenen Personen auslösen kann und wie diese erlebt werden stellt das gleichlautende Kapitel dar. Hierbei wird zunächst auf die für die meisten Menschen positiv erlebbaren Gefühle die mit einer Verliebtheit in Verbindung stehen dargestellt um weiterführend auf Traurigkeit, Verzweiflung, Scham, Schuld, Angst, Isolation die für Menschen mit pädophiler Veranlagung zu dauerhaften Begleitern werden können eingegangen. Die Erklärung, wie die aus diesen Gefühlen entstehenden Belastungen oftmals in Suchterkrankungen und Depressionen enden, beendet das Kapitel.
Mit der Pädophilie leben lernen ist ein Schicksal, dass mit Herausforderungen verbunden ist. Dieses Kapitel bearbeitet Grundhaltungen wie Akzeptanz, ambivalente Gefühle sowie Grundbedürfnisse, Werte und Commitment, um unterstützt durch vertiefende Materialien, um Unterstützung dabei zu bieten, ein zufriedenes Leben frei von sexuellen Kontakten zu Kindern zu führen. Ebenso werden therapeutisch tätigen Personen Empfehlungen für die Arbeit mit Betroffenen und dem Einbinden von Materialien gegeben.
Wie ein „Coming Out: Unterstützung und Soziale Netzwerke“ ermöglichen kann, stellt das nachfolgende Kapitel dar. Thematisiert werden Ängste vor dem Coming Out, denen der positive Effekt Unterstützung zu erhalten gegenübergestellt wird. Ebenso werden Empfehlungen für ein geeignetes Setting gegeben, mit dem Ziel, ein Netz aus Vertrauenspersonen in Krisen aufzubauen.
Zu dem begleitenden Netzwerk gehören „Angehörige: Zwischen Schuldgefühlen, Sorge und Unterstützung“. Wie diese schwierige Rolle gelingen kann und was sich Betroffene von ihren Angehörigen wünschen, wird hier ebenso thematisiert wie die Grenze der Verantwortung von Angehörigen.
Der Versuch Betroffener Austausch, Hilfe und Ersatz für den realen Kontakt zu Kindern zu finden, führt oft zum Ausweg Internet. In diesem Kapitel wird dargestellt, wie ernsthaft um Hilfe suchende Personen sich durch unseriöse Chatangebote und Foren in ihrer Haltung beeinflussen lassen können. Es wird sehr gut erklärt, dass es keine akzeptable Begründung gibt online verfügbares Bildmaterial jeglicher Art mit kinderpornografischen Darstellungen zu konsumieren und die strafrechtliche Bedeutung solcher Handlungen. Zugleich werden Empfehlungen für Angebote die sich klar von Kindesmissbrauch distanzieren und zur Prävention beitragen gegeben, wodurch das Internet zu einem Weg aus der Isolation werden kann.
Jede Handlung entsteht in einem Kontext und so gibt es Risikofaktoren und -situationen die es begünstigen, dass ein sexueller Übergriff gegenüber einem Kind stattfindet. Es gibt vier Vorbedingungen bei Tätern von sexuellem Missbrauch, deren Darstellung durch Fallbeispiele und Anregungen zum präventiven Handeln unterlegt wird. In der Persönlichkeit liegende Faktoren wie Impulsivität, Schwierigkeiten intime Beziehungen zu führen oder Gefühle zu regulieren sowie viele weitere Faktoren werden erklärt. Abschließend gehen die Autoren auf den aktuellen Forschungsstand zur Kindlichen Sexualität ein, um klar von der Sexualität Erwachsener abzugrenzen. Abschließend wird diskutiert, wie viel Kontakt zu Kindern für Menschen mit pädophiler Neigung möglich sein kann, ohne dass es zu Übergriffen kommt.
Nachdem in den vorherigen Kapiteln intensiv auf die Lebenswelt pädophiler Menschen eingegangen wurde, widmet sich dieses Kapitel den Opfern: „Was passiert mit den Kindern? Die Folgen sexuellen Missbrauchs“. Hier wird auf das Erleben der Kinder, die kurzfristigen und langfristigen Folgen von Missbrauch sowie Traumatisierungen durch negative Reaktionen Außenstehender auf die Missbrauchserfahrung eingegangen. Abschließend wird thematisiert, ob Täter Wiedergutmachung leisten können.
Die nachfolgenden drei Kapitel setzen sich intensiv damit auseinander, welche Möglichkeiten es gibt, zu verhindern, dass Kinder zu Opfern von sexuellem Missbrauch werden. Zunächst geht es um „Selbsthilfe: Möglichkeiten der Selbsteinschätzung, Selbstkontrolle und Veränderung“. Die dargestellten Möglichkeiten der Selbsthilfe bieten Menschen mit pädophiler Ausrichtung ein Grundgerüst, das durch Professionelle Hilfe und Therapie erweitert und stabilisiert werden kann. In diesem Kapitel wird dargestellt, welche Arten der Therapie es gibt und die bisherigen Erfahrungswerte zu deren Wirkung sowie eine Darstellung des professionellen Hilfsangebots. Anschließend wird detailliert auf „Spezialisierte Therapieangebote für Menschen mit pädophilen Neigungen –,Kein Täter werden' und andere Möglichkeiten“ eingegangen.
Im Schlusswort wird noch einmal dazu ermutigt, mit den im Buch beschriebenen hilfreichen Angeboten in Kontakt zu treten und daran erinnert, dass diese anonym und kostenlos arbeiten. Abschließend werden hilfreiche Adressen bereitgestellt und das Literaturverzeichnis zum Vertiefen der Inhalte.
Diskussion
Kinder und die Lebensphase der Kindheit stehen in unserer Gesellschaft unter einem besonderen Schutz. Angebote der Kinder- und Jugendhilfe sollen Familien Schutz und Unterstützung in schwierigen Lebensphasen bieten, Sozialleistungen die finanzielle Situation stärken, um Kindern ein gesundes und geschütztes Aufwachsen zu ermöglichen. Handlungen jeglicher Art, die Kinder schädigen oder schädigen können, werden aus guten Gründen in unserer Gesellschaft verurteilt, besser als jede Verurteilung ist es aber, solche Geschehen bereits im Vorfeld zu verhindern. Hier setzen präventive Angebote an, die als Teil des Schutzes von Kindern zu verstehen sind.
Das Fachbuch „Herausforderung Pädophilie“ hat den Anspruch Teil einer präventiven Auseinandersetzung mit Pädophilie zum Schutz von Kindern zu sein. In verständlicher Sprache wird grundlegendes Wissen vermittelt sowie der aktuelle Stand der Forschung und bestehende therapeutische Möglichkeiten dargestellt. Dabei geht es auch um die sehr bedeutsame Unterscheidung zwischen Menschen mit pädophiler Ausrichtung und Sexualstraftätern. Diese Unterscheidung ist nicht nur als Wissensgewinn wichtig, sie ermöglicht es, die Bedeutung von Präventionsangeboten zu verstehen, da sie zeigt, dass es Menschen mit pädophiler Ausrichtung gibt, die niemals Täter werden.
Das Buch richtet sich an Menschen, die bei sich selbst pädophile Anteile wahrnehmen, ihre Angehörigen und Fachkräfte, die in diesem Bereich tätig sind. Die Autor*innen thematisieren, was es bedeutet, mit einer pädophilen Ausrichtung zu leben, sowie welche Informationsquellen, Unterstützungsangebote und Netzwerke dabei helfen, einen Alltag zu gestalten, der zufriedenstellend ist und keine sexualisierten, übergriffigen Kontakte zu Kindern beinhaltet. Die thematisierten Inhalte können durch begleitende Downloadmaterialien vertieft und bearbeitet werden, zudem folgen den einzelnen Abschnitten Quellen zu weiteren Informationen. Wie auch die vorherigen Auflagen, wurde der Inhalt unter Einbeziehung von Betroffenen und erfahrenen Fachkräften gestaltet, wodurch viele Aspekte und Sichtweisen eingeflossen sind. Hierin liegt eine Stärke des Fachbuchs, da es einen wirklichen Einblick in die Lebenswelt von Betroffenen und Angehörigen ermöglicht. Zugleich stellt die Breite der Zielgruppe eine Schwierigkeit dar, da auf mich einige Inhalte in einer Form verfasst erscheinen, die auf betroffene Personen ausgerichtet ist und diese nicht in Krisen stürzen will. Dies gilt aus meiner Sicht besonders für das Kapitel „Was passiert mit den Kindern? Die Folgen sexuellen Missbrauchs.“ das kaum den Ängsten und Traumata gerecht wird, die häufig im späteren Lebensverlauf auftauchen.
Schwer nachvollziehbar war für mich im ersten Kapiten „Was ist Pädophilie?“, die Darstellung der aktuellen Diskussion, ob Pädophilie auch in Zukunft unter den Krankheitsbegriff fällt. Wie in den späteren Kapiteln detaillierter dargestellt, sind alle präventiven Angebote durch Krankenkassen und, in seltenen Fällen, Justizministerien finanziert. Fällt die Definition von Pädophilie als Krankheit weg, bricht zugleich die aktuelle Finanzierungsgrundlage der unersetzbaren und wichtigen präventiven Angebote weg. Für mich ein Schreckensszenario, dem das Buch inhaltlich keine Alternative anbot.
Dass eine erfolgreiche präventive Arbeit bisher noch in den Anfängen zu sein scheint, wird deutlich, wenn erwähnt wird, dass es aufgrund fehlender Forschung noch offene Fragen gibt. Dies wird in mehreren Kapiteln angesprochen, beispielsweise ist die Frage der Ursache bisher noch nicht abschließend geklärt. Die in den vergangenen Jahren neu gewonnenen Erkenntnisse haben zu Veränderungen in den therapeutischen Angeboten für Menschen mit pädophilen Neigungen geführt, welche in der aktuellen überarbeiteten Auflage dargestellt werden. Dies verdeutlicht die Bedeutung von Forschung in diesem Bereich, die konkret zu einer verbesserten Behandlung führt.
Um eine solche, hilfreiche Behandlung anbieten zu können, brauchen Therapeuten wiederum das notwendige Wissen und Können. Vor diesem Hintergrund ist es irritierend, dass im Kapitel „Professionelle Hilfe und Therapie“ die Ablehnung der Zusammenarbeit mit Pädophilen durch Therapeuten als unprofessionell bezeichnet wird (S. 164). Da es aus meiner Sicht gerade in helfenden Berufen wichtig ist, die eigenen Grenzen (an-) zuerkennen. Im späteren Verlauf des Kapitels (S. 169) wird diese Thematik besser dargestellt und darauf eingegangen, dass fehlende Erfahrung mit der Thematik, persönliche Vorbehalte oder Sorgen vor mangelnder Fachkompetenz in diesem Bereich Ablehnungsgründe sein können. Diese Ablehnungsgründe sind aus meiner Sicht weit von unprofessionellem Verhalten entfernt. Unprofessionell ist es, sich mehr auf die eigenen Schultern zu legen, als man tragen kann.
Trotz dieser Kritikpunkte ist das Buch uneingeschränkt lesenswert, da es sowohl ein Verständnis für die Thematik schafft, als auch zur Diskussion, wie wir als Gesellschaft uns positionieren wollen, einlädt. Deutlich wird, dass wir Kinder am besten schützen, wenn wir durch präventive Angebote verhindern, dass es zu Taten kommt.
Fazit
Prävention beginnt damit, Zugang zu hilfreichen Informationen zu haben, die inhaltlich richtig und verständlich sind. Hier ist „Herausforderung Pädophilie“ ein Meilenstein im deutschen Sprachraum, da es schlichtweg kein anderes Fachbuch, mit inhaltlicher Breite in verständlicher Sprache, gibt.
Rezension von
Anna-Lena Mädge
M. A. Soz.Päd./Soz.Arb.
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Es gibt 22 Rezensionen von Anna-Lena Mädge.
Zitiervorschlag
Anna-Lena Mädge. Rezension vom 12.06.2024 zu:
Claudia Schmidt, Gernot Hahn: Herausforderung Pädophilie. Beratung, Selbsthilfe, Prävention. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2023. 3., vollständig überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-96605-230-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31762.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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