Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression
Rezensiert von Peter Flick, 26.02.2024

Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 252 Seiten. ISBN 978-3-518-58714-0. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 35,50 sFr.
Thema
Wie kann man angesichts des Nebeneinanders von radikaldemokratischen und autoritären Tendenzen, von moralischer Sensibilisierung und zunehmender bürgerlicher Verrohung heute noch sinnvoll von sozialem „Fortschritt“ sprechen? Mit einer liberalen Fortschrittsrhetorik, die angesichts der multiplen Krisen der Gegenwart unverdrossen eine ethische „Pflicht zum Optimismus“ (Karl Raimund Popper) predigt, möchte sich Rahel Jaeggi nicht zufriedengeben.
Ihre Antwort lautet: Gerade die Krisen der Gegenwart erzwingen einen neuen Modus des selbstreflexiven Lernens und ein differenziertes Verständnis von Fortschritt. Fortschritt findet dort statt, wo gelernt wird, d.h. eine Offenheit für rationale und angemessene Problemlösungen existiert.
Rahel Jaeggi plädiert in ihrem neuen Buch deshalb für eine „Rettung“ der sozialphilosophischen Fortschrittstheorie in pragmatischer Absicht. Das Begriffspaar „Fortschritt“ und „Regression“ ist demzufolge im historischen Kontext krisenhafter Lebensformen zu situieren. Gerade eine „negativistische“ Herangehensweise, die Adornos Analyse der Verschlingung von progressiven und regressiven Elementen im Fortschrittsbegriff aufgreift, ist in der Lage, systemisch bedingte „Lernblockaden“ wahrzunehmen und aufzulösen.
Autorin
Rahel Jaeggi, geboren 1967, ist Professorin für praktische Philosophie an der Humboldt-Universität Berlin und leitet dort seit 2018 das Centre for Social Critique. In einer frühen Arbeit hat sie sich in ihrer Arbeit über Entfremdung, einem Schlüsselbegriff der Kritischen Theorie, auseinandergesetzt (Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, 2016). Ihr neuestes Buch ist die Fortsetzung ihres Projekts einer „Kritik von Lebensformen“ (2013).
Argumentationsaufbau und Inhalt
Im Vorwort (7 ff.) erläutert die Autorin das Begriffspaar „Fortschritt und Regression“. „Regression“ ist mehr als ein Back lash oder Rückfall „hinter etwas bereits Erreichtes“ (12), weil mit dem Erfahrungsverlust die Perspektive eines „sich anreichernden Lern – und Erfahrungsprozesses“ (16) verstellt wird.
In der Einleitung (19 ff.) formuliert sie mit einem Hinweis auf die Studien Reinhart Kosellecks ihr „Unbehagen“ (21 ff.) an Fortschrittstheorien, die von einer „Unwiderstehlichkeit“ und Zwangsläufigkeit ausgehen. Eine breit angelegte, pluralistische und materialistische Sozialtheorie muss der Kritik an eurozentristisch-paternalistischen Entwicklungsmustern Rechnung tragen, indem sie die „Vielzahl miteinander verflochtener, aber jeweils eigensinniger Entwicklungsdynamiken“ (42) aufgreift. Sie darf sich dennoch zutrauen, kontextübergreifende Kriterien für eine Bewertungen „des“ sozialen Fortschritts vorzunehmen (vgl. 42).
Kapitel 1 „Was ist Fortschritt?“ (45 ff.) vertieft die Klärung des Fortschrittsbegriffs als „normativen Begriff sui generis“ (45), der unabhängig „von einem vorausgesetzten, bereits gegebenen Verständnis des Guten oder Richtigen“ (45) entwickelt werden muss. Als evaluativer, wertender Begriff geht er zugleich eine unauflösliche Verbindung mit „dichten, analytisch-deskriptiven Begriffen“ (50) zur Beschreibung der Prozesse eines Erfahrungslernens ein. Wo Resultate sich als Problemlösungen bewähren, werden sie von den sozialen Akteuren als „dialektischer Anreicherungsprozess“ ihres Wissens angesehen.
In Kapitel 2 „Reform oder Revolution: Kontinuität und Diskontinuität des Fortschritts“ (68 ff.) betont die Autorin, dass Fortschritt als Prozess und Bewegung in historischer Zeit sich nicht nur in einer Erweiterung des Adressatenkreises von Menschen- und Bürgerrechten oder in verbesserten institutionelle Umsetzungen rechtlicher Normen erschöpfen darf, sondern auch radikale Brüche und Transformationen umfassen muss. Ob eine Krise „im Rahmen einer gesetzten sozialen oder politischen Ordnung“ (87) oder „nur mit einer Revolution“ (also einem radikalen Paradigmenwechsel) zu lösen ist, hängt für Jaeggi von der „Gestalt und Radikalität (.) der zu bewältigenden Krise ab“(88).
Kapitel 3 „Im Kontext: Moralischer Fortschritt und sozialer Wandel“ (89 ff.) behandelt den Zeitkern von Moral und die Verflechtung moralische Normen und Prinzipien mit lebensweltlichen Praktiken, was Habermas die Angewiesenheit von universalistischen Moralprinzipien auf „entgegenkommende sittliche Lebensverhältnisse“ (Jürgen Habermas) nennen würde. Die von Rahel Jaeggi vorgeschlagene Integration der moralischen Prinzipien in einen breit gefassten sozialen Wandel der Sittlichkeit lässt dann allerding die Frage nach dem Geltungsanspruch moralischer Normen ganz in der pragmatisch-moralischen Gestaltung des sozialen Wandels aufgehen: „Die Frage nach dem moralischen Wandel hat sich in die Frage nach dem sozialen Wandel transformiert.“ (137).
In Kapitel 4 „Krise und Konflikt: Die Dynamik sozialen Wandels“ (138 ff.) geht es um die Entstehungsbedingungen und die Dynamik des sozialen Wandels. Die Lösung liegt nicht in den Vorstellungen, dass sich a priori Ziele und Etappen des Fortschritts formulieren lassen. Die brüchige, mehrdimensionale Logik der sozialen und historischen Entwicklung eröffnet den sozialen Akteuren jedoch Handlungsspielräume bzw. Wege und Vorschläge für Problemlösungen, die von ihnen wahrgenommen werden oder nicht (vgl. dazu „Roads not taken“, 170).
Kapitel 5 „Wandel zum Besseren? Fortschritt als sich anreichernder Erfahrungsprozess“ (168 ff.) kehrt zur zu entscheidenden Frage zurück: Wie lässt sich der normativen Richtungssinn des sozialen Wandels oder Fortschritts bestimmen? In der Auseinandersetzung mit Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ und dessen Interpretation der „Sinnkrise der bürgerlichen Welt“ (173) begründet sie zunächst ihre These, dass es einen substantiellen, „übergreifenden Sinn des Fortschritts“ so wenig geben kann wie einen „Sinn des Lebens“. Es gibt nur einen „Fortschritt als Vollzugsform“(183 f.) so wie es einen „Sinn des Lebens nur von innen, im Vollzug des Lebens selbst gibt“ (185). Insofern lässt sich übergreifenden Fortschritt nicht inhaltlich oder substantiell bestimmen, sondern nur formal. Er muss mit Hegel und John Dewey als Reflexionsprozess verstanden werden, um „Selbsttäuschungen und Einseitigkeit“ (192) zu überwinden. Das ist das gesuchte Kriterium eines „fortschrittlichen“ Wandels: nur wo der „Fortschritt“ sich als reflexiver „Anreicherungsprozess“ (191 ff.) zu erkennen gibt (und damit als „Abwesenheit von Regression“ 197 ff.), ist er ein Wandel zum Besseren.
In Kapitel 6 „Verrat am Möglichen: Zur Anatomie der Regression“ (212 ff.) zeichnet die Autorin ein differenziertes Bild der Erscheinungsformen eines „Rückschritts“. Im Unterschied zur „Nostalgie“ oder dem „Rückgriff auf Hergebrachtes“ (der kann ja auch ein Merkmal eines „aufgeklärten“ Fortschritts sein) ist die Regression eine Haltung der Verweigerung, die auf „eine Problemstellung mit Überforderung, auf eine Krise mit Verleugnung.“ (242) reagiert. Der Modus des „Verlernens“ (Jürgen Habermas) und der „Blockade von Erfahrungen“ (Rahel Jaeggi) kann sich zu einem Hass steigern, der (hier greift Jaeggi ein Wort Adornos auf) „die >mahnende Möglichkeit< des anderen > auszurotten< möchte“ (246). Regression als „Verrat“ (245) am Möglichkeitssinn, damit deutet die Autorin am Ende ihres Buchs eine dunkle Seite des Fortschritts an, die den normativen Horizont von Kants praktischen Fragen übersteigt.
Diskussion
„Der Fortschritt ereignet sich da, wo er endet“, formulierte Theodor W. Adorno bereits in einem Vortrag aus dem Jahr 1962 (Stichworte. Modelle 2, Frankfurt am Main 1970,37). Im Widerstand gegen die Gefahr einer Regression, die Jaeggi alssystematischen Erfahrungsblockade bezeichnet, entzündet sich der reflexive „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil), der den „emanzipatorischen Fortschritts“ als ungewissen, nie abgeschlossenen Lern- und Problemlösungsprozesses verteidigt.
Nun gibt es empirische Belege zuhauf, dass die Bereitschaft, sich irritieren zu lassen und sich für Veränderungen in der Gesellschaft zu öffnen, in Krisenzeiten wohl eher abnimmt. Das gilt auch für die liberal-konservative Mitte der deutschen Gesellschaft, die sich empirischen Studien zufolge insgesamt (moderat, aber merklich) nach „rechts“ bewegt (vgl. dazu Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser, Triggerpunkte, 2023). Aber das muss nicht Jaeggis und Adornos These widerlegen, dass nicht gerade in Krisen eine revitalisierte Demokratie ihre Handlungsmacht gegenüber der systemischen Funktionslogik des Kapitalismus wiederentdeckt und Menschen beginnen über gerechtere und solidarischere Lebensformen nachzudenken, die über das Bestehende hinausweisen.
Fazit
Rahel Jaeggis pragmatistisch orientierte Formel des Lernens baut darauf, dass gesellschaftlichen Krisen eine „Zunahme der kriseninduzierten Reflexivität“ (Jaeggi) möglich ist, die Potenziale und Handlungsoptionen für qualitative Veränderungen der Gesellschaft aufspürt. Die Begriffe „Regression“ und „Fortschritt“ erhellen sich so gegenseitig und werden zu unentbehrlichen Werkzeugen für eine Kritische Theorie der Gesellschaft und eine revitalisierte Zivilgesellschaft.
Rezension von
Peter Flick
Lehrer, unterrichtet die Fächer Sozialwissenschaften, Praktische Philosophie und Deutsch
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