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André Green (Hrsg.): Geheime Verrücktheit

Rezensiert von Anna-Lena Mädge, 27.12.2024

Cover André Green (Hrsg.): Geheime Verrücktheit ISBN 978-3-8379-3332-1

André Green (Hrsg.): Geheime Verrücktheit. Grenzfälle der psychoanalytischen Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 312 Seiten. ISBN 978-3-8379-3332-1. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.

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Thema

In Geheime Verrücktheit wird die psychoanalytische Theoriebildung des verstorbenen Autors André Green dargestellt. Er konzentrierte sich auf sogenannte „Grenzfälle” zwischen Neurose und Psychose anhand derer er Behandlungswege herleitet, durch die negative therapeutische Reaktionen vermieden werden können. Zudem setzt er sich kritisch mit der Fortentwicklung der Psychoanalyse auseinander.

Autor

André Green war Vorsitzender und Lehrbeauftragter in der Société Psychanalytique de Paris sowie stellvertretender Vorsitzender der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Der Psychiater und Psychoanalytiker war zudem als Professor am University College London tätig und publizierte umfangreich zur Theorie und Praxis der Psychoanalyse sowie zur psychoanalytischen Kultur- und Literaturkritik.

Entstehungshintergrund

Der Band ist Teil der Buchreihe „Bibliothek der Psychoanalyse“, welche ein Forum der Auseinandersetzung schaffen will, um die Psychoanalyse als Grundlagenwissenschaft zu etablieren. Hierzu werden Klassiker der Psychoanalyse wiederentdeckt.

Aufbau und Inhalt

In der Einleitung stellt Eike Wolff (Übersetzer und Herausgeber des Bandes) das Leben und Werk des verstorbenen Psychoanalytikers André Green dar. Bereits im Rahmen seiner Abiturprüfungen in Kairo setzte sich Green intensiv mit dem Werk von Freud auseinander und vertiefte diese Auseinandersetzung zeitlebens. Den Abschluss bildet die Bibliografie von André Green von 1969 bis 1995.

Das erste Kapitel Warum Krieg – warum Krankheit? gibt die Auseinandersetzung von André Green mit der Theoriewende von Freud in den 20er Jahren wieder. Hierbei stellt Green eine Verbindung zwischen den Kriegsgeschehen, die Freud erlebt hat, und seiner ausbrechenden Krebserkrankung dar, indem er beide Ereignisse in ihrer Wirkmächtigkeit analysiert und mit den Arbeiten von Freud zu den entsprechenden Zeiten in Verbindung setzt. Hierdurch begründet er die „Wende von 1920“, die Freuds Theorie machte und setzt diese zugleich in den Kontext der damaligen theoretischen Diskurse der Psychoanalyse.

Im zweiten Kapitel, Passionen und Passionsschicksale, stellt André Green, bezugnehmend auf die im ersten Kapitel dargestellten Theorien, seine psychoanalytische Betrachtung der Beziehung von Verrücktheit und Psychose dar. Verrücktheit wird durch ihn in einen gesellschaftlichen, historischen Kontext gesetzt und als Teil des menschlichen Seins definiert, wobei es Grenzfälle gibt, die zwischen Verrücktheit, Neurose und Psychose liegen. In diesem Kontext werden Leidenschaften in psychoanalytischer Betrachtung diskutiert sowie Übertragungsphänomene dargestellt.

Psychoanalytische Theorien über den Affekt sind das Thema des dritten Kapitels. Hier wird zunächst auf Sigmund Freuds Ausführungen über den Affekt Bezug genommen und anschließend die nachfolgende, neuere theoretische Diskussion dargestellt. Den Abschluss bilden persönliche Bemerkungen des Autors und eine Zusammenfassung des Kapitelinhalts.

Das Kapitel Analytiker, Symbolisierung und Abwesenheit im Rahmen der psychoanalytischen Situation setzt sich kritisch mit der Theorie und Praxis der Psychoanalyse auseinander. Es werden die Veränderungen in der Praxis anhand persönlicher Erfahrungen diskutiert sowie die daraus resultierenden Probleme in Theorie und Praxis. Eine Schlussbemerkung und Zusammenfassung runden das Kapitel ab.

Welche Bedeutung und Wirkung Das Schweigen des Psychoanalytikers in der Analyse hat, wird im fünften Kapitel thematisiert. Es wird die Funktion des Schweigens diskutiert und die Möglichkeiten und Wirkungen innerhalb der Psychoanalyse auch in Bezug auf Neurosen und Grenzfälle diskutiert.

Das Kapitel Was zu viel ist, ist zu viel. setzt sich mit der Arbeit von Melanie Klein auseinander. Innerhalb einer wertschätzenden, kritischen Auseinandersetzung stellt André Green seine Sichtweise auf die Theoriebildung von Melanie Klein dar.

Das abschließende Kapitel Warum Böses? setzt sich mit dem Bösen im Sinne von Krankheit sowie aus moralischer Sicht auseinander. Anhand der Arbeiten von Sigmund Freud und Melanie Klein wird Gesundheit und Krankheit aus psychoanalytischer Sicht diskutiert. Nachfolgend wird auf die destruktiven Kräfte des Bösen eingegangen und die Bedeutung von guten und bösen Anteilen in jedem Menschen.

Diskussion

Das Werk von André Green ist umfassend und voll von wertvollen Inhalten, auf die ich im Rahmen dieser Rezension nur in Ansätzen eingehen kann. Dabei sei vorweggenommen, dass das Buch kein reiner „Klassiker” ist, sondern viele weiterhin aktuelle Themen beinhaltet. Die tiefe Vertrautheit von André Green mit dem Werk von Sigmund Freud wird schon zu Beginn deutlich, wenn er in dem ersten Kapitel dessen Theoriewende darstellt. Ohne Kenntnis der entsprechenden Arbeiten ist es teils schwer den Ausführungen zu folgen, da auf die entsprechenden Fallgeschichten zumeist nur verwiesen wird und diese dann intensiv diskutiert werden. Im nachfolgenden Kapitel nehmen die Sichtweisen und Theorien von André Green deutlich mehr Raum ein, der enge Bezug zu Freud bleibt dabei bestehen, da er der Bezugspunkt für das Werk von André Green ist. Einleitend setzt er die Verrücktheit in einen spannenden gesellschaftlichen Kontext, der darstellt, wie eine zur Lebendigkeit gehörende Verrücktheit immer stärker in den psychiatrischen Fokus rückte. Diese Ausführungen sind besonders im Zusammenhang mit der kritischen Diskussion darüber, wer Krankheit definieren darf und was genau sie eigentlich umfasst, sehr interessant. Der Autor bleibt aus meiner Sicht dabei in seiner Darstellung immer sachlich und konstruktiv kritisch. Die für mich beeindruckendsten Passagen sind die, in denen André Green sein Forschungsverständnis und seine Motivation zur Theorieentwicklung darlegt. Sein hoher Anspruch, durch die konstruktiv kritische Diskussion die Theorie und Praxis der Psychoanalyse zu verbessern, wendet er auf seine eigene Arbeit an, beginnt sich selbst zu hinterfragen und lädt dazu ein, dies als Grundhaltung zu übernehmen. Die Bedeutung des Zusammenspiels von Theorie und Praxis wird in folgendem Satz deutlich: „Mir scheint, ich schlage hier auch keine Revolutionierung der Theorie oder Technik vor, sondern eine Neubelebung der Theorie im Lichte der Erfahrung”(S. 103). Mit diesem Anspruch, Theorien und Praxis zu verbinden sowie Bestehendes immerwährend kritisch zu diskutieren, um die Psychoanalyse durch Wandel dort wo es benötigt wird zu verbessern, lassen einen Anschluss zur Moderne entstehen. Er distanziert sich von der Diskussion über die höhere Bedeutung eines Elternteils und plädiert dafür, beide Eltern als gleichwertig in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Kindern zu betrachten. Fortschrittlich ist auch der Teil im zweiten Kapitel, in dem er auf die nonverbale Kommunikation zwischen Mutter und Kind eingeht, die er achtsam darstellt und zugleich erläutert, warum diese Kommunikation ein „blinder Fleck” in den Arbeiten von Freud ist. Für ihn liegt die Aufgabe und Herausforderung für Analytiker darin, das bestehende Wissen aus Freuds Werk und der klassischen Analyse mit den neueren Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte in Einklang zu bringen. Und so setzt er sich durchgängig mit Wissenslücken und Interpretationen der Psychoanalyse auseinander. “Wissenschaft ist nämlich nicht ein Unterfangen, das eine Erklärung aufbaut, indem es alles störende beiseite schiebt, sondern das gerade diese Komplexität zu erhellen sucht – auch auf die Gefahr hin, dadurch unrein zu erscheinen.” (S104). Er versteht seine Arbeiten als Ansatzpunkt, eine Diskussion zu eröffnen, in der er gerne anderen das Wort lässt. Passend dazu verdeutlicht er im letzten Kapitel seine Verwunderung darüber, wie lange es in einigen Bereichen brauchte, bis die Theorie der Psychoanalyse sich gegenüber Neuerungen öffnete und nicht mehr haltbare Thesen losließ. 

Fazit

Ein äußerst komplexes Buch, dessen Inhalte vielfach aktuell sind, besonders da sie sich nicht nur mit der Psychoanalyse, sondern zugleich mit der Grundhaltung von Forschenden generell auseinandersetzen.

Rezension von
Anna-Lena Mädge
M. A. Soz.Päd./Soz.Arb.
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Es gibt 23 Rezensionen von Anna-Lena Mädge.

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Zitiervorschlag
Anna-Lena Mädge. Rezension vom 27.12.2024 zu: André Green (Hrsg.): Geheime Verrücktheit. Grenzfälle der psychoanalytischen Praxis. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. ISBN 978-3-8379-3332-1. Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31865.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.


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