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Gerald Matthes: Vom Förderanliegen zum gelingenden Lernen

Rezensiert von Prof. Dr. Christoph Schmid, 04.09.2024

Cover Gerald Matthes: Vom Förderanliegen zum gelingenden Lernen ISBN 978-3-8080-0940-6

Gerald Matthes: Vom Förderanliegen zum gelingenden Lernen. Das Struktur-Lege-Verfahren als Kompass. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG. (Dortmund) 2024. 176 Seiten. ISBN 978-3-8080-0940-6. D: 23,95 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 38,80 sFr.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783808008263.

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Thema

Lernen kann temporär oder längerfristig behindert sein und Enthinderungshilfe tut früher oder später Not. Das Buch handelt davon, wie dies in der Schule effizient geschieht. Gerald Matthes gibt im Titel eine prägnante Zusammenfassung seines Werkes: Es führt vom Förderanliegen zum gelingenden Lernen. Als Kompass hierzu dient ein sog. Struktur-Lege-Verfahren. Ihm liegt am Herzen, wie er im Vorwort schreibt, dass »… jedes Kind ein subjektiv sinnvolles Lernverhalten entwickelt und sich in der Schule wohl und integriert fühlt« (S. 11). Liefert er hierzu einen brauchbaren Kompass? Dies wäre höchst wünschenswert. Verspricht er Sonderpädagogen und Sonderpädagoginnen sowie Klassenlehrpersonen nicht zu viel für ihre praktische Arbeit mit Kindern oder Jugendlichen mit erheblichen Lernschwierigkeiten, Lernstörungen oder Lernbeeinträchtigungen?

Autor:in

Vor der Emeritierung als Professor für sonderpädagogische Psychologie leitete Matthes das Institut für Sonderpädagogik an der Universität Potsdam. Er ist ein profunder Kenner der sonderpädagogischen Diagnostik und deren Problematik. Besonders zeichnet ihn aus, dass er empirische Befunde und theoretische Einsichten für die Praxis fruchtbar zu machen versteht, dies auch in enger Kooperation mit Lehrpersonen. Matthes ist ein Vertreter der Förderungsdiagnostik (Förderdiagnostik, förderungsorientierten Diagnostik), mit dem Anspruch, das lernfördernde und diagnostische Handeln als Einheit zu sehen.

Entstehungshintergrund

Die Thematik beschäftigt Matthes schon seit Jahren in Theorie, Forschung und Praxis. Das hier rezensierte Buch entwickelte er in starker Zusammenarbeit mit Lehrpersonen. Es hat einen unmittelbaren Vorgänger mit dem Titel »Förderkonzepte – einfühlsam und gelingend. Psychologische Grundlagen und Methoden der Entwicklung individueller Förderkonzepte«, das 2019 in 2. Auflage erschienen ist. Dieses in der Schule und Lehrpersonenausbildung sehr positiv aufgenommene Werk wurde vom Autor mithilfe von Rückmeldungen aus der Praxis optimiert und erweitert.

Aufbau und Inhalt

Nach Inhaltsübersicht folgen Geleitwort und Vorwort, die prägnant vermitteln, worum es geht und was man vom Buch erwarten darf. Das erste Kapitel führt anhand eines Beispiels aus dem Schulalltag konkret vor Augen, wie man vom Förderanliegen über sechs sog. Bausteine zum gelingenden Lernhandeln gelangt:

- Baustein 1: Beschreibung der individuellen Lernsituation

- Baustein 2: Komponentenanalyse des Lernens

- Baustein 3: Strukturanalyse des Lernens

- Baustein 4: Entwicklung des Oberziels und der Schwerpunkte der Lernförderung

- Baustein 5: Planung von Maßnahmen

- Baustein 6: Evaluation und Lernprozessbegleitung

Während die Grundlagen hierzu im zweiten Kapitel gegeben werden, ist das umfangreiche Kapitel 3 den einzelnen Bausteinen gewidmet. Diverse Kopiervorlagen für die Arbeit in der Praxis (Kapitel 4), auch als Download verfügbar, Literaturverzeichnis und Stichwortverzeichnis beschließen das Werk.

In den Grundlagen (Kapitel 2) werden kurz zentrale theoretische Einsichten dargestellt und bedeutsame Bedingungsfaktoren für Lernerfolg einprägsam erläutert. Grafische Darstellungen machen klar, was positive und was problematische Lernsituationen sind. Matthes beschreibt die Phasen einer Lernhandlung und strukturiert damit Teilhandlungen und Prozesse, die beim Lernen notwendig sind, die Schülerinnen und Schüler aber oft nicht optimal vollziehen oder nutzen. Daran anschließend entwickelt er als »theoretisches Gerüst« (S. 40) ein Vier-Felder-Modell des Lernhandelns mit den vier psychologischen Komponenten: a) »Basale Kompetenzen« wie implizites Wissen, Fertigkeiten, Gewohnheiten; b) »Wissenserwerb« wie kognitive Auseinandersetzung mit Lerngegenständen, Lernstrategien, Metakognition; c) »Motivation« wie grundlegende Bedürfnisse, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit, Interessen, Lernfreude und d) »Handlungssteuerung« wie Selbstkontrolle, Aufmerksamkeit, Emotionsregulation (S. 41). Ihr Zusammenspiel wird anhand konkreter Beispiele aufgezeigt. Mit dem Vier-Felder-Modell werden zentrale Lernfaktoren greifbar. Diese vier Felder, auch »Funktionsbereiche« (S. 41) genannt, kommen in ausdifferenzierter Form beim Diagnostizieren zum Tragen. Gleichzeitig verweisen sie auf potenzielle Schwerpunkte der Lernförderung. Jedes Feld umfasst vier abgrenzbare Förderschwerpunkte, die den Suchhorizont für die Lernoptimierung definieren. Als Quintessenz präsentiert er zu jedem der vier Felder eine Leitfrage mit vier Förderschwerpunkten. Dieses Ordnungssystem bildet die Grundlage für das Struktur-Lege-Verfahren, das später eingeführt wird.

Im umfassenderen dritten Kapitel, dem Praxisteil, beschreibt Matthes die einzelnen Schritte der Förderplanung. Er bezeichnet sie als »Bausteine«, die je nach Problemstellung flexibel nutzbar sind: »Theoretisch könnten alle Bausteine nacheinander abgearbeitet werden, doch das wäre bereits aus zeitlichen Gründen ausgeschlossen. Vor allem ist es nicht notwendig, weil immer schon ein bestimmter Erkenntnisstand erreicht ist« (S. 63). Im ersten Baustein geht es um die Beschreibung der individuellen Lernsituation und Stärken des Kindes oder Jugendlichen. Wie auch in den folgenden Bausteinen, wird aufgezeigt, wie man das konkret angehen kann, in diesem Baustein mit Instrumenten zum Austausch im Lehrpersonenteam, namentlich ein Teilhabebogen, inklusive Ratingskalen zu Lerntätigkeiten, sowie eine elaborierte Stichwortliste zu Stärken und Flow-Erleben.

Der zweite Baustein, die sog. Komponentenanalyse, führt den sog. Vier-Felder-Scan ein. Dieser korrespondiert mit dem Vier-Felder-Modell des Lernens (s. o). Für jedes Feld werden Fragen zur Beobachtung und Interpretation des Lernhandelns angeboten. Eine weitere Methode, die präsentiert wird, fußt auf einem Satz von 32 Kärtchen, die mit dem erwähnten Vier-Felder-Modell korrespondieren. Zu jedem Feld werden acht Kärtchen offeriert. Auf der Vorderseite aufgeführt sind jeweils der Funktionsbereich des Lernhandelns, Stichworte zu den Teilhandlungen und Operationen des Lernens (Komponenten) sowie ein Verweis zu naheliegenden Lernförderschwerpunkten. Auf der Rückseite wird die Lernkomponente in einem Satz umrissen. Ergänzende Kärtchen lassen sich im Einzelfall leicht anfertigen. Bei der Komponentenanalyse werden wenige Kärtchen im Hinblick auf Stärken und zu schwach ausgebildete Lernkomponenten ausgewählt, um wichtige Lernbarrieren zu identifizieren. Dies führt zur Strukturanalyse (Baustein 3) oder mitunter gleich zu Schlussfolgerungen (Baustein 4). Der Autor demonstriert, wie bei der Strukturanalyse mittels einem Struktur-Lege-Verfahren die Bedingungsstruktur geklärt wird, die im konkreten Fall zum beeinträchtigten Lernen führt. Wie man im nächsten Schritt ein Oberziel definiert und zu adäquaten Schwerpunkten der Förderung gelangt, erfährt man im vierten Baustein. Bei der Entscheidungsfindung zählt er auf die »Weisheit der Akteure«: »Zu Schwerpunkten für die Lernförderung kann nur gewählt werden, woran die Lehrkräfte, das Team, die Eltern und natürlich die Kinder selbst wirklich arbeiten können und auch wollen« (S. 90).

Nun können Maßnahmen geplant werden (Baustein 5). Sie sollen möglichst detailliert festgelegt werden. Er gibt einen Überblick über Fördermaßnahmen und bietet Impulstabellen zu den 16 Förderschwerpunkten des Vier-Felder-Modells (s. o) an. Matthes legt Wert darauf, dass die Lernenden einbezogen werden. Verschiedene Gesprächsformen werden thematisiert. Vorgehen, Inhalte und Werthaltungen in einem handlungsorientierten Fördergespräch werden detailliert geschildert und praktische Hilfsinstrumente bereitgestellt. Im sechsten Baustein erörtert Matthes kurz die Evaluation und Prozessbegleitung. Unter anderem empfiehlt er das für schulisches Lernen adaptierte Selbsteinschätzungsverfahren PERMA-Situationsbilanz (PERMA: Akronym für Positive Emotionen, Engagement, Relationship, Meaning, Accomplishment). Abschließend lässt er Wesentliches seines Lehrwerkes Revue passieren.

Diskussion

Diese Publikation passt gut in die heutige Zeit. Beeinträchtigungen des Lernens werden als Passungsproblem zwischen Lernangebot (bzw. Lernbedingungen, kontextuellen Faktoren) und individuellen Lernvoraussetzungen verstanden. Sie treten auf allen Niveaus des Lernens auf. In dieser Logik wird die Differenzierung in Normal- und Sonderpädagogik hinfällig. So ist der »Kompass« anschlussfähig an die Imperative inklusiver Schulungsmodelle. Signifikant hebt sich seine Konzeption von aufwendiger Statusdiagnostik zur Eruierung des sonderpädagogischen Förderbedarfs ab; ebenso von Anleitungen zum Entwickeln langfädiger, zeitraubender Förderpläne, die zwar auf dem Papier beeindrucken, aber in der Praxis scheitern, weil sie unter anderem die Wünsche, Ziele und aktuell erlebten Hindernisse der Lernenden verfehlen. Matthes Werk kann kluge Praxistauglichkeit (in der Praxis erprobt, mit Lehrpersonen entwickelt, in der Ausbildung bewährt) attestiert werden. Ihm liegt eine starke Integrationsleistung mit diversen kompetent ausgewählten theoretischen Konzepten zugrunde. Leicht verirrt man sich im Dschungel der unzähligen Bedingungsfaktoren schulischen Lernens. Dies ist bei Matthes nicht der Fall. Ihm gelingt die Gratwanderung zwischen Überkomplexität und Simplifizierung. Vielleicht täte eine noch stärkere Berücksichtigung kulturspezifischer Aspekte gut.

Das ansprechend gestaltete Buch ist leicht lesbar und dank wohldurchdachter Komposition und Gliederung finden sich die relevanten Inhalte unverzüglich. Didaktisch geschickt wird zum Modell hingeführt. Die einzelnen Komponenten werden gut nachvollziehbar erläutert, vertieft und transparent auf empirische Befunde bzw. Fachliteratur bezogen begründet. Infolge der diversen Beispiele und den zwei Kindern, für die den einzelnen Bausteinen entlang eine bessere Lernsituation erarbeitet wird, fühlt man sich zeitweilig gedanklich in einen Film versetzt. Mit dem Lehrwerk können Lehrpersonen in der Praxis die wesentlichen theoretischen Sachverhalte und praktischen Vorgehensweisen zielsicher erwerben. Matthes hat mit seinem Kompass nicht zu viel versprochen. Wer dieses Buch in seiner pädagogischen Praxis zu Rate zieht, verliert sich nicht im Detail, betreibt keine l’art pour l’art und verzweifelt nicht an kaum zu erfüllenden Wunschvorstellungen.

Fazit

Matthes stellt ein theoretisch und praktisch gut fundiertes, kohärentes Framework dar zur Diagnose des Lernhandelns im Hinblick auf effiziente Lernoptimierung bei Kindern und Jugendlichen mit Lernschwierigkeiten, Lernstörungen oder Lernbeeinträchtigungen; eine beachtenswerte kreative Leistung. Das didaktisch geschickt arrangierte Lehrwerk leistet zweierlei, eine gut nachvollziehbare Einführung in wesentliche theoretische Grundlagen des Verfahrens sowie dessen intelligente Nutzung in der Schulpraxis.

Rezension von
Prof. Dr. Christoph Schmid
Emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft
Pädagogische Hochschule Zürich/Zurich University of Teacher Education
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Es gibt 1 Rezension von Christoph Schmid.

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Zitiervorschlag
Christoph Schmid. Rezension vom 04.09.2024 zu: Gerald Matthes: Vom Förderanliegen zum gelingenden Lernen. Das Struktur-Lege-Verfahren als Kompass. Verlag modernes lernen Borgmann GmbH & Co. KG. (Dortmund) 2024. ISBN 978-3-8080-0940-6. Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783808008263. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31790.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.


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