Irvin D. Yalom, Molyn Leszcz: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie
Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 20.06.2024
Irvin D. Yalom, Molyn Leszcz: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Das Lehrbuch. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2024. 15., überarbeitete Neu Auflage. 704 Seiten. ISBN 978-3-608-98781-2. D: 65,00 EUR, A: 66,90 EUR.
Thema
Die Erstauflage dieses Buches erschien vor 54 Jahren (Theory and Practice of Group Psychotherapy. Basic Books, New York 1970); seither hält Yalom das Werk auf dem neuesten Stand des Wissens, ab der 5. amerikanischen Auflage unterstützt von Molyn Leszcz. Die vorliegende deutsche Ausgabe (15. Auflage) ist die Übersetzung der 6. amerikanischen, die beide Autoren gleichberechtigt bearbeitet haben. Schon die letzte Auflage erreichte mehr als 700.000 Exemplare [1]. Es handelt sich nicht nur um einen Bestseller, sondern nach Ansicht von Experten [2] um einen echten Klassiker.
Autoren
Irvin D. Yalom (*1931), in orthodoxem jüdischem Milieu in Washington aufgewachsen, studierte in Washington und Boston und lebt inzwischen in Palo Alto. Er ist Psychoanalytiker (interpersonell), Psychiater und Psychotherapeut; 1956 promovierte er zum Dr. med. und ist (seit 1994 emeritierter) Professor für Psychiatrie an der Stanford University. Aus der 1956 geschlossenen Ehe mit der feministischen Literaturwissenschaftlerin Marilyn Yalom (2019+) gingen vier Kinder hervor. Yalom hat zahlreiche wissenschaftliche und literarische Texte und Bücher verfasst, auch gemeinsam mit seiner Frau. Neben dem hier besprochenen Werk ist auch „Existenzielle Psychotherapie“ ein anerkanntes Referenzwerk. Über die Forschung und Praxis der Gruppentherapie hinaus beschäftigt sich Yalom wissenschaftlich seit vielen Jahren mit dem Thema Tod und Sterben. Er erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Internationalen Sigmund Freud Preis 2009.
Molyn Leszcz, Prof. Dr. med. war Direktor an der Psychiatrischen Klinik der Universität in Toronto und dem jüdischen Mount Sinai Hospital dort; er lernte Yalom zu Beginn seiner psychiatrischen Kariere in Stanford kennen. Leszcz war Vorsitzender des amerikanischen Gruppentherapeutenverbands.
Entstehungshintergrund
Yaloms Buch erschien in Deutschland als eine der ersten internationalen Publikationen zum Thema Gruppenpsychotherapie im Kindler Verlag (1974); zurzeit der Erstveröffentlichung waren Gruppen ein wichtiges Thema der Alternativkultur, etwa Encountergruppen, Wohngemeinschaften, Kinderläden etc. und so auch Psychotherapiegruppen. In Westdeutschland formulierten Autor:innen wie Annelise Heigl-Evers oder Horst-Eberhard Richter, in der DDR Kurt Höck, ihre Gruppenkonzepte. Heute sind die genannten längst verstorben und ihre Texte vergriffen. Erst in der Gegenwart besinnt sich die Fachöffentlichkeit erneut dieser Möglichkeiten. Gruppenbehandlung gilt auf vielen Gebieten der Einzeltherapie als ebenbürtig, teilweise sogar überlegen (etwa bei Substanzabhängigkeit).
Aufbau und Inhalt
In 16 Kapiteln und mit einem umfangreichen Anhang (allein 107 Seiten Endnoten) überschreitet das Handbuch den Umfang üblicher Lehrtexte (691 Seiten, davon 583 Seiten Fließtext). Dennoch lässt sich das Buch gut lesen, und zuweilen entsteht auch Spannung, ja man gerät in einen inneren Dialog mit den Autoren. Ein Werk dieses Umfangs zu besprechen, erfordert die Konzentration auf zentrale Themen. Das Buch geht zuweilen sehr ins Detail; so wird auf 54 Seiten beschrieben, wie man die Gruppenteilnehmer auswählt und vorbereitet.
Von meiner Identität als Gruppenanalytiker ausgehend, stand ich der klinischen Theorie und dem Fallkonzept Yaloms mit einigen Fragen gegenüber. Ich hatte die vorangegangene Auflage nur diagonal gelesen und habe nach der Lektüre der vorliegenden Ausgabe das Bedürfnis vertieft, der Entwicklung der Theorie nachzugehen:
Trotz der langen Editionsgeschichte mutet der Text erstaunlich aktuell an (so beziehen sich die Autoren auf neuere Entwicklungen in der Bindungstheorie, auf Texte aus dem Umfeld der Fonagy-Forschungsgruppe – etwa das Konzept des epistemischen Vertrauens – und auf erst kurz zurückliegende Ereignisse, etwa die Covid19-Pandemie). Obwohl Theorieoffenheit beansprucht wird, entspricht der Text recht stringent dem Denken der interpersonellen Psychoanalyse: Harry Stack Sullivans Theorie wird ausführlich dargestellt, Balints Begriff Ein- und Zweipersonen-Psychologie wird beleuchtet, und überhaupt spielt Interpersonalität im Sinn der Genese der Persönlichkeit eine zentrale Rolle. Immer wieder scheint das Hier und Jetzt als Matrix der Veränderung auf, gegenüber dem „Dort und Damals“ einer traditionellen Psychoanalyse. Neuen Identitätsformen wie Nonbinarität oder Transidentitäten werden z.B. auch interkulturelle Konflikte im Lichte der Debatte um Postkolonialismus besprochen. Das Autorenpaar bekennt sich zur Evidenzbasierung und zur Notwendigkeit empirischer Forschung in der Psychotherapie. Mit anderen Worten: Die Autoren, der eine in den 90ern, der andere die 60 überschritten, legen ein erstaunlich frisches und aktuelles Buch vor, dem seine bald 60 Jahre Editionsgeschichte nicht anzumerken sind. Wenn nun die Frage auftaucht, könnte heute jemand ein solches Werk verfassen, so müsste gesagt werden, wohl kaum, heutige Effizienzzwänge lasse eine so intensive Beschäftigung mit einem Thema kaum mehr zu.
Die 16 Kapitel tragen folgende Überschriften:
- Die therapeutischen Faktoren
- Interpersonelles Lernen
- Die Kohäsionskraft der Gruppe
- Die therapeutischen Faktoren – Ein integrierter Überblick
- Der Therapeut – Grundlegende Aufgaben
- Der Therapeut – Arbeiten im Hier und Jetzt
- Der Therapeut: Übertragung und Transparenz
- Klienten auswählen und Gruppen zusammenstellen
- Bildung der Gruppe
- Zu Beginn
- Die fortgeschrittenen Gruppenanalytiker
- Arbeit mit herausfordernden Gruppenmitgliedern
- Spezielle Behandlungsformen und Techniken
- Online Psychotherapiegruppen
- Spezialisierte Therapiegruppen
- Die Ausbildung der Gruppentherapeuten
Anhang
Der Pragmatismus dieser Agenda könnte sich auch in einem Therapiemanual wiederfinden; obwohl auch Forschungsliteratur breit rezipiert wird und wichtige Aussagen oft belegt sind, findet sich etwa keine Diskussion alternativer Konzepte, Foulkes etwa hat ähnliche Fragen anders beantwortet, und selbst zu amerikanischen Zeitgenossen, etwa Slavson finden sich keine Aussagen.
Nach Ansicht von Yalom und Leszcz lässt sich das Geschehen in therapeutischen Gruppen in 11 primäre (Wirk)faktoren unterteilen (S. 18).
- Hoffnung wecken
- Universalität des Leidens
- Mitteilung von Informationen
- Altruismus
- Korrigierende Rekapitulation des Geschehens in der Primären Familiengruppe
- Entwicklung von sozialer Kompetenz
- Imitationsverhalten
- Interpersonelles Lernen
- Gruppenkohäsion
- Katharsis
- Existenzielle Faktoren
Nicht allein das therapeutische Können der Therapeut-innen macht die Leistungsfähigkeit der Gruppentherapie aus; auch in der Gruppe selbst liegen einige Vorteile: Entwicklung sozialer Kompetenz, Imitationsverhalten, interpersonelles Lernen und Gruppenkohäsion sind in der dyadischen Situation weniger bzw. nicht gegeben. Die Universalität des Leidens und daraus entstehende Solidarität kann zwar auch reflexiv erfahren werden – in der Gruppe wird das unmittelbar erfahrbar.
Behandlungstechnisch vertritt Yalom einen konsequent gegenwartsbezogenen und szenischen (gegenüber einem biographischen) Fokus und Zugang; das Hier und Jetzt ist der Ausgangspunkt für alle denkbaren Veränderungen:
„Die unmittelbaren Ereignisse in der Sitzung haben Vorrang vor denjenigen im realen Leben der Gruppenmitglieder sowie auch vor allem, was sie in der Vergangenheit erlebt haben“.
Die zweite Ebene des Arbeitens am Hier- und Jetzt-Fokus ist der Klärung des Prozesses gewidmet. Mit Prozess ist in diesem Zusammenhang die Dynamik der Übertragung gemeint oder, wie es im Originaltext heißt, die „Art der Beziehung zwischen den interagierenden Einzelnen – Mitgliedern und Therapeuten“ (S. 168).
In diese Interpretation (Deutungen) geht eine große Zahl an Faktoren ein, etwa die innere Welt der Gruppenmitglieder, die interpersonelle Interaktion und die Kräfte in der Gruppe als Ganzes wie die klinische, soziokulturelle und politische Umgebung der Gruppe (S. 169).
Im weiteren Verlauf werden eine Reihe eher praktischer Fragen beleuchte, etwa, wie mit den zeitlichen Begrenzungen umgegangen werden kann, wie mit Klienten, die pausenlos sprechen oder aber gar nicht, was mit akut psychotischen Klienten zu tun sei; wie Gruppentherapie mit anderen Behandlungsformen kombiniert werden kann, wie sich Gruppen online abhalten lassen; welche Vor- und Nachteile Gruppen für Klienten während in ihrer stationären Einrichtung haben oder für solche, die ein gleiches psychiatrisches Störungsbild aufweisen.
Das Ende bildet eine relativ knappe Darstellung der Ausbildung von Gruppentherapeut-innen.
Diskussion
Mit diesem Buch legen die Autoren ein gut anwendbares Manual für Gruppenpsychotherapeut-innen vor. Wer mehr an klinischen Fällen interessiert ist, kann parallel Yaloms: „Die Schopenhauer Kur“ lesen, einen Roman, dem eine Gruppentherapie zugrunde liegt. In der Theorieentwicklung steht das Werk der modernen intersubjektiven Psychoanalyse und der interpersonellen Therapie nah, aber auch der mentalisierungsbasierten Gruppentherapie, ohne direkt zu diesen Schulen zu gehören. Ein wesentlicher Mentor Yaloms, Jerome D. Frank war ein Schüler und enger Mitarbeiter von Kurt Lewin, welcher u.a. die T-Gruppenbewegung begründete. Auch über diesen Weg mag Yalom Anregungen erhalten haben. Im Text wird gleichzeitig deutlich, worin sich Yaloms Ansatz von Encounter Gruppen oder Gestalttherapiegruppen unterscheidet. Auch Bions Konzept der Gruppe als Gesamtindividuum beeinflusst Yalom, wobei er die Idee der Grundannahme-Gruppen von Bion durchaus teilt und in besonderen Situationen die Gruppe auch als Adressat für Deutungen sieht. Im Allgemeinen soll allerdings die Übertragung in Hier und Jetzt adressiert werden, womit Yalom durchaus der zeitgenössischen relationalen Psychoanalyse (Stephen Mitchell) nah steht, vielleicht näher als ihm lieb ist. In diesem Sinn ähnelt das Yalomsche Vorgehen auch dem psychoanalytisch interaktionellen Verfahren, das von Heigl, Heigl-Evers, Ott, Streeck und Leichsenring entwickelt bzw. weiterentwickelt wurde.
So nimmt es nicht Wunder, dass Yalom für sein Verfahren den Begriff der interpersonellen Therapie als Synonym verwendet und es von strukturierten Verfahren (etwa VT oder systemische Gruppen) und nach der anderen Seite auch von analytischen Gruppen (mit einem Fokus auf dem Dort und Damals) oder humanistischen Gruppen (keine Beachtung des Prozesses) abgrenzt.
Fazit
Das maßgebliche Handbuch der psychodynamischen Gruppentherapie liegt nun in einer hervorragend editierten, überarbeiteten und erweiterten Neuauflage vor. Ich halte es für ein Muss für alle, die sich professionell mit Gruppen beschäftigen, Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Lehrer, und für einen großen Gewinn auch für alle, die sich „nur“ täglich in Gruppen bewegen und sich für den sozialen Wandel in der Gesellschaft interessieren.
Literatur
Foulkes, S. H. (1964): Therapeutic group analysis, London: Karnac Books
Heigl-Evers, Anneliese (1972): Konzepte der analytischen Gruppenpsychotherapie. Beiheft 2 der Zeitschrift Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik, Göttingen: Verlag für Med. Psychologie
Höck, Kurt (1978): Gruppenpsychotherapie. Einführung und Aspekte, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften
Mitchell, Stephen A. (2003): Bindung und Beziehung. Auf dem Weg zu einer relationalen Psychoanalyse, Gießen: Psychosozial Verlag
Richter, Horst Eberhard (1972):Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien; Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Slavson, S. R. (1964/dt. 1977): Analytische Gruppentherapie: Theorie und paktische Anwendung, Frankfurt: Fischer
Sullivan, Harry Stack (1953/dt.1980): Die interpersonelle Theorie der Psychiatrie, Frankfurt: Fischer
Yalom, Irvin D. (1970):Theory and Practice of Group Psychotherapy. Basic Books, New York 1970
Yalom, Irvin D. (1974): Theorie und Praxis der Gruppentherapie, München; Kindler
Yalom, Irvin D. (2005): Die Schopenhauer-Kur, München: Goldmann
Yalom, Irvin D. (1989): Existenzelle Psychotherapie, Köln: Edition Humanistische Psychologie
Yalom, Irvin D. (2008): In die Sonne schauen. Wie man die Angst vor dem Tod überwindet, München: Btb
[1] nach der Hompage von Irvin Yalom, Zugriff am 29.5.24
[2]  Prof. Dr. Bernhard Strauß, Direktor des Instituts für Psychosoziale Medizin und Psychotherapie der Universität Jena
Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 20.06.2024 zu:
Irvin D. Yalom, Molyn Leszcz: Theorie und Praxis der Gruppenpsychotherapie. Das Lehrbuch. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2024. 15., überarbeitete Neu Auflage.
ISBN 978-3-608-98781-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31832.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
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