Hans-Christian Biller: Kleine Gefühle
Rezensiert von Dr. Sven Werner, 01.10.2024
Hans-Christian Biller: Kleine Gefühle. Ein Kompendium von A wie Angstweile bis Z wie Zauderlust. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. 109 Seiten. ISBN 978-3-8497-0527-5. D: 17,95 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
Hans-Christian Biller fokussiert in seinem Band in der Themenreihe Therapie und Humor beim Carl-Auer-Verlag auf „die Welt der kleinen Gefühle“ (S. 1), womit er Emotionen anspricht, welche – ggf. auch unterhalb der Bewusstheitsschwelle – trotz ihrer Unscheinbarkeit „einen tiefgreifenden Einfluss auf unser Denken, Handeln und unsere Beziehungen haben [können]“ (ebd.).
Aufbau
Gegliedert ist die Arbeit nach einer Einleitung in insgesamt 98 kommentar- bzw. glossenartige kurze Texte zu Lemmata, wie „Ritleid“ (S. 59), „Prospektwohligkeit“ (S. 56) „Selbstgüte“ (S. 74) oder „Wurmstolz“ (S. 105). Abgeschlossen wird der Band von einer kurzen Autorenvorstellung.
Inhalt
Zur Bezeichnung der 98 aufgeführten „kleinen Gefühle“ wird jeweils ein (meistens selbstkomponierter) Namensvorschlag präsentiert. Das jeweilige Namens-Kompositum – oftmals ein Kunstwort, wie „Antspannung“ (S. 13), „Ganik“ (S. 27) oder „Uileichterung“ (S. 91) – wird durch den Autoren in der Art eines Lexikons oder Kompendiums in (mit Ausnahme von „Reson“) alphabetischer Anordnung als Lemma aufgelistet. Die Anzahl der Lemmata pro Anfangsbuchstabe variiert zwischen 1 (Anfangsbuchstaben B, C und I) bis 25 (Anfangsbuchstabe S). Einige Buchstaben des Alphabets bekommen kein Lemma zugewiesen (Buchstaben E, V, Q, X und Y). Auf den jeweiligen Titel (s.o.) folgt ein kurzer ein- bis anderthalbzeiliger Definitionsvorschlag, welcher die emotionale Zwischenlage mit einem lebensweltlichen Bezug verbindet. „Streameskummer“ (S. 82) soll bspw. „[d]as dem Liebeskummer ganz ähnliche Gefühl [bezeichnen, SW], wenn eine Serie endet“ (ebd.). Der auf diese Kurzdefinition jeweils folgende emotionsbeschreibende „Erklärungstext“ des Lemmas ist lesbar als eine Art Glosse oder kurzer Kommentar zur Ambiguität und Ambivalenz von Emotionen im Berufs- und v.a. im Privatleben. Abschließend steht jeweils ein knappes Resümee, in welchem die Erörterung der emotionalen Bewegung an empowernde Framings angebunden wird in Art einer pointierten „Moral von der Geschicht“. Wörtlich heißt es bspw. als Fazit zur „Uileichterung“ (S. 91), dem Lemma für die „tiefe Erleichterung, die folgt, wenn eine drohende Katastrophe gerade noch abgewendet wurde“ (ebd.): „Im ,Was-wäre-wenn‘ verbirgt sich die Dankbarkeit für das ,Was-wirklich-ist‘“ (S. 91).
Diskussion
Hans-Christian Billers Band ist ausweislich der Einleitung kein Fachbuch, sondern wirkt eher wie eine Einladung, „sich den eigenen Gefühlen spielerisch und unbeschwert anzunähern“ (S. 9).
Der feuilletonistische Schreibstil und das Wording lassen nach einer ersten Assoziation an Kinder- und Jugendbücher mittelbar auch Vergleiche zur Kolumnenliteratur wie der von Kirsten Fuchs oder Stefan Schwarz zu, wobei Billers Texte im Vergleich kürzer und pointierter gestaltet sind. Gesellschaftliche Implikationen von Gefühlen (wie bei Ute Frevert) oder spezifische negative Emotionen (wie bei Sianne Ngai) bleiben weitgehend außen vor (die Lemmata Wurgs, Wurmseligkeit oder Wutstolz deuten allerdings in diese Richtung), so wie im Übrigen auch Themen der Sexualität nicht sichtbar werden. Der in der thematischen Fokussierung und in Lemmatabezeichnungen wie Holtrost oder Bettfrische zunächst fast schon kindgerecht wirkende Humor könnte bei zweiter Betrachtung als ein Transportmittel für einen akzeptierenden und gewährenlassenden Selbstbezug interpretiert werden, aus dem heraus Einsichten in die und Neukalibrierungen der eigenen emotionalen Verfasstheit möglich scheinen. Insofern dürften nach Wahrnehmung des Rezensenten Themen wie Emotionsarbeit oder mental health, auch wenn sie in den Texten nicht sichtbar anwesend sind, trotzdem in einigen der o.g. Resümees zu den einzelnen Begriffen anklingen.
Das Kompendium zu kleinen Gefühlen wird nach Ansicht des Rezensenten nicht die Lücke im heimischen Regal der Fachliteratur zu Emotionen, Emotionsarbeit oder Emotionssoziologie füllen. Dafür wurde es nicht verfasst und deshalb tut die Einschätzung dem positiven Leseeindruck keinen Abbruch.
Billers Schrift könnte zunächst den Platz im Urlaubskoffer einnehmen, wo sonst die Fachliteratur liegt, die schuldbewusst mit an den Urlaub transportiert und oft ungelesen wieder mitgebracht wird.
Fazit
Das Kompendium „Kleine Gefühle“ transportiert sich leicht und lässt sich mit Gewinn lesen, denn Billers Schrift thematisiert nicht nur Reisen, Aufbrüche und Ankünfte, sondern stiftet eine bereichernde Verbindung zwischen Populärwissenschaft, Lebenswelt und systemischem Reframing.
Mit Hinweis auf die o.g. Bemerkungen zum eher belletristischen Charakter der Kurztexte und auf den Preis, der sich im mittleren Bereich üblicher Taschenbuchpreise bewegt, wird vom Rezensenten eine Kaufempfehlung ausgesprochen.
Rezension von
Dr. Sven Werner
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Es gibt 5 Rezensionen von Sven Werner.
Zitiervorschlag
Sven Werner. Rezension vom 01.10.2024 zu:
Hans-Christian Biller: Kleine Gefühle. Ein Kompendium von A wie Angstweile bis Z wie Zauderlust. Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2024.
ISBN 978-3-8497-0527-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31845.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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