Anita Dietrich-Neunkirchner, Gabriela Pap: Träume in Zeiten der Coronapandemie
Rezensiert von Prof. Dr. Mark Galliker, 20.10.2025
Anita Dietrich-Neunkirchner, Gabriela Pap: Träume in Zeiten der Coronapandemie. Psychoanalytische und individualpsychologische Beiträge zur Traumforschung.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
300 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3322-2.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR.
Reihe: Forschung psychosozial.
Thema
In der Coronapandemie haben Träume als Seismografen von Gefühlen und Gedanken eine besondere Bedeutung erlangt. Die Autor:innen thematisieren die Auseinandersetzung mit der Krise durch Nacht- und Tagträume. Auf der Grundlage eines webbasierten Corona-Traum-Forschungstagebuchs konnte sich das Projekt auf insgesamt 622 Träume von 73 Teilnehmer:innen beziehen.
Herausgeberinnen
Anita Dietrich-Neunkirchner ist Klinische Psychologin, Psychoanalytikerin und Lehranalytikerin in Wien. Als Lektorin und Leiterin der Gender-Study-Group ist sie an der Sigmund Freud Privat Universität Wien tätig. Sie arbeitet auch in eigener Praxis und als Supervisorin in Wien.
Gabriela Pap ist stellvertretende Leiterin des Fachspezifikums Individualpsychologie sowie Leiterin des Universitätslehrgangs für Säuglings-, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie an derselben Universität und arbeitet als Therapeutin und Lehranalytikerin ebenfalls in eigener Praxis.
Entstehungshintergrund
Kurz nach Beginn des Corona-Lockdowns fasste Anita Dietrich-Neunkirchner den Entschluss, diese gesellschaftliche Ausnahmesituation mit einem Forschungsprojekt zu begleiten. Es entstand das webbasierte Corona-Traum-Forschungstagebuch. Die fortlaufenden Traumeinträge der Teilnehmer:innen wurden dokumentiert, um sie der späteren Verlaufsanalyse zuführen zu können. Intendiert war, neben der unbewussten Verarbeitung der gesellschaftlichen Situation auch Resilienzstrategien zu erheben.
Aufbau
Die vorliegende Publikation umfasst neben den Beiträgen der beiden Herausgeberinnen sechs weitere Artikel:
Manfred Reisinger et al.: Träume im ersten Lockdown der Covid-19-Pandemie. Eine individualpsychologische Analyse.
Anna Maria Diem:Von Ohnmachtsgefühlen und Grenzüberschreitungen. Geschlechtsspezifische Besonderheiten im Traumgeschehen zurzeit des ersten Corona-Lockdowns.
Brigitte Sindelar: Einsamkeit in der Lebensphase der Emerging Adulthood.
Christine Korischek: Im Fremden bin ich mir selbst so nah. Spielformen der Regression im Corona-Lockdown.
Gisela Hajek: Tagträumereien als Schutz und Utopie. Eine kritisch-feministische Auseinandersetzung mit Mutterschaft und Weiblichkeit in Zeiten des ersten Covid-19-Lockdowns.
Franca Fabini et al.: Träume und soziale Visionen teilen. Social Dreaming während der Covid-19-Pandemie in Italien von Januar bis Juni 2020.
Inhalt
In dieser kurzen Rezension kann nur auf zwei Beiträge der Herausgeberinnen und die Beiträge der Autorinnen Diem und Hajek hingewiesen werden.
In dem von Anita Dietrich-Neunkirchner verfassten Beitrag „Meine Uhr ist gestohlen, kaputt gegangen oder verloren. Lockdown-Träume – eine psychoanalytische Verlaufsstudie in Traumserien“ wurden zehn Traumverläufe von sieben Frauen und drei Männern untersucht. Erkennbar ist, dass die Träume zu Beginn des Lockdowns von einer Stimmung wachsamer Bedrohung, Enge und Angespanntheit durchzogen sind. Ein zentrales Thema ist die Angst, die eigenen Kontaktbedürfnisse nicht ausreichend befriedigen zu können. Einige am Projekt beteiligte Personen suchten Zuflucht bei ihnen persönlich wichtigen Bezugspersonen aus ihrer Vergangenheit; doch hilfreiche Personen sind schwer erreichbar oder fehlen ganz. Die Träume in der Zeit des anhaltenden Lockdowns sindin einer düsteren, depressiven Stimmung gehalten. In den Traumbildern von leblosen Gegenständen und kalten Landschaftsbildern spiegeln sich Einsamkeit, Angst und Verzweiflung. Die Träume in der Zeit der Öffnungsschritte im Lockdown referieren die gesellschaftliche Hoffnung auf den Wiedereintritt der Normalität. Sie sind vom Wunsch erfüllt, wieder etwas zu erleben, doch wird auch Vorsicht nahegelegt. In dieser letzten Untersuchungsperiode handeln viele Träume vom Begehren, wieder Beziehungen aufzunehmen.
Im Beitrag „Es war sehr dunkel und kein anderer Mensch war da. Veränderungen der Affektregulierung zwischen den ersten und letzten Träumen von Traumserien während des ersten Lockdowns 2020 der Covid-19-Pandemie“ untersucht Gabriela Pap 32 Traumserien, wobei sie sich auf jene bezieht, die sich in ihrem Differenzierungsniveau am Anfang und am Ende des Untersuchungszeitraums deutlich unterscheiden. Zu Beginn der Forschungsarbeit wurde u.a. angenommen, dass die mit den auftretenden Konflikten einhergehenden Unsicherheiten durch Desaffektualisierungen zu meistern versucht werden. Es gibt Traumserien, die sich im Verlauf der Untersuchungszeit verdichten, andere, die sich differenzieren und wieder andere, die diesbezüglich gleich bleiben. Von einer Ausnahme abgesehen (Intensität der Interaktion) ergaben sich keine signifikanten Differenzen zwischen der Struktur der ersten und der letzten Träume. Die Ergebnisse der Untersuchung scheinen zu bestätigen, dass die belastenden Maßnahmen des Lockdowns von seelisch gesunden erwachsenen Personen gemeistert werden konnten.
Anna Maria Diem thematisiert in ihrem Artikel „Von Ohnmachtsgefühlen und Grenzüberschreitungen“ die Differenz von Frauen und Männern in den Träumen des Traumtagebuchs. Es wurden die Träume von 48 Personen (39 Frauen und 9 Männer), die insgesamt 596 Traumnächte protokolliert haben, inhaltsanalytisch ausgewertet. Ergebnisse: Die Traumerzählungen der Frauen umfassen durchschnittlich 126 Wörter, die der Männer 78 Wörter. Mehr als einem Fünftel aller männlichen Einträge konnte keine Gefühlskategorie zugeordnet werden, da keinerlei emotionale Beschreibung vorkam; bei den Frauen war dies nur bei etwa einem Zehntel der Einträge der Fall. Bei beiden Geschlechtern weist mit großem Abstand die Kategorie Angst die meisten Items auf. Manche Gefühlskategorien konnten ausschließlich weiblichen Einträgen zugeordnet werden, darunter etwa Dankbarkeit, Eifersucht, Freiheit, Panik und Überforderung. Signifikante geschlechtsspezifische Differenzen wurden auch bei folgenden Kategorien festgestellt: Corona, Familie, Grenzüberschreitung, Partner:in und schulischer Zusammenhang. Während das Thema Corona bei den Männern signifikant häufiger in den Träumen angesprochen wurde, sind die anderen vier Kategorien in den Einträgen der Frauen häufiger.
Gisela Hajek setzt sich in ihrem Beitrag mit Tagträumen als Schutz und Utopie auseinander. Sie thematisiert in ihnen die Weiblichkeit und Mutterschaft in den Zeiten des ersten Covid-19-Lockdowns. Bekanntlich wurde der Anstieg der Pflege- und Betreuungsarbeit während der Pandemie vorwiegend von Frauen geleistet. Die wichtigsten Quellen der Tagträume sind neben der Wunscherfüllung die Erfahrung und/oder Identifikation der jeweiligen Person und die Abwehrfunktion, um Unaushaltbares und Unverarbeitetes tragbar zu machen. Tagträume können wie Nachtträume als Kompromissbildungen verstanden werden. Da die Inszenierung und Ausgestaltung dem Träumenden bewusster sind als in Nachtträumen, werden andere Kompromisse gebildet, als wenn die Ich-Funktionen im Schlaf stärker zurückgestellt werden. Die Autorin beschreibt, wie die herausfordernde Alltagssituation patriarchale Muster verstärkte und wie dieselben durch die hilfreiche Funktion der Tagträume gelindert wurden.
Diskussion
Dieser Sammelband enthält interessante Beiträge mit wissenschaftlich relevanten Ergebnissen, die teilweise nicht erwartet wurden, teilweise aber als Bestätigung von Befunden anderer Untersuchungen gelten können. Auch in methodologischer Hinsicht ist das Buch lesenswert, werden in ihm doch teilweise neue Wege beschritten. Doch stellen sich diesbezüglich auch Fragen, die hier zwar nicht beantwortet werden können, auf die aber zumindest hingewiesen werden soll.
In den beiden zuletzt angeführten Beiträgen stellen sich kaum Fragen, denn es wurde nicht der Anspruch erhoben, mit den dargestellten manifesten Träumen unbewusste Prozesse zu erfassen. Deshalb ist im Artikel von Diem nichts dazu einzuwenden, dass die Traumdarstellungen mit einer eher sozialwissenschaftlich relevanten inhaltsanalytischen Methode untersucht wurden. Der Artikel von Hajek hat den Charakter eines Essays; es wird also gar kein empirischer Anspruch erhoben.
Problembehafteter scheint mir die Vorgehensweise im Beitrag zur Affektregulierung zu sein, in dem die Methode von Moser und von Zeppelin (1999) verwendet wird, die sich ausschließlich auf die Strukturder [kann nur sein: bewussten] Darstellung des manifesten Traums bezieht und dennoch die Untersuchung der [unbewussten] Regulierung von Affekten ermöglichen soll, die sich im Zusammenhang mit auftauchenden neurotischen [d.h. unbewussten] Konflikten zeigen.
Begründung: Das Unbewusste ist kein Zustand, sondern ein Prozess, wie aus der „Traumdeutung“ von Freud (1900/1972) eindeutig hervorgeht: In der Psychoanalyse werden zu den einzelnen Teilen des manifesten Traumes (einzelne Sätze oder Satzteile des Traumberichtes) durch freie Assoziation sukzessive die latenten Trauminhalte gebildet, von denen angenommen wird, dass aus ihnen im Schlaf, in dem die Kontrolle des Bewusstseins herabgesetzt ist, der latente Inhalt komprimiert und das semantische Zentrum verlagert wird. Auf diese Weise werden Verdichtung und Verschiebung des primären Prozesses der sogenannten Traumarbeit bzw. das Unbewusste in seiner Bewegung erkennbar. Bei der Wiederholung von Träumen hat Freud ebenfalls auf die minimalen Veränderungen – eben Verschiebungen und Verdichtungen – geachtet, was dazu beigetragen hat, die unbewusste Bewegung bzw. das Unbewusste als bewegtes Phänomen zu verstehen.
In der hier an erster Stelle angeführten Verlaufsstudie wurden zwar wie in den anderen empirisch orientierten Untersuchungen von den Studienteilnehmer:innen ein paar Einfälle zu ihren Träumen erhoben, ebenso wurden auch Emotionen und Tagesereignisse hinsichtlich Tagesreste erfragt, doch handelt es sich lediglich um minimale Ergänzungen zu den Träumen der Teilnehmer:innen. Wäre es im vorliegenden Fall nicht auch möglich gewesen, wenngleich nicht im Sinne von freien Assoziationen, aber doch i.S. von eigentlichen Assoziationen der Teilnehmer:innen, den latenten Kontext derselben zu eruieren, um von ihm aus die Bewegungen (insb. Verschiebungen und Verdichtungen) in Richtung des manifesten Traums zu erfassen? Dadurch hätte dem Anspruch einer Untersuchung unbewusster Prozesse eher entsprochen werden können.
Sicherlich gilt es die Idee einer Traumassoziationsgruppe im Sinne von Morgenthaler (1990) zu würdigen, doch kann man sich fragen, ob mit der Realisierung derselben im vorliegenden Fall nicht Persönliches mit Un- und Überpersönlichem vermischt wird. Mit Gruppenassoziationen könnte man zwar in Richtung kollektiver Unbewusstheit vordringen, wenn eine Untersuchung der gesellschaftlichen Bewusstseinsbildung bei einer Ausnahmesituation wie der Coronakrise intendiert würde, was hier aber nicht der Fall war, doch ob sie auch Wesentliches zum Verständnis der unbewussten Prozesse isolierter träumender Individuen beitragen könnten, wäre hinsichtlich sich in Zukunft wohl aufdrängender ähnlicher Forschungsprojekte zumindest ein Diskussionsthema.
Fazit
Träume zur Wahrnehmung des kognitiven und insbesondere emotionalen Befindens während der Coronazeit zu untersuchen, war ein fruchtbares Projekt, dessen Verwirklichung sich sicherlich gelohnt hat. Mit ihr wurde auch einiges Neuland betreten. Da anzunehmen ist, dass sich in Zukunft ähnliche Ausnahmesituationen wiederholen werden, besteht ein Wert der Arbeit auch darin, auf Probleme aufmerksam gemacht zu haben, über die fortan intensiver zu diskutieren ist (u.a. Problem des Verhältnisses von individueller und kollektiver unbewusster Prozesse).
Literatur
Freud, S. (1900/1972). Die Traumdeutung. Studienausgabe. Band II. Frankfurt a.M.: Fischer.
Morgenthaler, F. (1990). Der Traum. Fragmente zur Theorie und Technik der Traumdeutung. Frankfurt a.M.: Campus.
Moser, U. & Zeppelin l. v. (1999). Der geträumte Traum. Wie Träume entstehen und sich verändern. Stuttgart: Kohlhammer.
Rezension von
Prof. Dr. Mark Galliker
Institut für Psychologie der Universität Bern
Eidg. anerkannter Psychotherapeut pca.acp/FSP
Mitglied der Schweizerischen Gesellschaft für den Personzentrierten Ansatz
Weiterbildung, Psychotherapie, Beratung (pca.acp).
Redaktion der Internationalen Zeitschrift für Personzentrierte und Experienzielle Psychotherapie und Beratung (PERSON).
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