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Barbara Couvert: Vererbte Geschichte

Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 01.08.2024

Cover Barbara Couvert: Vererbte Geschichte ISBN 978-3-8497-0427-8

Barbara Couvert: Vererbte Geschichte. Wie psychische Erfahrungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. 191 Seiten. ISBN 978-3-8497-0427-8. D: 39,00 EUR, A: 40,10 EUR.
Reihe: Systemische Therapie.

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Thema

Barbara Couvert ergänzt die klassische transgenerationale Genogrammarbeit mit neurowissenschaftlichen und genetischen Perspektiven. Hierbei beschreibt sie physiologische Prozesse, die verstehen lassen, inwieweit uns die Geschichte der Vorfahren betreffen und prägen kann. Die Familiengeschichte kann voller Wiederholungen stecken. Barbara Couvert stellt emotionale Zusammenhänge der Familiengeschichte her, bei denen ein Vorfahre traumatisierende Ereignisse durchlebte. Diese Emotionen, so die Autorin, prägen sich in das Gedächtnis des Betroffenen ein, werden gespeichert und anschließend auf sehr effiziente Weise weitergegeben. Dies bezieht sich z.B. auf Jahrestage, die auf bestimmte Weise zusammenfallen oder Krankheiten, die deutlich machen, was Vorfahren erlebt haben. Allerdings ließe sich dieses Erbe auch verändern. Couvert führt ihre Überlegungen an vielen Beispielen aus.

Autorin

Barbara Couvert ist Psychosoziologin und Gestalttherapeutin. Sie absolvierte Weiterbildungen in Gestalttherapie, Psychodrama und Psychogenealogie (bei Anne Ancelin Schützenberger). Sie arbeitet seit langem als Sonderbeauftragte für Berufseingliederung.

Aufbau

Das aus dem Französischen übersetzte Buch aus dem Jahr 2021 gliedert sich (nach dem Vorwort von Bruno Hildenbrand) in zehn Kapitel mit einer anschließenden Danksagung, dem Literaturverzeichnis und Hinweisen über die Autorin.

Inhalt

Nach dem Vorwort von Bruno Hildenbrand leitet die Autorin im ersten Kapitel kurz in ihr Buch ein, indem sie deutlich macht, dass die Beschreibung neuer physiologischer Erkenntnisse der Neurowissenschaften und der Genetik (Spiegelneuronen, Gehirnwellen) zu einem besseren Verständnis der transgenerationalen Weitergabe führen. Dieses Wissen ermöglicht ein vertieftes Verständnis, wie die Geschichte der Vorfahren die Nachkommen prägen kann. Tiefe traumatisierende Emotionen würden sich in das Gedächtnis der Betroffenen einprägen und auf unsichtbare, aber sehr effiziente Weise weitergegeben werden.

Im zweiten Kapitel „Emotionen und Gedächtnis“ vermittelt Couvert grundlegende Erkenntnisse über die Zusammenhänge zwischen Emotionen und Gedächtnis. Deutlich wird, dass Emotionen Spuren in unserem Körper hinterlassen. Dabei sind Emotionen und Gedächtnis nicht voneinander zu trennen. Emotionen hinterlassen immer Spuren in unserem Körper und unserer Psyche. Um zu überleben, müssen wir Gefahren erkennen und wiedererkennen. Dabei ist die Erinnerung umso intensiver, je stärker die Emotion ist, die mit dem erinnerten Ereignis in einem Zusammenhang steht.

Der Schwerpunkt der Ausführungen liegt in der Beschreibung von Prozessen, die zu einer Traumatisierung führen. Beschrieben werden Beispiele einer unbewussten Wiederholung, in deren Folge es zu somatischen Störungen kommt (z.B. einer Bronchitis) kommt.

Ihr Konzept der Somatisierung führt Couvert im dritten Kapitel weiter aus. Zunächst wird die funktionelle Konversion beschreiben, bei der das Organ nicht funktioniert und nicht geschädigt ist. So soll z.B. der Beginn einer Multiple-Sklerose Erkrankung auf den Tag eines schweren Wirbelsäulenunfalls eines Freundes zurückzuführen sein. Eine Operation sei in diesem Fall nach einer Psychotherapie nicht mehr nötig gewesen.

Im Weiteren grenzt sich die Autorin von verschiedenen PsychoanalytikerInnen und ihren Theorien zu psychosomatischen Phänomenen ab. Sie will an Beispielen, z.B. von der mehrgenerationalen Wiederholung von Jahrestagen, deren Einfluss auf schwere körperliche Erkrankungen aufzeigen. 

Im vierten Kapitel werden Beziehungen vom Körpergedächtnis mit den Gehirnwellen, der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse, dem Gedächtnis unserer Gewebe und der Epigenetik hergestellt. Quellen werden hier (S. 58f) nicht genannt.

Im fünften Kapitel folgen allgemeine Aussagen zum System Familie und dem Modell des Kontenbuches zwischen den Generationen und der Bedeutung von Loyalität.

Im sechsten Kapitel beschäftigt sich Couvert mit der Bedeutung von Familiennamen und Vornamen in der Generationenfolge. Vornamen werden zu Trägern von Erinnerungen, Träumen und Plänen. Dargestellt wird dies u.a. an der Lebensgeschichte der Brüder Vincent und Theo van Gogh.

Mit weiteren transgenerationalen Wiederholungen innerhalb der Familie beschäftigt sich die Autorin im siebten Kapitel. So könne z.B. öfters beobachtet werden, dass wenn eine Tochter vor der Eheschließung ihrer Mutter geboren wird, sich dies in der nächsten Generation fortsetzt. Auch Scheidungen können in der Generationenfolge im selben Jahr erfolgen.

Dezidierter wird an beispielhaften Fällen im achten Kapitel aufgezeigt, dass die transgenerationale Weitergabe bereits vor der Geburt beginnen kann. Starker Stress oder Traumata können zu Veränderungen der Genexpression führen. (Leider werden nur teilweise Quellen benannt.)

Mit der Weitergabe durch Beeinflussung im Alltag in Bezug auf schädigendes sexuelles und religiöses Verhaltens ihrer Eltern beschäftigt sich Couvert im neunten Kapitel. Zudem thematisiert sie eine besondere Art der Kommunikation in Situationen von starkem oder chronischem Stress und thematisiert erneut transgenerationale Somatisierungen.

Heilung und Resilienz sind die Themen des zehnten Kapitels. Couvert betont die Bedeutung der Resilienz, einer anregenden Umgebung und die Bedeutung einer Psychotherapie für die Heilung.

Das Buch endet im elften Kapitel mit kurzen Schlussfolgerungen. Demnach könnten die Synchronisierung der Gehirnwellen (S. 180) und eine telepathische Kommunikation uns in Extremsituationen und Stress in die Lage versetzen, konkrete Informationen weiterzugeben, die dann zu Krankheiten führen.

Das Buch schließt mit einer Danksagung, dem Literaturverzeichnis und Angaben über die Autorin.

Diskussion

Manche der Aussagen und Beispiele der Autorin erlebe ich als spekulativ. Leider werden diese Überlegungen von Barbara Couvert nicht als Konstruktionen bezeichnet. M.E. werden häufiger Beobachtungen verknüpft, die dann verallgemeinert werden. Mit den vorgestellten Beispielen sollen die komplexen Zusammenhänge erklärt werden. Empirische Belege werden nicht vorgelegt, Quellen nur wenig benannt. Skeptisch bin ich beispielsweise bei Aussagen, nach denen erlebte sexuelle Gewalt zu Verschiebungen von einem Organ zu einem anderen, hier zu einer Dickdarmerkrankung (S. 50), führen kann. Zu spekulativ ist mir auch die Anmerkung (S. 181), nach der Quantenphysiker die Meinung vertreten würden, dass sich irgendwo im Universum eine Datenbank befindet, auf die unser Gehirn zugreifen könne. In diesem Fall, so die Autorin, sei das gemeinsame Unbewusste einer Familie ein Teil davon. Solche Spekulationen führen bei mir dazu, dass ich möglicherweise auch durchaus interessante Beobachtungen zu skeptisch sehe. So sollen beispielsweise die emotional gespeicherten Geburtsdaten von Vorfahren (S. 137) Auswirkungen auf aktuelle Geburten oder Todesfälle haben. Schwer zu bewerten bleibt für mich somit, inwieweit es sich hierbei um Zufälle oder Konstruktionen handelt, die von den Beteiligten als schlüssig interpretiert werden. Möglicherweise sind diese erlebten „Verknüpfungen“ nützliche Möglichkeiten, die Lebensgeschichte zu ordnen. Offen ist auch, inwieweit dies alleinige Feststellungen der Autorin sind und wie die Patient*innen dies bewerten.

Den Leser*innen wird eine prägnante, lebendige Darstellung über die Weitergabe von belastenden vererbten psychischen Erfahrungen an nachfolgende Generationen geboten. Anhand von Fallgeschichten werden Zusammenhänge von emotionalen traumatischen Erfahrungen und den emotional gespeicherten Geburtsdaten und Todesdaten der Vorfahren hergestellt, die Auswirkungen auf aktuelle Geburten oder Todesfällen hätten und auch zu körperlichen Erkrankungen der Kinder führen würden. Diese Zusammenhänge seien durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse erklärbar. M.E. sind dies möglicherweise lediglich „konstruierte Zufälle“.

Fazit

Barbara Couvert beschäftigt sich in ihrem Buch mit der Verknüpfung emotionaler Probleme, die im Gedächtnis gespeichert werden und zu einer mehrgenerationalen Traumatisierung führen. Die Autorin ergänzt so die klassische Genogrammarbeit mit neurowissentschaftlichen und genetischen Perspektiven. Sie legt einen Schwerpunkt auf die Weitergabe von belastenden Erlebnissen auf Symptome im Körper.

Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 73 Rezensionen von Jürgen Beushausen.

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ISSN 2190-9245