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Teddy G. Goetz, Sophie (Illustrator) Standing: Gender ist ziemlich strange

Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 01.08.2024

Cover Teddy G. Goetz, Sophie (Illustrator) Standing: Gender ist ziemlich strange ISBN 978-3-8497-0528-2

Teddy G. Goetz, Sophie (Illustrator) Standing: Gender ist ziemlich strange. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. 44 Seiten. ISBN 978-3-8497-0528-2. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.
Reihe: Fachbücher für jede:n.

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 Thema

Schon der Begriff GENDER ist für viele zu einem Reizwort geworden, um GENDER wird medial und auf der Straße ein Kulturkampf geführt. Es dreht sich dabei nicht nur um die Sprache, sondern auch um Prinzipien wie Selbstbestimmung und Identität. Die Anti-GENDER Haltung schafft Verbindungen zwischen Fundamentalisten aus dem religiösen und Aktivisten aus dem rechtspopulistischen Raum. Der Papst verbietet den Gebrauch dieses Begriffs. „Besorgte Eltern“ sprechen von einer GENDER-Ideologie, die „unsere Kinder“ schon in der Schule verführen will. Auf der anderen Seite machen GENDER Studies die Bedeutungen und Wirkungen von GESCHLECHT in allen kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Hier geht es um die Erarbeitung evidenzbasierten Wissens zu GESCHLECHT. Beteiligt sind auch die Naturwissenschaften, besonders die Biologie, die medizinischen Wissenschaften und viele Kulturwissenschaften.

Die vorliegende Publikation setzt sich mit der Frage: Was ist GENDER? auseinander, und zwar in Form einer Graphic Novel.

Autor

Verfasst ist der Text von Teddy G. Goetz, Dr. (they/them), Assistenzarzt für Psychiatrie an der Universität of Pennsylvania, eine nicht binäre/trans, queere, neurodivergente, chronisch kranke, jüdische Person (Klappentext).

Die Illustration ist von Sophie Standing, Designerin, spezialisiert auf Humanwissenschaften.

Übersetzt hat das Original Weronika M. Jakubowska

Aufbau

Eine Graphic Novel ist ein Comic, also eine Bildergeschichte in Buchformat. Es gibt kein Vorwort, keine Gliederung, keine Überschriften, Kapitel oder Seitenzahlen. Der Text steht in Sprechblasen oder Graphiken. Etwas ungewöhnlich für eine Bildergeschichte: in diesem Buch sind Fußnoten und ein Literaturverzeichnis vorhanden.

Die gesamte Graphic Novel ist eine „Entdeckungsreise“, in der es um die verschiedensten Aspekte von GENDER geht. Dazu werden Kurzfassungen von wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen vorgestellt, zuletzt gibt es auch eine Anleitung zur Selbstreflexion.

Inhalt

Es beginnt mit Definitionen, mit denen der „binäre Blödsinn“ entlarvt und die „wilde Pracht“ von GENDER gefeiert werden sollen. Definiert wird GENDER als Begriff, der binäre und queere Identitäten umfasst und der seine jeweilige Prägung durch Gesellschaft, Kultur und persönliche Erfahrungen erhält. GESCHLECHT wird demgegenüber als biologischer Begriff gesehen, der sich auf den Chromosomensatz, die Geschlechtsorgane, das hormonelle Milieu und die Anatomie bezieht. Auch GESCHLECHT ist nicht binär zu verstehen, sondern hat sehr viele verschiedene Varianten, Intergeschlechtlichkeit ist nur ein Beispiel. Transgender bezeichnet eine Person, deren GENDER nicht mit dem bei der Geburt zugeschriebenen GESCHLECHT übereinstimmt.

Es werden 16 GENDER Bezeichnungen erklärt, von Mann/Frau bis neuroqueer (das Zusammenspiel von Neurodivergenz und Genderdiversität).

 Nach dieser Besichtigung der Vielfalt von GENDER werden historische und religiöse Quellen vorgestellt, die belegen, dass die Genderdiversität keine neue Erscheinung ist. Schon alte jüdische Texte sprechen von 6 Kategorien von GESCHLECHT, in buddhistischen Texten ist die Rede von 4 Kategorien und einer genderfluiden Gottheit. Andere Kulturen haben so viele Facetten von GENDER, dass sie gar nicht mit den heutigen Begriffen gefasst werden können. Die Zerstörung vieler dieser Kulturen durch weiße, cis männliche Kolonisatoren wird nachgezeichnet und die Verwobenheit des weißen Überlegenheitswahn (white supremacy) mit den westlich geprägten Normen von Geschlecht wird verdeutlicht: der weiße cis Mannes nutzt diese Normen zu einer Abgrenzung von weißen Frauen (gelten als natürlich weiblich) gegenüber nicht weißen Frauen (gelten als unterentwickelt, wild und unbeherrscht). In beiden Fällen sind die Frauen gegenüber dem weißen Mann unterlegen. Ein historischer Blick zeigt, dass die westlich geprägten Geschlechternormen (die scharfe Trennung zwischen Mann und Frau und die entsprechenden Verhaltenserwartungen) verhältnismäßig neu sind.

Welche Teile des eigenen GENDER kommen nun von Innen und welche kommen von der Gesellschaft?

Beantwortet wird diese Frage unter einer GENDER-neurowissenschaftlichen Perspektive. Der bisherige Kontext dieses wissenschaftlichen Zugangs wird als cis-heteronormativ, europäisch kolonial, patriarchal und von vermeintlich weißer Überlegenheit geprägt kritisiert. Viele GENDER kamen bisher in der Forschung überhaupt nicht vor, selbst weibliche Nagetiere wurden aus Experimenten ausgeschlossen, weil man durch den Hormonzyklus ausgelöste Verhaltensschwankungen befürchtete. Hormone aber haben kein Geschlecht, Östrogene und Testosteron kommen in jedem menschlichen Körper vor, ihre jeweilige Ausprägung begünstigt nur die als männlich/​weiblich bezeichneten Körpermerkmale. Auch wenn Depressionen und Angstzustände eher bei cis Frauen auftreten und Substanzmissbrauch und Impulskontrollstörungen eher bei cis Männern, ist das kein Beleg für biologische Ursachen, sondern ein Ergebnis psychosozialer Stressoren. Nach dem heutigen Stand der Forschung ist noch unklar, welchen genauen Einfluss Hormone auf das Erleben und Verhalten haben. Eindeutiger aber sind die Forschungsergebnisse über den Einfluss der Stressoren aus dem äußeren Umfeld wie Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen und innerer Stressoren wie Verheimlichung oder Angst vor Zurückweisung. Sie gefährden die psychische Gesundheit und führen zur Häufung von Depressionen, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen.

Auf den letzten vier Seiten werden dreizehn Fragen zur Selbstreflektion über die Frage: Wie finde ich mein GENDER? gestellt.

Mit dem letzten Satz wird die Haltung, die diese Graphic Novel trägt, noch einmal verdeutlicht. Er lautet: „Trans* oder cis- wir alle sind unterwegs auf GENDER – Reisen…..und jede GENDER – Reise ist berechtigt.“

Diskussion

Die Kernaussage dieses Buches kommt deutlich zum Ausdruck: GENDER ist merkwürdig, komplex (strange). GENDER entspricht vor allem nicht den traditionellen Vorstellungen von Geschlecht (immer schon dagewesen, natürlich, binär, polar und hierarchisch). Die aufgeführten empirischen Belege sind dazu aus verschiedensten Studien zusammengetragen und werden in kurzen Sentenzen bebildert vorgestellt. Die medizinischen und biologischen Einzelheiten sind für ein laienhaftes Verständnis trotzdem manchmal recht schwierig. Angemessen ist der häufige Hinweis darauf, dass sich Studien auch widersprechen oder unklare Ergebnisse erzeugen. Das ist ein Beleg dafür, dass der wissenschaftliche Erkenntnisprozess im Gange ist und sich immer wieder neue Detailfragen stellen, die ihrerseits aber die Kernthese nicht widerlegen: Ein Zurück in die traditionellen Konzepte von Geschlecht ist dem Forschungsgegenstand nicht angemessen. Die Aufgabe liegt eher darin, die GENDER Diversität ernst zu nehmen, alle GENDER vor Diskriminierung und Gewalt zu schützen und ihnen die notwendige Unterstützung zu bieten, damit sie GENDER ohne Angst und Stress leben können. Viele gute Gründe dafür finden sich in diesem Buch.

Schon der Mut, die Komplexität von GENDER in vierzig bebilderten Seiten erklären zu wollen, verdient Hochachtung. Erstaunlich ist es, dass bei den vielfältigen Aspekten von GENDER die Sexualität und die sexuelle Orientierung nicht erwähnt oder diskutiert wird. Dieser Aspekt spielt zu mindestens in Deutschland in der öffentlichen Diskussion um GENDER eine große Rolle.

Trotz oder gerade wegen des außergewöhnlichen Formates ist dieses Buch sehr anschauungs- und lesenswert. Die Kurzfassungen und bildlichen Veranschaulichungen von akademischem Wissen, das sonst nur in der Fachliteratur zu finden ist, machen neugierig auf Vertiefung. Es ist empfehlenswert für alle, die ein vertieftes Verständnis von GENDER suchen

Fazit

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Vielfalt von GENDER behandelt wird, ist gerade heute ein wichtiger Beitrag in den oft erhitzten Debatten. Es stärkt diejenigen, die sich argumentativ gegen diejenigen wenden, die zum traditionellen Denken über Geschlecht zurückkehren wollen.

Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 47 Rezensionen von Barbara Stiegler.

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Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 01.08.2024 zu: Teddy G. Goetz, Sophie (Illustrator) Standing: Gender ist ziemlich strange. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2024. ISBN 978-3-8497-0528-2. Reihe: Fachbücher für jede:n. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31848.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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