Ursula H. Pabsch: Der Mensch ist mehr als seine Krankheit
Rezensiert von Prof. Dr. Simon W. Kolbe, 25.06.2024

Ursula H. Pabsch: Der Mensch ist mehr als seine Krankheit. Systemische Soziale Arbeit im Krankenhaus.
Carl-Auer Verlag GmbH
(Heidelberg) 2024.
168 Seiten.
ISBN 978-3-8497-0519-0.
D: 24,95 EUR,
A: 25,70 EUR.
Reihe: Soziale Arbeit.
Thema
Die vorliegende Monographie beschäftigt sich insbesondere mit theoretischen, wie praktischen Ansätzen der Systemischen Sozialen Arbeit [1] im klinischen Bereich. Im Fokus stehen dabei auch schwere Krankheiten, die eine enorme emotionale Belastung für die Betroffenen und ihre Angehörigen darstellen. In diesen klinischen Settings müssen Sozialarbeiter*innen professionell mit den Herausforderungen umgehen können. Dafür sind neben Empathie und Selbstfürsorge vor allem kompetente Kommunikationsfähigkeiten gegenüber Patient*innen, Angehörigen und medizinischem Personal erforderlich. Die Autorin will in ihrem Buch theoretische Grundlagen für die systemische Soziale Arbeit darstellen und für die Praxis systemische Konzeptionen, Interventionen und Perspektiven herausarbeiten. Ziel ist es, die Kompetenzen der Lesenden zu fördern, in dem Reflexions- und Zusatzfragen regelmäßig angeboten werden.
Autorin
Laut eigenen Angaben [2] ist Ursula H. Pabsch Systemische Familientherapeutin, Supervisorin und Coachin (DGSF). Seit 1994 arbeitet sie in Kliniken im Sozialdienst und begleitet Familien in Krisensituationen bei Erkrankungen. Ihre Arbeit konzentriert sich darauf, Menschen in schwierigen Lebensphasen zu unterstützen und ihnen Impulse für ihre weitere Entwicklung zu geben. Insbesondere ist Ursula Pabsch in im Coaching, der Systemischen Beratung und Familientherapie sowie als Supervisorin tätig. Offenkundig greift sie auf einen umfangreichen Erfahrungsschatz zurück, was auch im vorliegenden Buch von Bedeutung ist.
Entstehungshintergrund und Aufbau des Buches
Die Autorin will sich in ihrem Buch systemischen Ansätzen der Sozialen, einem vernachlässigtem Segment im klinischen Setting, widmen und damit eine Lücke in der Fachliteratur schließen. Neben theoretischen Hinleitungen soll es um die Darstellung von praktischen Hilfestellungen gehen, die sich insbesondere dem Ressourcen- und lösungsorientierten Dialog und zweitens Anwendungsbeispielen und Reflexionshinweisen widmen. Im beschriebenen Handlungsfeld müssen Sozialarbeiter*innen professionell mit den Herausforderungen umgehen können. Dafür sind neben Empathie und Selbstfürsorge vor allem kompetente Kommunikationsfähigkeiten gegenüber Patient*innen, Angehörigen und medizinischem Personal erforderlich. Der Ressourcen- und lösungsorientierter Dialog, wie er in der systemischen Familientherapie Anwendung findet, bietet entscheidende Vorteile für die soziale Beratung in Kliniken. Die Autorin möchte zentrale systemische Konzepte, Techniken und Interventionen für die Soziale Arbeit im Krankenhaus aufbereiten und Implementierungsoptionen für die tägliche Praxis anbieten.
Dazu erarbeitet sie Anwendungs- und Fallbeispiele, die die vielfältigen Auswirkungen von Erkrankungen im familiären Kontext berücksichtigen, was den Transfer in den klinischen Alltag erleichtert. Besonders hervorzuheben sind laut Pabsch die regelmäßigen Fragen zur Reflexion des eigenen Handelns. Sie sollen dazu beitragen, die eigenen Kompetenzen zu erweitern und die Professionalität zu festigen.
Um dies umsetzen zu können, wurde das Buch in 16 unterschiedlich lange Kapitel mit weiteren Unterkapiteln strukturiert, die im folgenden Überblick dargestellt werden.
Inhalt
Menschenbild
In diesem Kapitel werden die grundlegenden Vorstellungen und Überzeugungen der Autorin über den Menschen beschrieben, die die Basis für die systemische Beratung und Therapie bilden.
Im System steckt mehr, als wir sehen
Der zweite Abschnitt des Buches erläutert, wie komplexe Zusammenhänge innerhalb von Systemen oft nicht sofort erkennbar sind. Es wird die Differenzierung zwischen Gesundheit und Krankheit sowie die Spannungen zwischen Gesundheitswesen, Heilungsauftrag, Gesellschaft und Individuum thematisiert. Zudem werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Sozialer Arbeit in Kliniken und Klinischer Sozialarbeit sowie die Abgrenzung zwischen systemischer Therapie und systemischer Sozialarbeit diskutiert.
Grundbegriffe systemischer Beratung
Im dritten, grundlegenden Teil werden zentrale Begriffe des systemischen Ansatzes, die Autopoiese und Kybernetik eingeführt und ihre Relevanz für den klinischen Kontext erläutert.
Haltung
In Kapitel vier wird von Pabsch die notwendige innere Haltung für Berater*innen und Therapeuten*innen beschrieben. Dazu widmet sich die Autorin den Dimensionen Dialogbereitschaft, Neutralität, Informationsbereitschaft, Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsübernahme.
Auftragsklärung
In diesem Kapitel wird der Prozess der Klärung des Auftrags zwischen Sozialarbeiter*in und Klient*in im klinischen Kontext beschrieben, um gemeinsame Ziele und Erwartungen festzulegen.
Systemische Interventionen
Das umfangreiche sechste Kapitel stellt in Unterkapiteln verschiedene systemische Interventionen vor, darunter Genogramm, Familienbrett, systemische Fragen, Externalisierung, Wunderfrage, Reframing, Regeltransformation, Komplimente, Erfolgstreppe, Gedankenkreis, Bubble-Übung, Hypothesen und ein Leitfaden für ein systemisches Interview.
Soziale Diagnostik
Dieser Abschnitt widmet sich der Erfassung und Analyse sozialer und medizinischer Daten, des Behandlungsverlaufs, der unterschiedlichen Ressourcen sowie der Erstellung eines Hilfeplans.
Familienaspekte und Lebensmodelle
Hier werden verschiedene Familienphasen, Familienglaubenssätze sowie unterschiedliche Lebensmodelle und -wirklichkeiten untersucht.
Erkrankungsphasen
Pabsch erläutert in Kapitel 9 die verschiedenen Phasen von akuten und chronischen Erkrankungen sowie den Umgang mit angeborenen und erworbenen Erkrankungen.
Langfristige Folgen einer Erkrankung
Anschließend an die Erklärung von Krankheitsphasen werden die langfristigen Auswirkungen von Erkrankungen, einschließlich verschiedener Perspektiven zu den Aspekten körperlicher, seelischer und geistiger Behinderungen sowie der Pflegebedürftigkeit, diskutiert.
Praxisfelder
In diesem Kapitel werden verschiedene Praxisfelder der Sozialen Arbeit, einschließlich Akutkliniken (Kardiologie, Neurologie, Pneumologie, Onkologie), Rehakliniken (Geriatrie, Neurologie) und ambulante Beratungsangebote dargestellt.
Fallbeispiele
An dieser Stelle werden praxisnahe Fallbeispiele zu akuten Erkrankungen bzw. Szenarien (Drehtüreffekt, emotionale Belastungen, Abschied und Verlust) und Rehabilitation (z.B. Silvester) vorgestellt.
Berufliches Selbstverständnis
Berufliche Kompetenzen und das berufliche Selbstwertgefühl im Kontext der sozialen Arbeit sind hier im Fokus.
Der Ärger mit den Gefühlen
In diesem Abschnitt wird der Umgang mit Emotionen in der sozialen Arbeit im Rahmen der beruflichen Selbstfürsorge thematisiert.
Marketing in eigener Sache
Dieses Kapitel skizziert Fragestellungen, Strategien und Problemfelder für die Öffentlichkeitsarbeit in der klinischen Sozialen Arbeit.
Ein Blick in die Zukunft
Im abschließenden Kapitel werden zukünftige Entwicklungen im Bereich des ambulanten freiberuflichen Case-Managements und mögliche Forschungsfelder aufgezeigt.
Weiter bietet Pabsch noch eine Zusammenfassung zum schnellen Überblick (S. 197–198) und im Anhang einen Dokumentationsbogen zur Familienanamnese (S. 199).
Inhalt
Inhaltlich baut das vorliegende Werk logisch und fachlich konsequent auf. Nach den theoretischen und weiteren relevanten Einlassungen werden praktische Aspekte und Hinweise bereitgestellt. So können Lesende einerseits das Buch insgesamt lesen, aber auch gezielt nachschlagen, um wesentliche Aspekte direkt zu erfassen. Durch diese Aufteilung gelingt es den häufig in der Sozialen Arbeit gewünschten und aus Sicht des Rezensenten notwendigen Theorie-Praxis-Transfer herzustellen. Insgesamt sind die Ausführungen stilistisch gut verständlich formuliert und ausführlich mit Quellen belegt. Besonders und zielführend sind die konsequenten Implementierungen von Reflexions- und Anregungsfragen, die die Autorin regelmäßig anbietet.
Dazu ergänzt das zentrale Kapitel 6, Systemische Interventionen (S. 65–116), mit den Herausarbeitungen von Interventionen, Konzepten und Fragetechniken der systemischen Beratung bzw. Systemischen Sozialen Arbeit eine praktische und anwendungsorientierte relevante Komponente. Hier bietet die Autorin eine nachvollziehbare und logische Struktur an, sodass die jeweiligen Maßnahmen sehr gut verstanden, angewendet und zielorientiert eingesetzt werden können. Hervorzuheben ist der in diesem Kapitel, das nach Einschätzung des Rezensenten das für die Praxis relevanteste darstellen wird, vorzufindende Leitfaden für ein systemisches Interview.
Dem Umfang des Buches geschuldet, soll ergänzend eine zweiteilige exemplarische inhaltliche Darstellung stattfinden: Erstens wird sich dem dritten Kapitel Grundbegriffe systemischer Beratung (S. 44–48) gewidmet, in der Pabsch zentrale Begriffe des systemischen Ansatzes, die Autopoiese und Kybernetik erläutert und ihre Relevanz für den klinischen Kontext darstellt. Zweitens folgt eine Analyse von Kapitel 10, den Langfristigen Folgen einer Erkrankung (S. 131–134), in vor allem die Aspekte körperlicher, seelischer und geistiger Behinderungen sowie der Pflegebedürftigkeit im Fokus stehen.
Grundbegriffe systemischer Beratung (S. 44–48): Die Autorin beschreibt ohne umständliche Hinleitung die zentralen Aspekte der Systemtheorie und damit verbundenen Begriffe des Autopoiese und Kybernetik. Dabei greift Pabsch auf relevante theoretische Literatur zurück und bietet zwei lesbare und verständliche Erklärungen an. Im dritten Abschnitt wird eine umfangreichere Einlassung zum klinischen Kontext vorgefunden. Diese erfasst die Akteure in diesem Feld, die Patienten*innen, das Feld der Medizin bzw. Klinik und die Politik. Pabsch verbindet die zwei Hauptbegriffe mit den unterschiedlichen Perspektiven, Beweggründen und Rahmenbedingungen der Akteure. Sie arbeitet damit insbesondere die Aufgaben und Bedeutung der Sozialen Arbeit heraus, die unter anderem einen Anpassungsdruck erlebt, aber auch als professionelle Beobachtungsinstanz zur Erweiterung von Lösungswegen dienlich sein kann. So gelingt es der Autorin eine theoretische Grundlinie mit einer sozialarbeiterischen Relevanz auszulegen.
Kapitel 10, die Langfristigen Folgen einer Erkrankung (S. 131–134): Die Autorin verzichtet in ihrem Kapitel auf umfangreiche Quellenarbeit oder die Darstellungen des Behinderungsbegriffes, die üblicherweise aus der WHO [3], in der ICD [4] oder ICF [5] herangezogen werden. Vielmehr orientiert sich Pabsch am vorhergehenden Kapitel und kategorisiert nach eigenem Ermessen die Auswirkungen der Bereiche Behinderung (unterteilt in „Körperliche Behinderung“ (10.1.1), „Seelische Behinderung“ (10.1.2.) und „Geistige Behinderung“ (10.1.3)) und Pflegebedürftigkeit aus der Perspektive der Sozialen Arbeit heraus. Daraus sollen sowohl Herausforderungen als auch Aufträge abgeleitet werden. In jedem Abschnitt werden verständliche Erläuterungen angeboten und Herausforderungen, Beratungsthemen und Aufgabenfelder für die Soziale Arbeit beschrieben. Dabei bleibt die Autorin eng an eigenen Erfahrungen und grenzt sich auch von ihr nicht selbst bedienten Handlungsfeldern und Disziplinen ab.
Diskussion
Das vorliegende Buch erfasst im Gesamteindruck die beruflich-praktische Perspektive und den offensichtlich immensen Erfahrungsschatz der Autorin im Setting der Systemischen Sozialen Arbeit im Krankenhaus. Aus ihrer Perspektive formuliert und beschrieben, ermöglicht es die Autorin sich sowohl mit theoretischen Inhalten als auch praktischen Umsetzungsangeboten inhaltlich auseinanderzusetzen.
In ihrer Sprache ist die Autorin klar und verzichtet auf komplizierte oder unangemessene Verklausulierungen. Strukturell ist das Werk inhaltlich logisch aufgebaut, die Kapitel sind jedoch im Blick auf Inhalte, Länge und Informationsdichte unterschiedlich umfangreich ausgestattet. In der Quellenarbeit erscheinen die einzelnen Kapitel als überwiegend angemessen recherchiert, wobei an vereinzelten Stellen etwas deutlichere Verweise auf die Herkunft einiger Aspekte verwiesen werden könnte. Dies sei jedoch der umfangreichen inhaltlichen Tiefe und praktischen Ausrichtung geschuldet, die dieses Buch nicht ausschließlich zu einem wissenschaftlichen Werk macht, sondern auch zu einem praxeologischen Transferprodukt für Studierende, Sozialarbeiter*innen und andere helfende Berufe sowie interessierte Laien. Somit schafft es die Autorin erfolgreich, die von ihr erkannte und erläuterte „Lücke“ der Bedeutung der systemischen Methoden in der Klinischen Sozialen Arbeit mit diesem Buch zu schließen.
Die Autorin übt sich einerseits im Verzicht auf ausufernde wissenschaftliche Diskurse und Vergleiche und gibt so andererseits Platz für eigene Erfahrungen und Perspektiven, die aber nicht ohne wissenschaftlichen Bezug präsentiert werden. Die praktischen Hinweise, Interventionsbeschreibungen und Reflexionsfragen bieten Lesenden ein umfangreiches Handlungs- und Haltungs-Repertoire für die Praxis an.
Fazit
Ursula Pabsch hat im Buch „Der Mensch ist mehr als seine Krankheit – Systemische Soziale Arbeit im Krankenhaus“ einen hohen Anspruch an ihre eigene Arbeit formuliert: Sowohl als Autorin, als auch an ihre eigene Disziplin, die Soziale Arbeit. Diesem Anspruch wird das Buch gerecht, da es in seiner Lesbarkeit und in seiner letztendlich anwendungsfreundlichen Art eine breite und interessierte Leserschaft zu erreichen vermag.
[1] https://www.socialnet.de/lexikon/Systemische-Soziale-Arbeit [Zugriff am 02.06.2024]
[2] www.pflegebeduerftig-was-tun.de – www.leben-mit-intensivpflege.de – www.ursula-pabsch.de [Zugriff am 01.06.2024]
[3] https://www.socialnet.de/lexikon/Behinderung [Zugriff am 02.06.2024]
[4] https://icd.who.int [Zugriff am 02.06.2024]
[5] https://icd.who.int [zugriff am 02.06.2024]
Rezension von
Prof. Dr. Simon W. Kolbe
Professur für Soziale Arbeit SRH Wilhelm Löhe Hochschule
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