Melissa Goldberg Mintz: Ist mein Kind traumatisiert?
Rezensiert von Alexander Korittko, 15.10.2024

Melissa Goldberg Mintz: Ist mein Kind traumatisiert? Was Eltern wissen sollten und was sie zur Heilung beitragen können. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2024. 250 Seiten. ISBN 978-3-7495-0563-0. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Es wird beschrieben, wie Kinder auf belastende Erfahrungen reagieren und wie Eltern ihnen mit liebevoller Unterstützung in einem Genesungsprozess beistehen können.
Autorin:
Dr. Melissa Goldberg Mintz ist klinische Psychologin in eigener Praxis als Psychotherapeutin und lehrt am Baylor College of Medicine in Houston, Texas, USA.
Entstehungshintergrund
In Ergänzung zu einer Reihe von Elternratgebern aus dem deutsch-sprachigen Raum zum Verständnis und zur Unterstützung von traumatisierten Kindern (u.a. Lueger-Schuster u. Pal-Handl 2004, Krüger 2007, Rosner u. Steil 2008, Weinberg 2015, Korittko 2021) wird hier ein Ratgeber aus US-amerikanischer Perspektive angeboten. Das Buch entstand während Corona-bedingter Schulschließungen und der Schwangerschaft der Autorin und wurde in den USA 2023 veröffentlicht.
Aufbau
Das Buch ist in vier Teile mit insgesamt 12 Kapiteln unterteilt:
Teil I: Trauma (1. Was ist ein Trauma? 2. Ist ihr Kind traumatisiert? 3. Sie sind die beste Hilfe für Ihr Kind)
Teil II: Womit Sie es zu tun haben (4. Verhaltensauffälligkeiten. 5. Traumatrigger)
Teil III: Mit Verhaltensauffälligkeiten umgehen (6. Wenn Kinder hochemotional und für ihr Alter unreif reagieren. 7. Geringfügiges Fehlverhalten und wie man damit umgeht. 8. Rückzug und Vermeidung und wie man damit umgeht. 9. Grobes Fehlverhalten und wie man damit umgeht. 10. Selbstverletzung und impulsives Verhalten)
Teil IV: Elternsein plus (11. Professionelle Hilfe 12. Wie geht es weiter?)
Den Schluss bilden Literaturempfehlungen und weitere Ressourcen, sowie ein Stichwortverzeichnis mit Seitenangaben (Index).
Inhalt
Im ersten Kapitel (Was ist ein Trauma?) verschafft die Autorin einen grundlegenden Einblick in das Trauma-Thema. Sie verdeutlicht den Unterschied zu anderen belastenden Erfahrungen und schildert ebenfalls Unterschiede in der Verarbeitung von Traumata bei Kindern, indem sie auf Risiko- und Schutzfaktoren hinweist.
Im zweiten Kapitel (Ist Ihr Kind traumatisiert?) gibt die Autorin einen Überblick über typische Trauma-Symptome, falls bei einem Kind oder Jugendlichen eine chronische Störung vorliegt. Als besondere Frage der Symptombeurteilung gilt für sie, ob alterstypische Auffälligkeiten nach einem Trauma in einem resilienten, genesenden, verzögerten oder chronischen Verlauf zu beobachten sind. Vor allem bei über längere Zeit permanent bestehenden Symptomen und Beeinträchtigungen im Alltag wird therapeutische Hilfe empfohlen.
Im dritten Kapitel (Sie sind die beste Hilfe für Ihr Kind) geht es um den Aufbau einer sicheren Bindungsbeziehung, die in Krisenzeiten und nach traumatischen Erlebnissen die Grundlage für eine Genesung darstellt. Qualitätszeit, Mentalisieren, Lob und aktives Zuhören werden neben gemeinsamer Freude als wichtige Bestandteile davon verstanden.
Im vierten Kapitel (Verhaltensauffälligkeiten) schildert die Autorin gesunde Bewältigungsversuche nach traumatischen Erfahrungen, die zunächst aber auch als Verhaltensauffälligkeiten gewertet werden könnten: Reaktion auf sogenannte Trigger, erhöhte Emotionalität, Rückzug und Vermeidung, geringfügiges und grobes Fehlverhalten, impulsives Verhalten. Es sind jedoch Signale, dass sich Kinder vor weiteren Schmerzen schützen wollen und Unterstützung benötigen.
Im fünften Kapitel (Traumatrigger) erfahren die Leserinnen und Leser etwas über die unbewusst ablaufenden physiologischen Prozesse, die durch Trigger ausgelöst werden. Es geht darum, was Trigger sind, wie sie sich im Alltag äußern, weshalb traumatisierte Kinder getriggert werden und wie man sie am besten unterstützt. Einige Methoden, die Eltern mit ihren Kindern durchführen können, werden in ihrer konkreten Anwendung beschrieben.
In den Kapiteln sechs bis zehn werden Interventionen vorgestellt, die – unter Umständen parallel zu psychotherapeutischer Behandlung – von Eltern oder anderen Bezugspersonen durchgeführt werden können: wenn traumatisierte Kinder oder Jugendliche die Beherrschung verlieren (6.), sich geringfügig fehlverhalten (7.), sich zurückziehen (8.), sich grob fehlverhalten (9.) oder sich impulsiv oder selbstverletzend verhalten (10.). In den jeweiligen Abschnitten werden diese problematischen Verhaltensmuster auch von typisch pubertärem Verhalten jenseits von Traumatisierung abgegrenzt.
Im elften und zwölften Kapitel wird einerseits die Notwendigkeit von professioneller Hilfe und die Qualität von unterschiedlichen psychotherapeutischen Methoden beschrieben und andererseits auf so genannte Rückfälle vorbereitet.
Das Ende des Buches bildet eine kurze Literatur-Liste und eine Auflistung weiterer Infos, sowie ein sehr ausführliches Stichwortverzeichnis.
Diskussion
Dieses Buch stellt eine umfangreiche Quelle für Hilfe suchende Eltern dar, die sich Gedanken darüber machen, ob ihr Kind Traumafolge-Symptome zeigt und wie sie damit umgehen können. Allerdings ist dieses Elternbuch nur für Menschen geeignet, die über ausreichend Aufmerksamkeitspotenzial verfügen, sich durch nahezu 200 Seiten zu „kämpfen“. Es gibt jedoch zwei Aspekte, die das Lesen erleichtern: (a) die Vielzahl von Praxisbeispielen, welche den enormen Erfahrungsschatz der Autorin unter Beweis stellen und (b) eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Aspekte am Schluss jeden Kapitels.
Bei den Kapiteln sechs bis zehn kommt dieser Band aus meiner Sicht sehr Kochbuch-mäßig daher, Rezepte versprechen eine rasche Veränderung. Gleichzeitig wird sehr sensibel auf mögliche Unsicherheiten von Eltern eingegangen.
In einigen Passagen erinnert die Autorin an Maßnahmen der so genannten „schwarzen Pädagogik“, so z.B. bei der Empfehlung zur „stillen Ecke“ bei Kindern unter 6, eine Minute pro Kindesalter. In derzeitig bevorzugten Maßnahmen in Europa wird bei extrem aggressivem Verhalten von Kleinkindern als Traumafolge anstelle von „Time-out“ eher „Time-intensive“, also besonders intensive Nähe, empfohlen.
An anderer Stelle wird die ausschließlich für die USA gültige Perspektive deutlich. Bei den zu empfehlenden kindertherapeutischen Methoden werden Methoden beschrieben, die für den US-amerikanischen Raum gelten, zum Teil mit dem Hinweis, dass diese Interventionen in Deutschland nicht angeboten werden. Hier hätte ich mir ein wenig Sorgfalt vom Verlag gewünscht, diesen Abschnitt von hiesigen Autor:innen ergänzen zu lassen. Diese Kritikpunkte ändern jedoch nichts daran, dieses Buch für empfehlenswert zu halten.
Fazit
Es handelt sich um ein sehr empfehlenswertes Buch über Trauma-Dynamik, Trauma-Symptome und den Umgang damit. Wegen seines Umfangs und seiner Differenziertheit halte ich es nicht nur für ein Eltern-Buch für besonders lesefreudige Mütter und Väter und andere Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen, sondern auch für ein Lehrbuch für Lehrer:innen und Erzieher:innen sowie andere Personen, die mit Kindern und Jugendlichen professionell arbeiten.
Rezension von
Alexander Korittko
Dipl. Sozialarbeiter, Systemischer Lehrtherapeut, Autor von zahlreichen Zeitschriftenartikeln zum Trauma-Thema und vier Fachbüchern.
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