George A. Bonanno: Das Ende des Traumas
Rezensiert von Prof. Dr. med. Vera Hähnlein, 23.12.2024
George A. Bonanno: Das Ende des Traumas. Wie das Wissen über Resilienz unser Traumaverständnis revolutioniert. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 320 Seiten. ISBN 978-3-608-98688-4. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Thema
Das Buch versteht sich als Gegengewicht zur weitverbreiteten Ansicht, dass traumatische Ereignisse zwangsläufig zu langfristigem Leid führen, und betont die Selbstheilungskräfte von Menschen. Der Autor legt dar, dass Resilienz nicht Seltenheitswert hat, sondern die Norm darstellt.
Autor:in oder Herausgeber:in
George A. Bonanno ist Resilienzforscher und Professor für Klinische Psychologie am Teachers College der Columbia University. Besondere Forschungsschwerpunkte sind die Themenbereiche Resilienz bei Trauer und Trauma. Er ist Direktor des „Loss, Trauma, and Emotion Lab“ im Department of Counseling and Clinical Psychology in New York City.
Entstehungshintergrund
Bonanno, der ursprünglich aus der Resilienzforschung im Bereich von Trauer und Verlust stammt, hat im Zusammenhang mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 zu seinen alten Wurzeln zurückgefunden. Bereits während seiner Ausbildung hatte er ein Jahr lang mit Kriegsveteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) gearbeitet und war verwundert, „dass einige der Veteranen nicht wirklich unter PTBS zu leiden schienen, obwohl sie diese Diagnose erhalten hatten“ (S. 48f).
Aufbau
In 5 Buch-„Teilen“ mit jeweils 2 Kapiteln führt der Autor von der historischen Entstehung des Traumabegriffs zu der von ihm entwickelten Methode der Flexibilitätssequenz.
Anhand der traumatischen Unfallgeschichte von Jed N. McGiffin, einem Klinischen Psychologen, der bei ihm promoviert hat und inzwischen auf Rehabilitationspsychologie spezialisiert ist, leitet George Bonanno die Leser*innen zur zentralen Frage des Buches: „Wie ist es möglich, dass ein Mensch nach einer so schrecklichen Erfahrung ganz gut zurechtkommt?“ (S. 18). Neben diesem eindrucksvollen Beispiel erläutert er typische Traumaphänomene und -folgen an Berichten von Betroffenen des Terroranschlags vom 11. September 2001.
Inhalte
Teil 1 „Zwei Drittel“ besteht aus den zwei Kapiteln „Die Erfindung von PTBS“ und „Die Entdeckung der Resilienz“. Bonanno beschreibt zunächst die frühen Anfänge der Psychotraumatologie und skizziert Phänomene wie „Railway Spine“ und „Shellshock“. Er nimmt Bezug zur „Traumatischen Neurose“ von Hermann Oppenheim, um schließlich die Ausweitung der Diagnose PTBS zu einem „Massenphänomen“ (S. 42) zu kritisieren. In Kapitel 2 erläutert er den Begriff „Resilienz“, der auf den kanadischen Ökologen Crawford Stanley Holling zurückgeht. Dieser hatte sich mit der Widerstandskraft von Wäldern als Biotopen auseinandergesetzt und deren Reaktion auf Waldbrände und Insektenplagen erforscht. Dabei kam er zu dem Schluss, dass die erzwungenen Anpassungsprozesse neue Entwicklungsprozesse ermöglichten. Bonanno argumentiert, dass der Beginn der Erforschung menschlicher Resilienz – die Kauai-Studie – zeigt, dass auch Kinder zu diesen enormen Anpassungsleistungen in der Lage sind. Dabei handelt es sich aber eben nicht um die Ausnahme, sondern eher die Regel, wie der Autor unter Verweis auf Ann Masten, die den Begriff der „gewöhnlichen Magie“ – „ordinary magic“ (Masten 2015) – geprägt hat, darlegt. Am Beispiel des Terroranschlags vom 11. September 2001 zeigt Bonanno auf, dass wider Erwarten keine „traumatisierte Gemeinschaft“ entstanden ist, sondern der Großteil der betroffenen Bevölkerung zwar kurzzeitig „unter Stress, verstörenden Träumen oder Albträumen oder Angstgefühlen, wenn sie an das Ereignis erinnert werden“ (S. 55) leiden, sich aber dann relativ rasch wieder erholen. Er kritisiert, dass die psychologische Fachwelt im Sinne eines „blinden Flecken“ die Prävalenz von Traumafolgestörungen überschätzt. Das resiliente Reaktionsmuster auf traumatische Ereignisse, das häufigste neben der allmählichen Erholung und der Entwicklung chronischer Symptome, wird dagegen zu wenig berücksichtigt (S. 55 ff.).
Teil 2 ist den Themen Resilienz und Resilienzparadox gewidmet. Bonanno versteht Resilienz als „ein Muster anhaltender psychischer Gesundheit nach potenziellem Trauma“ bzw. „ein stabiles Reaktionsmuster gesunder Funktionsweisen“ (S. 117). Er erläutert, dass die Vorhersagevalidität zum Outcome jedoch trotz des Wissens zu Resilienzfaktoren noch immer gering ist. Verhaltensweisen, die kurzfristig die Belastbarkeit eines Individuums fördern, können langfristig die Vulnerabilität erhöhen. Das bezeichnet er als paradox.
In Teil 3 erläutert der Autor das Konzept der Flexibilität. Diese stellt sich jedoch nicht passiv ein, sondern es bedarf eines gewissen Maßes an „engagierter Anstrengung“ (S. 117), des passenden Mindsets, um erfolgreich zu sein. Von zentraler Bedeutung ist hierfür ein flexibles Selbstbild. Er benennt drei wesentliche Kernbestandeile dieses Mindsets: Optimismus in Bezug auf die Zukunft, Vertrauen in die eigenen Bewältigungsfähigkeiten und die Bereitschaft, eine Bedrohung als Herausforderung anzusehen (S. 118). Die Synergieeffekte der drei Überzeugungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, adaptive Lösungen zu finden. Der Flexibilitätsprozess besteht Bonanno zufolge aus dem flexiblen Selbstbild und der Flexibilitätssequenz.
Im 4. Teil analysiert Bonanno die Flexibilitätssequenz. Der erste Teil in der Sequenz ist die Sensibilität für den Kontext, d.h. es geht zunächst darum, die Anforderungen korrekt wahrzunehmen: „>Was passiert mir?˂, >Was ist das Problem?˂ und >Was muss ich tun, um die Situation zu bewältigen?˂“ (S. 166). Zudem müssen die Kontextfaktoren auch noch adäquat gedeutet werden, um die passende Reaktion zu entwickeln. Der zweite Schritt umfasst das Repertoire an Verhaltensweisen und emotionalen Reaktionen, das flexible Anpassungsprozesse je nach Situationskontext ermöglicht: „>Was kann ich tun?˂“ (S. 171). Der dritte Schritt entspricht der Feedbackkontrolle, die einen Korrekturprozess ermöglicht, falls sich die gewählte Strategie als nicht so funktionstüchtig und zielführend erweist: „>Habe ich die Herausforderung bewältigt?˂, >Funktioniert mein Ansatz?˂, >Muss ich meine Reaktion abwandeln?˂ und >Soll ich eine andere Strategie ausprobieren?˂“ (S. 177).
Teil 5 schließlich, befasst sich mit der praktischen Umsetzung und Implementierung der Flexibilitätssequenz. Es geht darum, individuelle Strategien zu entwickeln, um einen flexiblen Umgang mit schwierigen Herausforderungen zu entwickeln. Bonanno erläutert das Selbstgespräch als ein „erfolgreiches Lernmittel“, das sich am wirkungsvollsten gestaltet, wenn es bewusst und damit zielgerichtet eingesetzt wird (S. 216). Angewandt auf das flexible Selbstbild kann daraus ein „affirmativer Monolog“ entstehen, um die motivierende Wirkung des Optimismus anzuschieben (>Alles wird gut.˂), das Vertrauen in die eigenen Bewältigungsmechanismen zu stärken (>Ich besitze die Fähigkeiten, die Aufgabe zu meistern.˂) und zugleich die Bereitschaft zu fördern, die Bedrohung als Herausforderung anzunehmen (>Ich werde tun, was nötig ist.˂). (S. 216f) Letztlich geht es nach Bonanno in erster Linie darum, ein flexibles Mindset zu kultivieren, um darüber einen Zugang zu den individuellen Lösungsstrategien zu eröffnen. Dieses ist die Grundlage für einen Erkundungsprozess über das Wesen der Kontextanforderungen, zu den Strategien, die der jeweiligen Person in ihrem Repertoire zur Verfügung stehen, hin zur Feedbackschleife, ob die Vorgehensweise zielführend ist.
Diskussion
Bonanno mahnt eine differenziertere Sichtweise auf Trauma und Resilienz, basierend auf wissenschaftlicher Forschung und praktischen Erkenntnissen, an. Er vertritt die Überzeugung, dass traumatische Ereignisse die Menschheit seit jeher begleiten, formen und herausfordern. Im Kontrast zur gängigen psychotraumatologischen Literatur betont er die evolutionsbedingte Bedeutung vom Flexibilitätsprozess und versucht, diesen den Leser*innen nahezubringen. Er präsentiert seinen resilienzzentrierten Ansatz im Umgang mit Psychotrauma anhand des bewegenden Beispiels von seinem Kollegen Jed N. McGiffin. Dieses begleitet die Leser*innen wie ein Roter Faden durch das gesamte Buch und ermöglicht die unmittelbare Anwendung des Ansatzes auf die Praxis. Anhand zahlreicher anderer sensibel und detailliert herausgearbeiteter Beispiele von Betroffenen stellt der Autor immer wieder den Theorie-Praxis-Transfer ins Zentrum seiner Arbeit.
Fazit
Das Buch überzeugt durch die zahlreichen Studien, mit denen Bonanno die in der Psychotraumatologie gängige Sicht ergänzt, aber auch in Frage stellt. Er provoziert und fordert zum Umdenken heraus. Bonanno setzt dadurch dem Trend, Menschen, die traumatische Ereignisse durchgemacht haben, übermäßig zu pathologisieren, einen salutogenetischen Ansatz entgegen, der auf die Selbstheilungskräfte von Menschen vertraut. Er betont die erstaunliche Fähigkeit des Menschen, durch Resilienz schwersten traumatischen Belastungen zu trotzen und daran zu wachsen. Ein durchaus lohnendes Buch.
Literatur
Masten, Ann (2015). Ordinary Magic: Resilience in Development. New York: Guilford Publications.
Rezension von
Prof. Dr. med. Vera Hähnlein
Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Beratung an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin
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Es gibt 3 Rezensionen von Vera Hähnlein.
Zitiervorschlag
Vera Hähnlein. Rezension vom 23.12.2024 zu:
George A. Bonanno: Das Ende des Traumas. Wie das Wissen über Resilienz unser Traumaverständnis revolutioniert. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024.
ISBN 978-3-608-98688-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31830.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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