Natalie Beck: Rassismussensibler Literaturunterricht in der Grundschule
Rezensiert von Prof. Dr. Matilde Heredia, 08.08.2024
Natalie Beck: Rassismussensibler Literaturunterricht in der Grundschule. Mediendidaktische Perspektiven.
Frank & Timme
(Berlin) 2024.
136 Seiten.
ISBN 978-3-7329-1007-6.
D: 24,80 EUR,
A: 24,80 EUR,
CH: 37,20 sFr.
Reihe: Literatur – Medien – Didaktik - 6.
Thema
Dieses Buch von Natalie Beck fokussiert sich auf das Thema Rassismus sowie einen sensiblen Umgang mit rassistischen Aspekten in Kinder- und Jugendliteratur in Grundschulen.
Populärmedien, die sich bei Kindern und Jugendlichen großer Beliebtheit erfreuen, beinhalten nicht selten rassistische Elemente und stereotypisierte Protagonist:innen. In diesem Buch bietet die Autorin fundierte sowie qualitativ hochwertige Ressourcen und Wege, um diese Medien im Grundschulunterricht einzusetzen, dadurch die literarästhetische Kompetenzförderung zu stärken und ebenso eine rassismuskritische Rezeption zu entwickeln bzw. zu erweitern.
Autor:in
Natalie Beck ist Lehrerin an einer Schule in Baden-Württemberg. Bereits während ihres Studiums an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd hat sie sich mit machtkritischer Lektüre im Deutschunterricht der Primarstufe auseinandergesetzt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch „Rassismussensibler Literaturunterricht in der Grundschule – Mediendidaktische Perspektiven“ ist in elf Kapitel unterteilt. Nach einer kurzen Einleitung wird im zweiten Kapitel ein ausführlicher Überblick über die aktuelle Rassismusforschung gewährt. Die historische Entwicklung von Rassismus, die zugehörigen Fachbegriffe sowie Rassismustheorien in Anlehnung an Mai-Anh Bogers Werk „Trilemma des Anti-Rassismus“ (2016) werden in diesem Kapitel fundiert dargestellt. Begriffe, wie *weiß, *Schwarz oder *Andere werden mit „*“ verwendet, um auf Diskurse und Dichotomien oder den Konstruktcharakter aufmerksam zu machen. Es handelt sich nicht hier um biologische Merkmale. Im Unterkapitel 2.4 wird die internationale Rassismusforschung anhand der systemic racism theory und racial formation theory einbezogen.
Vor dem letzten Unterkapitel 2.5 findet sich das erste Zwischenfazit, wo die Dichotomie der Norm vs. das *Andere kurz erläutert wird. Eine Verbindung zwischen den Kategorien Weißsein und Rassismus ist in der Literatur sowie in Filmen häufig vorzufinden. Laut Katharina Walgenbach (2006; 2020) bedingt die Kategorie *weiß die Kategorie *Schwarz. Bei der Kategorie *Schwarz handelt es sich in dieser Arbeit um eine Selbstbezeichnung, eine selbst-bewusste-politische Bezeichnung, die von der Autorin in Anlehnung an Rösch (2019) verwendet wird (S. 25).
Im Unterkapitel 2.5, „Das Trilemma des Anti-Rassismus“, geht die Autorin auf die gleichnamige Theorie von Boger (2016) ein und übernimmt zugleich deren kritische Analyse der whiteness studies und der Kategorie Weißsein gegen Rassismus. Diese Kategorien unkritisch zu erkennen oder zu verwenden, erhöht laut Boger die Gefahr, (unbewusst) Ausgrenzungspraktiken zu legitimieren. Gemäß der trilemmatischen Ansicht nach Boger können nur ein oder zwei Phänomene gleichzeitig auftreten bzw. kann nur diese gleichzeitige Beachtung geschenkt werden. Aus diesem Grund bleibt dabei mindestens ein Phänomen unbeachtet. In diesem Fall, d.h., wenn der Fokus auf Weißsein und Rassismus gerichtet wird, könnte daher Antirassismus aus dem Blick geraten. Antirassismus läuft somit Gefahr, temporär missachtet zu werden, und dies, so Beck, erhöht die Gefahr, „seine eigenen Ziele zu verfehlen“ (S. 39).
Im dritten Kapitel vollzieht die Autorin eine Bilderbuchanalyse des Werks „Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm“ (2023), von Rafik Schami verfasst und von Ole Könnecke illustriert. Die Ausgangssituation, der Umgang mit Stereotypen sowie die Lösung und die Bewertung des Bilderbuchs werden an dieser Stelle in gelungener Form ausgearbeitet. Machtstrukturen in der Erzählung und in den Illustrationen, die sich in der Erzählung verändern, sowie der Umgang mit Stereotypen im schulischen und privaten Kontext der Haupterzählfigur werden fundiert ausgearbeitet.
Im vierten Kapitel folgt eine Analyse des Hörbuchs „Bibi Blocksberg – Abenteuer Indien“ von Doris Riedl (2017). Die Hörbuchanalyse wird von Beck anhand folgender Leitfragen durchgeführt: „Wie werden *weiße Figuren ausgestaltet?“ und „Wie werden *Schwarze Figuren ausgestaltet?“. Anhand der Titelmusik und der *weiß zu lesenden Figuren in der Ausgangssituation, des von der Autorin entworfenen Indien-Bildes und der indischen Figuren wird dieses Hörbuch analysiert. Im Mittelpunkt steht der zentrale Aspekt des Racevoicings, welches als überzeichnete stimmliche Darstellung von Figuren anhand von Ideolekten, Soziolekten und Dialekten stattfindet. Das Indien-Bild wird laut Beck durch die Darstellung von abwertenden Aspekten geschaffen: In Indien fließt demnach kein Wasser aus dem Wasserhahn oder das Bild eines heruntergekommenen Hotels ist in der Erzählung vordergründig. Die indischen Protagonist:innen werden zugleich als aufdringlich und laut beschrieben. Racevoicing wird bei diesem Hörbuch anhand der Vorlesestimme analysiert. Die indischen Figuren werden demzufolge mit gebrochenem Deutsch und einem übertrieben gerollten R-Laut versehen. Die indischen Figuren Padmini, Nanda und der Fakir werden aus einer europäischen Perspektive dargestellt. Eine Bewertung des Hörbuchs mit große Machtgefälle zwischen den europäischen und indischen Figuren schließt dieses Kapitel ab.
Im fünften Kapitel wird eine Filmanalyse am Beispiel von „Bibi und Tina – Tohuwabohu Total“ (2017) durchgeführt. Im Mittelpunkt steht der gleichnamige Film. Beck führt die Filmanalyse in Anlehnung an wesentliche Grundbegriffe der Filmanalyse von Johanna/​Johannes Thiele (2023) durch. Im Mittelpunkt stehen dabei die Hauptfiguren, Bibi, Tina und Adea, die anhand von Merkmalen und biografischen Aspekten hierarchisch dargestellt werden. Die Hilfsbedürftigkeit und die mangelnde deutsche Sprache der Figur Adea heben die Machthierarchie zwischen den Figuren hervor. Die Figuren im Film werden im Unterkapitel 5.2, „Figurenpanorama“, ausführlich analysiert. Darüber hinaus werden die Aspekte Racevoicing sowie Hierarchisierung, die Rolle des Gesangs und der Musik wie auch die Anspielung auf den politischen Diskurs qualitativ untersucht. Eine Erläuterung der paramedialen Inszenierung des Medienverbunds Bibi und Tina schließt dieses Kapitel ab. Laut Beck ist deutlich zu erkennen, dass in den Büchern, Filmen und Serien von Bibi und Tina selten BIPoC-Figuren auftreten und zugleich eine weiße Zielgruppe angesprochen wird.
Im sechsten Kapitel, „Didaktische Überlegungen: Theoretische Grundlegung“ steht die didaktische Ebene im Mittelpunkt. Die Literaturdidaktik lehnt sich an Ulf Abraham (2016) und Matthis Kepser (2016) an, die Erfahrungen mit Literatur bei der Ich-Entwicklung von Kindern und Jugendlichen als zentral verstehen. In diesem Kapitel beleuchtet Beck zentrale Aspekte des Literaturunterrichts, wie die literarische Kompetenz und literarästhetisches Lernen sowie den machtkritischen Literaturunterricht. Trotz der Komplexität und herrschenden Uneinheitlichkeit bezüglich der Definition dieser Konzepte bietet die Autorin einen gelungenen Zugang dazu. Bei der Erläuterung des machtkritischen Literaturunterrichts werden für den Unterricht zentrale Aspekte, wie ein kritischer und diverser Blick auf Literatur und Medien, behandelt. Die Rolle der Lehrkraft, als Initiatorin von Reflexionsprozessen und Unterrichtsgestalterin mit der Möglichkeit, anhand einer ausgewogenen Auswahl an rassismussensibler und weiterer Literatur einen rassismussensiblen Unterricht zu gestalten, ist dabei zentral. Anhand weiterer Unterkapitel werden weitere didaktische Elemente, wie Literaturunterricht als dritter Raum, eine nicht immersive Lesart als Schlüssel zu einem machtkritischen Umgang mit problematischen Gegenständen (z.B. eine geringe Distanz zum Erzählten) oder der ästhetische Schonraum qualitativ und praxisnah behandelt. Durch die Standpunktreflexivität und eine konkrete Unterrichtsplanung unter methodischen Implikationen bietet die Autorin auch konkrete didaktische Elemente zur Unterrichtsplanung. Nach Unterkapitel 6.6 folgt das zweite Zwischenfazit; hier werden die Standpunktreflexivität, die Machtstrukturen und die Diversität der Klasse erläutert.
Im siebten Kapitel werden die didaktischen und methodischen Implikationen zugleich knapp, aber genauer unter die Lupe genommen.
Im achten Kapitel wird die rassismuskritische Kompetenzvermittlung anhand des Bilderbuchs „Wie ich Papa die Angst vor Fremden nahm“ von Schami Rafik (2023) untersucht. Durch wenige didaktische Schritte, wie das Ende der Geschichte auszulassen oder die Schüler:innen dabei zu begleiten, die Geschichte mit einer gewissen Distanz zu lesen, und durch einen hinterfragenden Modus eine explorative und kritische Perspektive gegenüber der Geschichte zu entwickeln und beispielsweise darin dargestellte Stereotype zu erkennen, wird eine Brücke zwischen Rassismustheorie und Grundschulunterricht geschlagen. Verschiedene Fragen ermöglichen den Schüler:innen, einen kritischen Vergleich zwischen Text und Bildern durchzuführen und auch insgesamt einen dekonstruktivistischen Blick auf Kinder- und Jugendliteratur zu entwickeln.
Im neunten Kapitel hinterfragt die Autorin Kompetenzvermittlung kritisch anhand des Hörbuchs „Bibi Blocksberg – Abenteuer Indien“ von Doris Riedl (2017). In diesem Abschnitt werden wichtige Hinweise zur Gestaltung von rassismuskritischem Unterricht anhand eines Hörbuchs genannt. Empfehlungen dazu, wie die Begleitung von mehrsprachigen Kindern, die möglicherweise noch nicht alle Inhalte des Hörbuchs verstehen können, sowie die Visualisierung der stereotypisierten Figuren, die im Hörbuch vorkommen, um eine andere Sicht und ein Empowerment der Figuren zu ermöglichen, verfestigen die didaktische Umsetzung. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Hörbuch wird durch das Konzept des Racevoicings empfohlen. Das Buch und das Hörbuch können gemeinsam im Unterricht verwendet werden; die Schüler:innen können selbst (vor)lesen und die gleichen Passagen im Hörbuch anhören, um selbst Racevoicing zu erkennen. Eine weitere Möglichkeit, um kritisch mit diesem Hörbuch umzugehen, besteht durch die Analyse der Figuren, hierfür werden von Beck gut durchdachte Fragenkomplexe angeboten.
Das zehnte Kapitel fokussiert sich auf die aufstörende Kompetenzvermittlung mit „Bibi & Tina – Tohuwabohu Total“ von Detlev Buck (2017). Im gleichnamigen Spielfilm finden Kinder starke Identifikationsfiguren, die zugleich wenig divers sind und eine *weiße Perspektive repräsentieren. Dieses didaktische Angebot eignet sich für Schüler:innen der dritten oder vierten Klasse. Eine Analyse und Reflexion der Hauptfiguren mit Blick auf Macht und Privilegien, welche die Figuren genießen, und ein Austausch über Racevoicing im Unterricht werden didaktisch empfohlen. Der Blick auf Stereotype wird in diesem Kapitel anhand einer Tabelle der Gegensätze vorgeschlagen. Eine weitere Analyseebene wird anhand der Musik des Films eröffnet. Ein Ausblick rundet das Buch ab.
Diskussion
Das Thema Rassismus, hier speziell: Rassismus in Kinder- und Jugendliteratur, ist ein komplexes Thema, dem von den Leser:innen nicht selten die Bedeutung abgesprochen wird oder welches sogar rundheraus abgelehnt wird. Zugleich ist es aktueller und relevanter denn je, auf Rassismus sowie diskriminierende Aspekte und Strukturen, insbesondere im Grundschulkontext, aufmerksam zu machen. Das hier vorgestellte Buch von Natalie Beck ist theoretisch verdichtet und bietet eine qualitativ hochwertige Grundlage zur Arbeit mit Rassismus in Kinder- und Jugendliteratur sowie weiteren Medien, wie Hörbüchern und Filmen. Ausgehend von dieser gelungenen theoretischen Fundierung wird ein vielfältiger literarischer und medialer Zugang zur Unterrichtsgestaltung ermöglicht. Besonders gelungen sind die vielfältigen theoretischen und didaktischen Zugänge, die praxisnah diskutiert und vorgestellt werden sowie zum Weiterdenken über rassismussensiblen Literaturunterricht in der Grundschule und im Bildungskontext insgesamt einladen.
Die Struktur des Buchs, die sich zwischen Theorie sowie didaktischen und methodischen Implikationen bewegt, ist gut nachvollziehbar, mag jedoch bei einigen Passagen den Eindruck des Fehlens eines roten Fadens vermitteln.
Dieses Buch ermöglicht einen konkreten Bezug zur rassismuskritischen Praxis in Grundschulen und weiteren Bildungsbereichen, denn einige der hier behandelten Aspekte können auf Literacy-Angebote im Bereich der frühen Kindheitspädagogik übertragen werden. Der durchgängig partizipative und reflexive Blick auf die Schüler:innen und die Differenzierung bezüglich der Literatur- und Medienauswahl spricht Schüler:innen verschiedener Altersstufen und die Diversität an Grundschulen auf sehr gelungene Art und Weise an.
Fazit
Dieses Buch bietet fundiert und praxisnah sowohl theoretisch als auch didaktisch eine qualitativ hochwertige Herangehensweise an das komplexe Thema des Rassismus in Kinder- und Jugendliteratur sowie Medien im Grundschulkontext.
Natalie Beck schafft es durch den Fokus auf den Medienverbund Bibi und Tina, welche bei Kindern eine große Akzeptanz genießen, populäre Kinderliteratur insgesamt kritischer in den Blick zu nehmen und dabei in stärkerem Maße eine rassismussensible Perspektive einzubeziehen. Der Autorin gelingt es zugleich, Rassismustheorien mit der Praxis eines rassismussensiblen Literaturunterrichts in der Grundschule qualitativ und praxisnah in Verbindung zu bringen.
Rezension von
Prof. Dr. Matilde Heredia
Professur für Kindheitspädagogik
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Zitiervorschlag
Matilde Heredia. Rezension vom 08.08.2024 zu:
Natalie Beck: Rassismussensibler Literaturunterricht in der Grundschule. Mediendidaktische Perspektiven. Frank & Timme
(Berlin) 2024.
ISBN 978-3-7329-1007-6.
Reihe: Literatur – Medien – Didaktik - 6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31801.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.
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