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Stefan Schuster: Verkehrte Welt

Rezensiert von Prof. Dr. Norbert Störmer, 02.12.2024

Cover Stefan Schuster: Verkehrte Welt ISBN 978-3-8379-3344-4

Stefan Schuster: Verkehrte Welt. Von der Praxis der Exklusion behinderter Menschen zum Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 670 Seiten. ISBN 978-3-8379-3344-4. D: 59,90 EUR, A: 61,60 EUR.
Reihe: Dialektik der Be-Hinderung.

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Thema

Ausgehend von der Frage, welche gesellschaftlichen Prozesse zur Exklusion von Menschen mit spezifischen Lebens- und Lernerschwernissen geführt haben und führen, rekonstruiert und analysiert der Autor die Geschichte der Exklusion als eine Geschichte der Entfremdung. Die Heil- und Sonderpädagogik sieht er in diesen Zusammenhängen als einen integralen Teil dieser Geschichte an. Vor diesem Hintergrund ist es ihm wichtig zu überlegen, wie man Prozessen der Entfremdung in Erziehungs- und Bildungspraxen entgegenwirken kann. Diesbezüglich entwickelt er in Grundrissen die Konzeption einer Pädagogik der Ent-fremdung, die entsprechende Handlungsspielräume und Auswege eröffnen kann und soll. Bei seinen Überlegungen geht der Autor von einem dialektischen Theorie-Praxis-Verständnis aus. Hierdurch gelingt es ihm nicht nur, entsprechende Entfremdungsprozesse hinsichtlich der ihnen eigenen Mechanismen und Dynamiken zu erkennen, zu verstehen und zu kritisieren. Vielmehr leitet er auch ausgehend hiervon Überlegungen ab, wie Prozesse der Entfremdung in der Erziehungs- und Bildungspraxis bearbeitet werden können.

Autor:in oder Herausgeber:in

Dr. Phil. Stefan Schuster hat eine Ausbildung zum Tischler und zum Heilerziehungspfleger absolviert und sodann Integrative Heilpädagogik/​Inklusion Education an der Evangelischen Hochschule Darmstadt studiert. Mit dem vorliegenden Buch schloss er sein Promotionsverfahren zum Dr. phil. an der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen ab. Derzeit arbeitet er als Lehrer an einer Fachschule und ist zudem Dozent im Hochschulkontext. Erfahrungen in der Praxis konnte er in der Stiftungsarbeit sowie in verschiedenen Einrichtungen der Behinderten- und Jugendhilfe sammeln.

Entstehungshintergrund

Mit dem vorliegenden Buch „Verkehrte Welt. Von der Praxis der Exklusion behinderter Menschen zum Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung knüpft der Autor an seiner im Jahre 2015 verfassten Master-Thesis mit dem Titel Entfremdet, verdinglicht und be-hindert. Versuch einer Dechiffrierung segregierender Mechanismen aus sozialhistorischer Perspektive an. Nach seiner eigenen Einschätzung wurden zentrale, in der Master-Thesis zum Ausdruck gebrachte Gedanken, aufgegriffen, präzisiert und weiterentwickelt, andere wiederum hielten einer erneuten Prüfung nicht stand, erwiesen sich als nicht plausibel und wurden vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse verworfen. Insbesondere bezogen auf die Entwicklung einer Pädagogik der Ent-fremdung wird nun in diesem Buch versucht, vermehrt Antworten hinsichtlich handlungsorientierter Fragen zu geben, wie Prozessen der Entfremdung in den Praxen der Erziehung und Bildung entgegengewirkt werden kann (S. 11).

Aufbau

Den Ausführungen des Autors ist ein kurzes Vorwort vorangestellt (S. 11–12), dem sich eine recht umfängliche Einleitung anschließt (S. 13–32). Im dann folgenden Kapitel 1 geht der Autor auf die gegenwärtige Exklusion von behinderten Menschen ein (S. 33–50). Sodann stellt er im Kapitel 2 (S. 51–126) den für seine Arbeit wichtigen wissenschaftlichen und methodischen Bezugsrahmen dar. Schwerpunkte bei diesen Betrachtungen sind ein ideengeschichtlicher Abriss geschichtsmaterialistischen Denkens (Kapitel 2.1 - S. 59–83), das dialektische Moment im Geschichtsmaterialismus (Kapitel 2.2 - S. 83–101) und das materialistische Moment im Geschichtsmaterialismus (Kapitel 2.3 - S. 101–123). Abgeschlossen wird dieses Kapitel, indem Rückschlüsse aus diesen Betrachtungen für die Untersuchung der Exklusion behinderter Menschen gezogen werden (Kapitel 2.4 - S. 123–126). Im nachfolgenden Kapitel 3 widmet sich der Autor der geschichtlichen Rekonstruktion der gegenwärtigen Exklusion (S. 127–262). Schwerpunkte dabei sind das Aufkommen der kapitalistischen Produktionsära (Kapitel 3.1 - S. 138–158), die sich vollziehenden Entwicklungen im 19. Jahrhundert (Kapitel 3.2 - S. 158–207) sowie das Zeitalter der Extreme und das beginnende 21. Jahrhundert (Kapitel 3.3 - S. 207–259). Aus all diesen Ausführungen werden dann Betrachtungen zur Exklusion behinderter Menschen in der Moderne abgeleitet (Kapitel 3.4 - S. 259–262). Im Kapitel 4 geht der Autor dann konkret auf die Begriffe der Entfremdung, der Verdinglichung und des Fetisch ein (S. 263–329). Entsprechend gegliedert sind dann auch die einzelnen Unterkapitel. Das Kapitel 4.1 widmet sich dem Entfremdungsbegriff (S. 268–289), das Kapitel 4.2 dem Verdinglichungsbegriff (S. 289–304) und das Kapitel 4.3 dem Fetischbegriff (S. 304–325). Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer Betrachtung zur Trias von Entfremdung, Verdinglichung und Fetisch (Kapitel 4.4 - S. 325–330). Im dann folgenden Kapitel 5 zeichnet der Autor die Entwicklung der Entfremdung von behinderten Menschen in der Moderne nach (S. 331–394). Hierbei betrachtet er sowohl die ökonomische Seite (Kapitel 5.1 - S. 334–350), die politische Seite (Kapitel 5.2 - S. 350–370) wie auch die ideologische Seite (Kapitel 5.3 - S. 370–391) der Entfremdung und fasst die hier gewonnenen zentralen Analyseergebnisse im Kapitel 5.4 zusammen (S. 391–394). Das Kapitel 6 befasst sich nachfolgend mit der Konzipierung eines Grundrisses einer Pädagogik der Ent-fremdung (S. 395–536). Wichtige Schritte hierzu sind dem Autor die Darlegung der Dialektik der Ent(-)fremdung in der modernen Erziehungs- und Bildungsgeschichte (Kapitel 6.1 - S. 403–436) und Ausführungen zu der Pädagogik der Ent-fremdung in entfremdeten Verhältnissen (Kapitel 6.2 - S. 437–457). Vor diesem fachlichen Hintergrund arbeitet er das Profil einer Pädagogik der Ent-fremdung heraus (Kapitel 6.3 - S. 457–487). Charakteristisch für eine solche Pädagogik der Ent-fremdung scheint ihm eine eingreifende Pädagogik zu sein, denn in einem weiteren Kapitel (Kapitel 6.4 - S. 487–533) werden Konfliktfelder einer derartigen Pädagogik skizziert. Im nachfolgenden Kapitel werden dann nochmals kurz und knapp die zentralen Linien des Grundrisses einer Pädagogik der Ent-fremdung aufgezeigt (Kapitel 6.5 - S. 533–536). Der Autor beendet seine umfänglichen Ausführungen in einer knapp gehaltenen Schlussbetrachtung (S. 537–540). Dieser ein recht umfängliches Literaturverzeichnis nach (S. 541–591).

Inhalt

In einem Vorwort (S. 11 f.) skizziert der Autor kurz die Entstehungsgeschichte dieses Buches.

In der nachfolgenden längeren Einleitung (S. 13 ff.), wird verdeutlicht, dass die als eine verkehrte Welt wahrgenommene Welt tatsächlich die wirkliche Welt ist. Verdeutlicht wird, dass in dieser Welt eine Vielzahl von objektiven und ideellen Verkehrungen wirken und die gesellschaftliche Praxis bestimmen. Diese Verkehrungen verselbstständigen sich mit der Zeit und treten den Menschen als fremde Macht entgegen, behindern und verhindern dadurch oftmals ein freies und selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Es handelt sich hier um einen Tatbestand, der in der Philosophie mit dem Begriff der Entfremdung zu fassen versucht wird. Dieser Terminus steht quasi im Zentrum der Forschungsarbeit des Autors. In all diesen Mechanismen und Zusammenhängen der Entfremdung ist auch die Pädagogik mehr oder weniger stark verstrickt. Für die Pädagogik sind all diese Aspekte der Entfremdung insofern höchst relevant, da in diesem Begriff alle Probleme der in einer neoliberalen Gesellschaft agierenden Pädagogik enthalten sind. Jedoch merkt der Autor an, dass der Begriff der Entfremdung oftmals vage und undifferenziert zur Anwendung kommt. Klarer in seinen Aussagen wird dieser oftmals in einem Bezug zu dem Verdinglichungs- und Fetischbegriff. Bezüge zu den in dem skizzierten Zusammenhang zu beachtenden fachwissenschaftlichen Erläuterungen werden hergestellt und kurz nachvollziehbar erläutert. Als Fazit seiner Ausführungen kommt der Autor zu dem Schluss, dass aktuell keine ausgearbeitete fachliche Konzeption vorliegt, die den Entfremdungsbegriff zum dreh- und Angelpunkt ihrer Betrachtung macht. Bezogen auf die Pädagogik wäre jedoch zu fordern, dass diese ihre Handlungsspielräume nutzen müsste, um Prozessen der Entfremdung entgegenzuwirken. Dies würde für den Autor Grundrisse einer Pädagogik der Ent-fremdung zur Voraussetzung haben. Ausgangspunkt dieses Erkenntnisprozesses soll zunächst einmal die gegenwärtige Exklusion von behinderten Menschen sein. Denn aktuell wird zwar viel von Inklusion gesprochen, aber wenig über Exklusion bzw. diese sogar aus all diesen Betrachtungen ausgeblendet. Damit wird aber gerade in der aktuellen Debatte über Inklusion die geschichtlich gewordene Exklusion negiert. Folglich ist es dem Autor wichtig, dass die Exklusion von behinderten Menschen zum Gegenstand einer kritischen Entfremdungsforschung wird. Diese soll kritisch die irrationalen Verkehrungen in der gesellschaftlichen Praxis beurteilen und beanstanden, sie soll geschichtsmaterialistisch und entfremdungstheoretisch sein. Als Leithypothese für seine diesbezüglichen Forschungen gilt, dass die strukturelle Exklusion von behinderten Menschen in der Moderne das Ergebnis von Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fetischisierungsprozessen ist (S. 30). Dies wird von dem Autor als die Schlüsselfrage seiner Forschungsarbeit angesehen. Hieran schließt sich als zweite Forschungsfrage an, wie die Pädagogik zur Entfremdung beiträgt und was sie tun könnte, um dieser in der Erziehungs- und Bildungspraxis entgegenzuwirken. In diesem Zusammenhang sei es wichtig, einen Weg von der aktuellen Erziehungs- und Bildungspraxis zu einem Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung aufzuzeigen.

Das Kapitel 1 befasst sich mit der gegenwärtigen Art und Weise der Exklusion von behinderten Menschen. Zunächst einmal wird anhand der statistischen Daten die Exklusion behinderter Menschen in diesem Land in den drei Lebensbereichen Bildung, Arbeit und Wohnen dargestellt. Das Augenmerk liegt dabei in diesen drei Bereichen vor allem auf Sondereinrichtungen, die als Gradmesser der Exklusion angesehen werden. Anschließend werden in diesem Zusammenhang dominante abwertende Denk -und Einstellungsweisen aufgezeigt, die in einer gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit zum Ausdruck kommen oder aber den als eine biopsychosoziale Einheit zu verstehenden Menschen auf seine biologische Ebene einengen. Die aktuell feststellbare gesellschaftliche Situation wird sodann mit den menschenrechtlichen Anforderungen konfrontiert, wie sie sich aus der UN-BRK ableiten lassen. In dieser Gegenüberstellung lässt sich verdeutlichen, dass viele diesbezügliche Aspekte der Inklusion bislang vielfach leere Versprechen geblieben sind.

Im Kapitel 2 wird der wissenschaftstheoretische und methodische Bezugsrahmen dieser Forschungsarbeit vorgestellt. Ausgang dabei ist, dass eine wissenschaftliche Suche nach Erkenntnissen auf Erkenntniswerkzeuge angewiesen ist, die es ermöglichen, den Erkenntnisgegenstand begreifbar zu machen. Entsprechend müssen diesbezügliche adäquate Mittel gefunden werden. Infolgedessen stellt sich für den Autor die Frage, welcher Wissenschaftsansatz kann geeignete Denk- und Erkenntniswerkzeuge zur Verfügung stellen, um bestehende gesellschaftliche Exklusionsprozesse zu begreifen. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Wissenschaftsansätzen kommt der Autor zu dem Schluss, dass ein postmoderner Ansatz für sein Vorhaben nicht infrage kommt, vielmehr sieht er für seine Untersuchung eher einen geschichtsmaterialistischen Wissenschaftsansatz als geeignet an. Jedoch kann auch an diesen nicht voraussetzungslos angeknüpft werden, denn an diesem Ansatz lassen sich in seiner historischen Rezeption zahlreiche Missverständnisse ja Entstellungen zeigen. Folglich bedarf es für die Untersuchung der Exklusion einiger Anstrengungen, um seine in diesem Kontext wichtigen Denk- und Erkenntniswerkzeuge offenzulegen. Folglich soll im Kapitel 2.1 aufgezeigt werden, was unter geschichtsmaterialistischem Denken zu verstehen ist. Diesbezüglich wird die Genese des dialektischen Denkens bis Hegel und im Anschluss daran bis Feuerbach, nachfolgend dann die diesbezügliche wissenschaftliche Revolution bei Marx skizziert. Aufgezeigt wird zudem die einsetzende Verfallsgeschichte des geschichtsmaterialistischen Denkens. Auf der Basis dieses ideengeschichtlichen Abrisses erscheint es dem Autor dann möglich, vertiefend auf die dialektischen und materialistischen Momente im Geschichtsmaterialismus einzugehen. Beide Momente bilden in der Praxis eine Einheit, jedoch wird zum analytischen Zweck zunächst einmal auf das dialektische Moment eingegangen (Kapitel 2.2) und das dialektische Denken als Denken in strikten Antinomien, als Denken im Strom der Zeit und als beide vereinigendes Denken dargestellt. Vor diesem Hintergrund schließt eine Betrachtung zu Wesen, Erscheinung und Schein dieses Kapitel ab. Im nachfolgenden Kapitel (2.3) ist dann das materialistische Moment im Geschichtsmaterialismus Gegenstand der Betrachtung. Schwerpunktmäßig erfolgt hier eine Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Praxis als das Übergreifende in der Geschichte, mit der Dialektik von Basis und Überbau und der Formierung sozialer Klassen in der Gesellschaftsgeschichte. Aus all diesen Betrachtungen werden im Kapitel 2.4 Rückschlüsse für die vorliegende Untersuchung der Exklusion behinderter Menschen gezogen und Fragen aufgeworfen, um den gesellschaftlich-geschichtlichen Funktionszusammenhang hinter den Exklusionsphänomenen zu beleuchten, der im Inklusionsdiskurs in der Regel im Dunkeln bleibt bzw. unsichtbar gemacht wird. 

In dem Kapitel 3 der Arbeit leitet der Autor die eigentliche Untersuchung seines Erkenntnisgegenstandes mit einer geschichtlichen Rekonstruktion der gegenwärtigen Exklusion von behinderten Menschen ein. Er will der Frage nachgehen, welche gesellschaftlichen Prozesse letztendlich zur Exklusion geführt haben. Dabei stehen in diesem Kapitel zunächst einmal die größeren strukturellen Zusammenhänge im Vordergrund der Betrachtung. Im Kapitel 3.1 wird verdeutlicht, dass die kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweisen zu einer Metamorphose der Exklusion geführt haben. Näher eingegangen wird in diesem Zusammenhang auf die Revolutionierung der feudalen Eigentumsverhältnisse, der Herausbildung des modernen Territorialstaates, sowie auf die mit diesen Entwicklungen deutlich werdenden katastrophalen sozialen Missstände. Eingegangen wird zudem auf die Agrarrevolution, auf sich vollziehende Prozesse der Zentralisierung, wie auch auf die sich insgesamt vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen, insbesondere auf die auftretenden soziale Probleme und die ersten Antworten darauf. Im Kapitel 3.2 wird dann auf die vielschichtigen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts eingegangen. Gegenstand dieser Betrachtung ist die fortschreitende Industrialisierung und die Expansion des Kapitalismus insgesamt, wie auch die auftretenden Revolutionen und die zunehmenden imperialen Bestrebungen. Verdeutlicht wird, dass diese Zeitspanne auch als das Zeitalter der Asyle bezeichnet werden kann, ein Zeitalter, in dem sich der Charakter der Asyle deutlich verändert. Diesen kommt nicht mehr bloß eine ordnungspolitisch-polizeiliche, sondern zunehmend und verstärkt auch eine ökonomisch-rehabilative Funktion zu, die eine regelrechte Behandlungseuphorie mit sich bringt und zu einer zunehmenden Differenzierung und Professionalisierung insgesamt führt. Dieser Anstaltsboom hält bis zum Ersten Weltkrieg an und führt zu vielfältigen Umwälzungen vor allem im deutschsprachigen Raum. Parallel zu dieser Entwicklung entwickelt sich aber auch in der Gesellschaft und in der Fachwelt eine zunehmende menschenfeindliche gruppenbezogene Ideologie, die der Autor hier rekonstruiert. Im Anschluss hieran zeichnet er die sich hier eingebundene Geschichte der modernen Psychiatrie und der Heilpädagogik nach. Das Kapitel 3.3. ist dann den Entwicklungen im 20. Jahrhundert und des beginnenden 21. Jahrhunderts als ein Zeitalter der Extreme gewidmet. Skizziert werden hier die Folgen der zwei Weltkriege, die zwischenzeitliche Weltwirtschaftskrise, die Diskussion über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, die Verhütung erbkranken Nachwuchses, die Zwangssterilisation und die real werdende Vernichtung lebensunwerten Lebens als ein Massenmord an als „lebensunwert“ angesehene Menschen. Auch die widersprüchlichen Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg skizziert der Autor gut nachvollziehbar. Er verweist sowohl auf die sich expansiv, teils transnational, vollziehende Industrieexpansion, aber auch auf den sich zu dieser Zeit feststellbaren massiven Ausbau der Sondersysteme hin, ebenso auf die bestehenden katastrophale Verhältnisse in den Anstalten. Dominant sind und bleiben nach wie vor die abwertenden Denk- und Einstellungsweisen gegenüber behinderten Menschen. Die Wirtschaft durchläuft in dieser Zeitspanne eine Reihe recht unterschiedlicher Krisen, die Kosten im sozialen Bereich steigen an und parallel hierzu wird ein Abbau des Sozialstaates gefordert und vollzogen. Menschen, die einer gewissen Unterstützung bedürfen, werden im aufkommenden Neoliberalismus wieder vermehrt als soziale und ökonomische Last angesehen. Trotzdem wird die Betreuung von Menschen mit Behinderungen nach wie vor als notwendig und ausbaufähig angesehen, was zu einer weiteren Expansion der Sonderbereiche führte. Mit der Gründung der Lebenshilfe im Jahre 1958 flossen neue Vorstellungen in die Diskussion der Betreuung von Menschen mit Behinderungen ein, die jedoch weiterhin vorrangig institutionell beantwortet wurden. Dennoch wurde der tradierte Umgang zunehmend hinterfragt und es entwickelte sich eine Opposition gegen den weiteren Ausbau der Sondersysteme und als Folge dieser Auseinandersetzungen erste integrative Bemühungen, die sich jedoch nur punktuell durchsetzen konnten. Im Kapitel 3.4 werden sodann noch einmal die Ergebnisse der bisherigen Ausführungen resümiert. Als Fazit kann angesehen werden, dass die heutige Exklusion von Menschen mit Behinderungen Ausdruck einer geschichtlich gewordenen Ausgrenzungspraxis ist. In diesem Kapitel konnte, so der Autor, zunächst einmal eine Beschreibung gegeben werden über das, was sich an Momenten einer strukturellen Ausgrenzung vollzogen hat, was geschehen ist. Doch das ist ihm hinsichtlich seiner Untersuchung nur ein Moment.

Im nachfolgenden Kapitel 4. soll nun zum inneren Zusammenhang der strukturellen Exklusion behinderter Menschen vorgedrungen werden. Der Fokus der Betrachtung wird hierbei auf die Denk- und Erkenntniswerkzeuge verlagert. Gerade aber der Exklusionsbegriff, wie er aktuell in der wissenschaftlichen Diskussion zur Anwendung kommt, erweist sich für den Autor für ein Vordringen in diese Zusammenhänge als unzureichend. Als Ergänzung des Exklusionsbegriffs, aber auch zu seiner Entlastung, werden drei Begriffe eingeführt, die hinsichtlich der aufgeworfenen Fragestellungen über eine wesentlich höhere Erklärungskraft verfügen und in den nachfolgenden Kapiteln erläutert werden. In Kapitel 4.1 wird explizit auf die Herausbildung des Entfremdungsbegriffs in der Philosophie und auf seine fachwissenschaftliche Substanz eingegangen. Hierbei wird eine besondere Bedeutung der marxschen Kritik des Entfremdungsbegriffs eingeräumt und diese in ihren zentralen Aussagen dargestellt. Sodann wird der Sinn und die Bedeutung des Begriffs bezogen auf den Forschungsgegenstand des Autors reflektiert und entsprechend erweitert. In diesem Zusammenhang wird konstatiert, dass sich ideelle, subjekttheoretische und politisch-ökonomische Aspekte von Entfremdung feststellen lassen, die jeweils eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen. Die von den Menschen insgesamt geschaffenen Verhältnisse wachsen hinter den Rücken der einzelnen Individuen diesen über den Kopf, wobei die konkreten Auswirkungen der Entfremdung in Abhängigkeit von der konkreten Stellung der einzelnen Individuen bzw. der zugehörigen Gruppe in der gesellschaftlichen Praxis stark divergieren können. Folglich lässt sich von der Subjektseite ausgehend immer eine große Variationsbreite der Entfremdungssymptome feststellen. Im Kapitel 4.2 erfolgt dann eine Auseinandersetzung mit dem Verdinglichungsbegriff. Denn nach den Vorstellungen des Autors zeigen sich auf der ideellen Ebene der Entfremdung Phänomene, die mit diesem Begriff besser abbildbar sind. Zunächst einmal wird ein Überblick über die vorfindbare fachliche Konnotierung dieses Begriffes gegeben. Mit dem Begriff der Verdinglichung werden gesellschaftliche Verhältnisse bezeichnet, in denen Dinge in einer spezifischen Art und Weise in Beziehung zueinander in Erscheinung treten. Diese werden den Menschen in der Regel als eigengesetzliche Eigenschaften der Dinge bewusst, auf die sie scheinbar keinen Einfluss nehmen können. Auch an diese Darstellungen schließt sich eine marxsche Kritik der langläufigen Vorstellungen von Verdinglichung an. Zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich bei Verdinglichungen um verfehlte Formen der Vergegenständlichung handelt. Vor diesem Hintergrund wird diskutiert, inwieweit dieser Begriff für den diesbezüglichen Forschungsgegenstand Sinn und Bedeutung gewinnen kann bzw. dieser einer Erweiterung bedarf. Letztendlich wären Prozesse der Verdinglichung als eine dialektische Einheit von ideellen und materiellen Momenten zu denken, wobei jedoch zwischen ökonomischen und außerökonomischen Verdinglichungen zu differenzieren ist, also zwischen verschiedenen Verdinglichungsarten unterschieden werden muss. Im Kapitel 4.3 setzt sich der Autor dann mit dem Fetischbegriff auseinander. Auch hier werden zunächst einmal Erläuterungen zur allgemeinen Verwendung des Begriffs gegeben, der im erweiterten Sinne bei irrationalen Verehrungen von Objekten verbunden mit einer besonderen Bedeutung für die eigene Identität zur Anwendung kommt. Derartigen Vorstellungen wird eine besondere Wirkungsmacht hinsichtlich des eigenen subjektiven Wohlbefindens zugewiesen und zeichnet sich durch spezifische emotionale Fixierungen aus. Auch bezogen auf diesen Teil werden die langläufigen fachlichen Vorstellungen einer marxschen Kritik unterzogen. Vor diesem Hintergrund formuliert der Autor sodann, welchen Sinn und welche Bedeutung all diese Ausführungen für sein Forschungsprojekt haben bzw. welche diesbezüglichen Erweiterungen zweckmäßig erscheinen, um Verdrehungen in den jeweiligen Kernaussagen auszuschließen. In dem Kapitel 4.4 bringt der Autor vor dem Hintergrund seiner vorangegangenen Ausführungen zu den Begriffen Entfremdung, Verdinglichung und Fetisch noch einmal zum Ausdruck, dass diese Begriff nach seiner Auffassung an sich wie auch in ihrem Verhältnis zueinander hinreichend bestimmt worden sind, sodass sie nun als Denk- und Erkenntniswerkzeuge für sein Projekt zur Anwendung kommen können.

In dem Kapitel 5 setzt sich dann der Autor mit der Entfremdung von behinderten Menschen in der Moderne auseinander. Es sollen in diesem Kapitel die im Kapitel 4 erläuterten Begriffe zur Erklärung der gesellschaftsgeschichtlichen Ausgrenzungsprozesse zur Anwendung kommen und bezogen auf ihre Praxistauglichkeit hin überprüft werden. Sie sollen einer Richtschnur für die Beantwortung der Arbeitshypothese dienen, dass die strukturelle Exklusion von behinderten Menschen in der Moderne das Ergebnis von Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fetisierungsprozessen ist. Infolgedessen wird in diesem Kapitel die bereits dargestellte Ausgrenzungsgeschichte von behinderten Menschen als Entfremdungsgeschichte analysiert. Diese Analyse weist drei Schwerpunktsetzungen auf. Zunächst einmal wird im Kapitel 5.1 die ökonomische Seite der Entfremdung herausgearbeitet. Hierdurch kann zum Ausdruck gebracht werden, dass die hier angesprochene Gruppe von Menschen in der Regel von der unterhaltssichernden Lohnarbeit in der Lebensmittelproduktion ausgeschlossen wurde. Zudem ergab sich für auf Erwerbsarbeit angewiesenen Angehörigen, die üblicherweise nicht über ausreichende zeitliche und finanzielle Ressourcen verfügten, um ihre Angehörige gemäß ihrer Bedürfnisse entsprechend zu versorgen, der Sachzwang, die Notwendigkeit bzw. der Zwang, sie nach Möglichkeit aus den gegebenen Lebenszusammenhängen auszuschließen. Der vom Autor hier deutlich werdende kapitalistische Ausschlussmodus, der Menschen strukturell zu einer Last macht, führt jedoch aus diesen Gegebenheiten heraus nicht so ohne weiteres zu möglichen Lösungsweisen. Infolgedessen wird im Kapitel 5.2. die politische Seite der Entfremdung herausgearbeitet. Die Frage dabei ist, wie reagierte der Staat auf die hier aufgeworfenen und deutlich werdenden sozialen Probleme. Er reagierte auf diese Probleme in der Art und Weise, dass diese Probleme am besten in spezielle und spezifische soziale Räume zu verlagern seien, denn dadurch lassen sie sich beherrschbar machen. Es entstanden infolgedessen eine Vielzahl von Sondereinrichtungen (Zeitalter der Asyle – S. 181 ff.), denen zunächst einmal eine Ordnungsfunktion, aber auch eine Abschreckungsfunktionen (Psychiatrie), gleichfalls auch eine Entlastungsfunktion bezogen auf die gesellschaftliche Produktion und Reproduktion zukommt. In derartigen Anstalten wurden aber zudem im funktionalen Sinne von Behandlung ganz allgemein die Möglichkeit der Verbesserung vorgefundener Probleme gesehen. Waren sie einmal entstanden, offenbarte sich eine Tendenz, Menschen in und mit ähnlichen Problemlagen hier – auch überregional – zu konzentrieren und die Anstalten intern zu differenzieren. Alle im „Zeitalter der Asyle“ gehegten Erwartungen zur Lösung sozialer Fragen – insbesondere auch der „Behindertenfrage“ – erwiesen sich nach und nach als nicht realisierbar. Eher zeigten sich die Anstalten in ihrer Wirkung als behindernd. Trotz dieser Erfahrungen dominiert in der Erziehung und Bildung von Menschen mit Behinderungen wie auch in der Behindertenhilfe bis heute noch – und dies trotz Jahrzehnte des Wirkens einer Integrations- bzw. Inklusionsbewegung – nach wie vor ein Ausschlussmodus, eine „selektierende Inklusion“. Im Kapitel 5.3 werden dann die ideologische Seite der Entfremdung und die ideengeschichtlichen Entwicklungen analysiert, die entfremdend gewirkt haben und immer noch wirken und die strukturellen Ausgrenzungen behinderter Menschen ideologisch rechtfertigen. Konkret wird in diesem Zusammenhang auf entsprechende Welt-, Fremd- und Selbstbilder eingegangen. Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf die Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft, ihre Theorie und Ideologiebildung, ihr Verständnis von Behinderung und ihre ausgrenzende Praxis gerichtet. Besonders eingegangen wird auf Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Entwicklung, auf die feststellbare Diskrepanz von Wesen, Erscheinung und Schein, von Vorstellungen und Vorgestelltem. Letztendlich vollzieht sich eine Verselbstständigung des Geistigen zu einer Ideologie der Rechtfertigung des aktuellen Agierens, in der sich ein Schein der Naturwüchsigkeit von Behinderung und eine scheinhafte Verdinglichung von Behinderung zeigt und Menschen mit Behinderungen nur zu Objekten des Verdinglichungsprozesses werden können. Im Kapitel 5.4 fasst der Autor seine aus den drei vorausgegangenen Kapiteln gewonnenen Analyseergebnisse dann noch einmal zusammen und kommt zu der Auffassung, dass seine Leithypothese, dass die strukturelle Exklusion von behinderten Menschen in der Moderne das Ergebnis von Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fetischisierungsprozessen sei, bestätigt werden konnte.

Nach der bis hierher erfolgten Rekonstruktion der Exklusion behinderter Menschen in umfänglicher Art und Weise geht es dem Autor nun im Kapitel 6 darum, vom Begreifen zum Eingreifen und vom Erkennen zum pädagogischen Handeln zu kommen. Seine Vorstellungen gehen dahin zu zeigen, dass Entfremdung grundsätzlich pädagogisch bearbeitbar ist. Dazu will er eine Pädagogik der Ent-fremdung grundlegen, wobei diese Grundlegung für ihn nicht über die Sonderpädagogik erfolgen kann. Im Kapitel 6.1 rekonstruiert der Autor zunächst einmal die gegenwärtige Erziehungs- und Bildungspraxis, die für ihn den geschichtlichen Ausgangspunkt einer Pädagogik der Ent-fremdung bildet. Verdeutlicht werden sollen in diesem Kapitel Momente der Verstrickung von Erziehungs- und Bildungszusammenhänge in Entfremdungsdynamiken. Sodann sollen als Gegenpart in dem Kapitel 6.2 die ent-fremdenden Momente in der Erziehung und Bildung Gegenstand der Betrachtung sein, insbesondere, wie ent-fremdete Momente wirken können, denn Ziel ist es ja letztendlich, in entfremdeten Verhältnissen die Macht der Machwerke über die Menschen zu sabotieren. Dabei gilt es, sich immer wieder zu verdeutlichen, dass Erziehung und Bildung zugleich entfremdend und ent-fremdend wirken kann. Das aber heißt, dass man, sowohl subversiv, wie auch emanzipatorisch vorgehen können muss. Auf der Grundlage all dieser Erkenntnisse ist für den Autor die Ausgangsbasis geschaffen, um eine Rekonstruktion der Dialektik in der modernen Erziehungs- und Bildungsgeschichte zu ermöglichen. Damit lässt sich eine allgemeine Lagebeschreibung dahingehend vornehmen, wie der konkret-historische Standort einer Pädagogik der Ent-fremdung in der gesellschaftlichen Praxis zu bestimmen ist und wie man zu einer realistischen Einschätzung ihrer Eingriffsmöglichkeiten und Grenzen kommen kann. Dies erfolgt in fünf Unterkapiteln. Diesbezüglich wird zunächst einmal das Aktionsfeld einer Pädagogik der Ent-fremdung skizziert und sodann das Einsatzgebiet der Pädagogik der Ent-fremdung als eine Pädagogik aus der Defensive heraus beschrieben. In zwei weiteren Punkten werden sowohl die Stoßrichtung einer Pädagogik der Ent-fremdung, wie auch die Grenzen einer Pädagogik der Ent-fremdung skizziert. Ein weiterer Punkt widmet sich dann der Herausarbeitung von Sinn und Zweck einer Pädagogik der Ent-fremdung als erziehungs- und bildungswissenschaftliche Theorie. Im nachfolgenden Kapitel 6.3 wird sodann das Profil einer Pädagogik der Ent-fremdung vorgestellt. In dieser Profilbildung wird die Pädagogik der Ent-fremdung als eine ermöglichende, als eine ermächtigende, als eine parteiergreifende und als eine widerständige Pädagogik beschrieben. Alle diesbezüglichen Vorstellungen des Autors werden präzis dargelegt. Der Beschreibung des Profils einer Pädagogik der Ent-fremdung folgt im Kapitel 6.4 eine Skizzierung von Konfliktfeldern einer derart akzentuierten Pädagogik. Denn nach der Auffassung dürfte aufgrund seiner bisherigen fachlichen Ausführungen offenkundig geworden sein, dass es sich bei dem Aktionsfeld der Pädagogik der Ent-fremdung um ein konfliktreiches Feld handele, in dem permanent Widersprüche auftreten und deutlich werden, die einer je spezifischen Bearbeitung bedürfen. In diesem Kapitel werden fünf Konfliktfelder markiert, die jeweils detailliert beschrieben werden. Es sind die Konfliktfelder gegeneinander versus Miteinander, Monolog versus Dialog, Konformität versus Widerstand, soziale Kälte versus Solidarität und verdinglichtes Denken versus geschichtsmaterialistisches Denken. Im nachfolgenden Kapitel 6.5 schließt dann der Autor seinen umfänglichen Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung mit einer kurzen Betrachtung zu den zentralen Linien dieses Grundrisses ab. In dieser Betrachtung werden noch einmal die zentralen Aussagen der vorangegangenen Unterpunkte dieses gesamten Kapitels herausgestellt.

Die Ausführungen des Autors werden abgeschlossen mit einem knappen Schlusskapitel. Hier unterstreicht er noch einmal, dass es ihm wichtig war, Antworten auf die Frage zu finden, welche gesellschaftlichen Prozesse zur Exklusion behinderter Menschen geführt haben und führen. Dabei lässt er noch einmal seine Vorgehensweise zur Beantwortung dieser Fragen Review passieren. Herausgestellt wird noch einmal, dass die in seinem Buch markierte Ausgrenzungsgeschichte als ein integraler Teil der Gesellschaftsgeschichte anzusehen ist. Die sich in der Gesellschaft vollziehende strukturelle Exklusion von behinderten Menschen in der Moderne ist dabei immer als das Ergebnis von Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fetischisierungsprozesse anzusehen. Untersucht wurde in diesem Zusammenhang, wie die Pädagogik zur Entfremdung in der Erziehungs- und Bildungsgeschichte beigetragen hat und immer noch beiträgt, und was man tun kann, um diesen Gegebenheiten entgegenzuwirken. Erste diesbezügliche Antworten sollen die skizzierten Grundrisse einer Pädagogik der Ent-fremdung liefern.

Diskussion

Das Buch kann als gut und wichtig für die weitere Debatte über Inklusion im allgemeinen und hinsichtlich der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention angesehen werden. Gerade weil in letzter Konsequenz die in der UN-Behindertenkonvention zum Ausdruck gebrachten Forderungen oftmals eher abgewehrt bzw. verschleiert, nicht jedoch zielstrebig verfolgt und umgesetzt werden, wirken im Hintergrund immer noch Vorstellungen von der Exklusion sowohl in struktureller, wie auch in politischer, aber auch in fachlich-sonderpädagogischer Hinsicht. Gerade deshalb kann mit den in diesem Buch im Gesamt zum Ausdruck gebrachten Erkenntnissen die Diskussion um die Inklusion und insbesondere die Diskussion um die vielschichtigen diesbezüglichen Widerständlichkeiten und Abwehrhaltungen befruchtet werden. Dies gerade dann, wenn man die Formen der Exklusion im allgemeinen und die ihr eigenen vielschichtigen Zusammenhänge noch einmal detailliert offen legen will. Letzteres hat der Autor in einer sehr differenzierten Art und Weise getan. Dabei ist er nicht nur bei den strukturellen Zusammenhängen der Exklusion stehen geblieben, sondern hat im Besonderen gerade auch politische und ideelle Hintergründe und Zusammenhänge über die fachlichen Aspekte der Entfremdung, der Verdinglichung und des Fetisch offengelegt – gipfelnd in seiner Auffassung, dass, wer von Exklusion redet, zur Entfremdung nicht schweigen darf.

Eine kleine Anmerkung hätte ich noch zu den Darlegungen des Autors zu den strukturellen Gegebenheiten der Exklusion im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Hinsichtlich der geschichtlichen Rekonstruktion der gegenwärtigen Exklusion, skizziert er zwar durchaus anschaulich das „Zeitalter der Asyle“ (S. 181 ff.), bezieht sich bei seinen Ausführungen aber nach meiner Auffassung zu stark auf die mit der Psychiatrie im Zusammenhang stehenden Aspekte im krisengebeutelten letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (S. 180). Zwar skizziert er in diesem Zusammenhang auch diese Phase als ein „Zeitalter der Volksschule“, zum Ausdruck in der Tatsache kommend, dass in dieser Phase enorme Schritte unternommen worden sind, die bereits bestehende Schulpflicht bis in das kleinste Dorf hinein zu realisieren. In einer nachfolgenden Welle wird diese Schulpflicht zu großen Teilen in den deutschen Ländern auch auf Kinder mit Lern-, Seh-, Hör- und motorischen Problemen ausgeweitet. Da eine Realisierung derartiger Vorstellungen vor Ort nur in großen Gemeinden möglich war, wurde für Kinder aus den eher ländlichen Regionen eher auf eine „Internatslösung“ zurückgegriffen. Entsprechend wurden schon bestehende Anstalten um eine an den diagnostizierten Problemen der Kinder orientierte „Bildungsanstalt“ erweitert oder aber entsprechende Anstalten neu geschaffen. Oftmals gingen nach der Absolvierung der Schulpflicht diese Jugendlichen nicht so ohne weiteres wieder in ihre Heimatgemeinden zurück, sondern verblieben in den jeweiligen Einrichtungen. Dadurch erweiterten sich diese mit den sich etablierenden „Beschäftigungsanstalten“ abermals und differenzierten sich hierdurch nochmals weiter aus. Gemäß den gegebenen Möglichkeiten der jeweiligen Anstalten erlernten diese Jugendlichen entsprechende (Hilfs-)tätigkeiten und ihre erbrachte Arbeitsleistung floss in der Regel in die Ökonomie der Anstalt ein, nie den Charakter von Arbeit im geläufigen Sinne erreichend. Oder aber diese Arbeit wurde sogar noch als „Arbeitstherapie“ im Sinne von „Heilung“ (S. 187) fetischisiert. Gerade all diese Entwicklungen kommen recht gut in den in diesem Buch zur Darstellung gebrachten Vorstellungen von Entfremdung, Verdinglichung und Fetisch zum Ausdruck. Sie kamen beispielsweise nochmals verdichtet in den 1920er Jahren in der verallgemeinerten fachlichen Vorstellung zum Ausdruck: „Der Krüppel gehört in eine Anstalt“.

Fazit

Der Autor will mit seiner Arbeit zum Ausdruck bringen, dass die strukturelle Exklusion von behinderten Menschen in der Moderne das Ergebnis von Entfremdungs-, Verdinglichungs- und Fetischisierungsprozessen ist. Desweiteren stellt sich ihm die Frage, inwieweit die Pädagogik selbst wie auch durch ihr Handeln in konkreten Institutionen zu diesen Prozessen ihren je spezifischen Beitrag geleistet hat und auch heute noch leistet. Eine Aufgabe sieht der Autor darin zu zeigen, was man tun kann, um derartigen Prozessen in der Erziehungs- und Bildungspraxis entgegenzuwirken, bezogen auf die Erziehungs- und Bildungspraxis will er mit der Entwicklung eines Grundrisses einer Pädagogik der Ent-fremdung einen diesbezüglichen Weg aufzeigen.

Rezension von
Prof. Dr. Norbert Störmer
Professor für Heilpädagogik/Behindertenpädagogik Hochschule Zittau/ Görlitz
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Es gibt 9 Rezensionen von Norbert Störmer.

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Zitiervorschlag
Norbert Störmer. Rezension vom 02.12.2024 zu: Stefan Schuster: Verkehrte Welt. Von der Praxis der Exklusion behinderter Menschen zum Grundriss einer Pädagogik der Ent-fremdung. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. ISBN 978-3-8379-3344-4. Reihe: Dialektik der Be-Hinderung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31866.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.


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