Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Innovation in der sozialen Praxis
Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker, 18.04.2006
Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Innovation in der sozialen Praxis.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2005.
145 Seiten.
ISBN 978-3-8329-1514-8.
27,00 EUR.
CH: 47,30 sFr.
Reihe: Forschung und Entwicklung in der Sozialwirtschaft - Band 4.
Das Thema
Seit mehreren Jahren hat sich "Innovation" als ein weiteres Modewort in der Sozialen Arbeit etabliert. Und wie es bei Zeitgeist geprägten Termini fast immer der Fall ist, verbergen sich auch hier unter einem scheinbar klaren und eindeutig zuzuweisenden Begriffsinhalt sehr unterschiedliche Aussagen, Sachverhalte und Entwicklungen. So muss der Begriff schlechterdings für alles herhalten, was sich mit Modernität, Veränderung, Entwicklung verbindet und sich wie auch immer von bisherigen Zuständen, Verfahren, Kompetenzen etc. abgrenzen lässt. Innovativ zu sein, verkommt so zu einem Accessoire für das beteiligt sein an stattfindenden Veränderungsprozessen - und wer möchte nicht auch als "innovativ" bezeichnet werden. Dass sich in der Sozialen Arbeit in den vergangenen 15 Jahren geradezu erdrutschartige Umwälzungen vollzogen haben und sich weiterhin vollziehen werden, ist unübersehbar. Selbst professionelle Ignoranten dürften es schwer haben, diesen Sachverhalt zu umgehen. Zu fragen ist allerdings, ob die Tatsache von Veränderung per se schon als innovative Entwicklung zu bezeichnen ist und ein solches Attribut verdient. Nicht nur um der begrifflichen Klarheit Willen macht es Sinn, erneut und genauer über die substanziellen Inhalte und Formen von Innovation nachzudenken. Und ohne das Rad neu erfinden zu müssen, kann hierbei an schon Gedachtes angeknüpft werden. Auch die Praxis von Veränderungen innerhalb der Sozialen Arbeit legt eine begriffliche Klärung deshalb nahe, als nur hierüber es gelingen kann, den qualitativen Unterschied zwischen organisatorischen Veränderungen und Innovationen zu erkennen und nicht undifferenziert beides in den gleichen Topf zu werfen. Der von Wolf Rainer Wendt herausgegebene Text trägt dazu bei, sich dieser Frage sowohl theoretisch als auch bezogen auf die Praxis von sozialer Arbeit neu zu stellen. Ohne puristische Absicht werden hierdurch Neubewertungen gegenüber dem tatsächlichen oder vermeintlichen Innovationsgehalt aktueller Entwicklungen im Feld sozialer und humaner Dienstleistungen möglich.
Der Herausgeber / der Hintergrund
Wendtwar bis zu seiner Pensionierung 2004 Leiter des Bereichs Sozialwesen an der Berufsakademie Stuttgart und lehrte Sozialarbeit und Sozialwirtschaft. Als Honorarprofessor ist er weiterhin an der Universität Tübingen tätig. In der Ausbildung von Sozialer Arbeit in der Bundesrepublik gehört Wendt zu den zentralen, die Professionsentwicklung mit prägenden Personen. Mehrere hundert Veröffentlichungen, darunter 14 Bücher liegen von ihm vor. Neben der Mitgliedschaft in zahlreichen Fachorganisationen ist Wendt Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit. Er ist u.a. Herausgeber der im Nomos Verlag erscheinenden Reihe Forschung und Entwicklung in der Sozialwirtschaft.
Der Inhalt
Die vorliegende Veröffentlichung lotet das Innovationspotenzial Sozialer Arbeit aus. Präsentiert werden sieben Beiträge einer Ende 2004 durchgeführten Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit. Nach einem längeren grundsätzlich gehaltenen Einführungsbeitrag zu den begrifflichen Dimensionen sozialer Innovation werden sehr unterschiedliche Konzepte und Entwicklungen aus der Praxis von sozialen Arbeit vorgestellt. Die Beiträge sind betitelt mit:
- Dimensionen sozialer Innovation (Wolf Rainer Wendt)
- Kommunale Sozialpolitik - was ist machbar? Thesen zur Innovationsfähigkeit der kommunalen Sozialpolitik am Beispiel Augsburg (Konrad Hummel)
- Organisierte Innovation: Was die Wohlfahrtsverbände tun (Wolfgang Schrank)
- Innovationsbedarf im Jugendamt - Reform oder Konsolidierung (Wolfgang Hinte)
- Innovationspotential der Gemeinwesen- und Quartiersarbeit (Maria Lüttringhaus)
- Neue Formen der Sozialen Arbeit mit Familien (Annelinde Eggert-Schmid Noerr)
- Innovationen in und durch Case Management (Peter Löcherbach)
Die Publikation ist zweigeteilt; neben der theoretischen Einführung folgen interessante, gleichwohl nebeneinander stehende und qualitativ unterschiedlich ausgewiesene Beiträge bzw. Reflexionen stattgefundener und stattfindender Veränderungsprozesse in der sozialen Arbeit. Kritisch inspirierend sind WendtsAnmerkungen zu den Dimensionen von Innovation, deren ursprünglichen Herleitung aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich und die dann folgende Adaption in sozialwirtschaftliche, bedarfswirtschaftliche Handlungsfelder. Die klassische Produkt-, Verfahrens- und Prozessinnovation wird hierbei erweitert um die Kategorie der Sozialinnovationen, die u.a. verweisend auf Zapf definiert werden als "neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt zu werden" (S. 16). Soziale Innovation ist damit keineswegs unmittelbar und zwangsläufig auf Soziale Arbeit ausgerichtet, sondern vielmehr auf gesellschaftliche Aggregate, innerhalb derer die Soziale Arbeit durchaus eine hohe Relevanz haben kann, aber keineswegs haben muss. Historische und aktuelle Beispiele exemplifizieren literaturgestützt diese Zusammenhänge von Sozialer Innovation und Sozialer Arbeit und verdeutlichen, dass Einrichtungen alleine soziale Innovationen bestenfalls ausbrüten, nicht aber im gesellschaftlichen Umfeld verankern können, es hierzu weiterer Bedingungen bedarf. Und ebenso wird deutlich, dass der in sozialen Handlungsfeldern oftmals strapazierte Begriff des "Projektes", ungeachtet der damit teilweise verbundenen Neuerungen, begrifflich dann von Innovationen zu unterscheiden ist, wenn sich hiermit keine weiterführenden Reformprozesse verbinden. Als positive Beispiele nennt Wendt hier die aus der "Aktion Psychisch Kranke" hervorgehende Psychiatrie-Reform Anfang der 1970er Jahre oder das der Gründung von Tagesmüttervereinen folgende Bundesmodellprojekt "Tagesmütter" Mitte/Ende der 1970er Jahre. Dass bereichsspezifische Neuerungsprojekte zuweilen innovative Entwicklungen in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen auslösen und befördern, wird am Beispiel der in den 1990er Jahren initiierten Seniorengenossenschaften deutlich, die weniger eine neue Kultur der Altenhilfe begründeten, als vielmehr zu einer Ausweitung des bürgerschaftlichen Engagements führten.
Was soziale Innovation ist, erweist sich damit oftmals erst als das Ergebnis einer ex post Betrachtung. Gleichwohl lässt sich die Absicht von sozialer Innovation von dem bloßen Verlangen nach Erneuerung bzw. Veränderung unterscheiden. Können sich letztere durchaus legitimieren an einer erfolgreicheren Kundengewinnung, einem größeren Verkaufserfolg oder einer verbesserten Effektivität und Effizienz vorhandener Ressourcen, so müssen sich soziale Innovationen daran messen lassen, ob und in wie weit sie einen Beitrag zur Lösung bzw. qualitativ besseren Bewältigung sozialer Probleme leisten. "Eine Innovation bringt definitiv eine Besserung; Neuerungen in der sozialen Praxis sind also darauf zu besehen, ob und inwiefern sie nachhaltig in der Wohlfahrt von Menschen und in der Gesellschaft positiv wirken." (S. 48)
Zielgruppen und Fazit
Fachkräfte in der Sozialwirtschaft, Mitarbeiter/innen in Projekten, aber ebenso auch Studierende des Sozialwesens finden im vorliegenden Text fachliche Anregungen, um sich bei der Ausgestaltung eigener Projekte nicht nur von tagespragmatischen Überlegungen leiten zu lassen. Und in gleicher Weise kann das Buch helfen, ein technisch verengtes Innovationsverständnis und damit einhergehende managerielle Orientierungen zu überwinden. Allerdings dürfte der nicht nachvollziehbare Preis von 27 EURO einem solchen Anliegen nicht gerade förderlich sein.
Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker
bis 2009 Leiter des FSP Wohlfahrtsverbände / Sozialwirtschaft der Hochschule Düsseldorf; Prof. am Zentrum für Planung und Organisation sozialer Dienster, Universität Siegen; Prof. für Sozialmanagement an der Hochschule des DRK Göttingen (nicht mehr bestehend!); hauptamtlicher Dekan a.D./Vizepräsident und Professor für Verwaltungs- und Organisationswissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Fakultät Wirtschaft und Soziales, seit 2011 im Ruhestand. Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg. Nebenberuflicher Direktor am Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft – IZGS - der Evangelischen Hochschule Darmstadt, www.izgs.de. Inhaber und Leiter des Instituts für sozialwissenschaftliche Politik- und Organisationsberatung – ISP – Köln
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Es gibt 13 Rezensionen von Karl-Heinz Boeßenecker.
Zitiervorschlag
Karl-Heinz Boeßenecker. Rezension vom 18.04.2006 zu:
Wolf Rainer Wendt (Hrsg.): Innovation in der sozialen Praxis. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2005.
ISBN 978-3-8329-1514-8.
Reihe: Forschung und Entwicklung in der Sozialwirtschaft - Band 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3181.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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