Donald W. Winnicott: Die menschliche Natur
Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 29.10.2024

Donald W. Winnicott: Die menschliche Natur.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
250 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3337-6.
D: 32,90 EUR,
A: 33,90 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema
Das Studium der frühen Kindheit als Grundlage für die Menschliche Natur.
Autor
Donald W. Winnicott (1896-1971) war ein theoretisch einflussreicher englischer Kinderarzt und Kinder- und Erwachsenenanalytiker. Der Einblick in das kindliche Seelenleben ermöglicht ihm auch ein Verständnis für das Seelenleben von Erwachsenen.
Entstehungshintergrund
Ist das Interesse an Winnicotts Erkenntnissen. Das als Fragment hinterlassene Buch enthält seine unvollendeten Überlegungen zur menschlichen Entwicklung und Natur.
Inhalt
Nach einem Vorwort von Thomas Auchter folgt ein kurzes zweites kurzes von Clare Winnicott und eine Vorbemerkung der Herausgeber (Christopher Bollas, Madeleine Davis, Ray Shepherd).
Winnicott – oder: Psychoanalyse mit menschlichem Gesicht
Das Thema von Winnicott ist ‚Menschwerden‘ oder ‚Lebendigwerden‘ in vielfältiger Bedingtheit und Unvollkommenheit, wozu auch Leiden und Selbstmord gehört. Allergisch gegen Dogmatismus, Rigidität, Indoktrination vertraute er auf eine haltende und fördernde Mitwelt und eine ‚musikalische Lebendigkeit‘, die Körper, Seele und Geist einschloss und Schmerz, Leiden, Konflikte, wie auch Glück, nicht ausschloss. Aus einer undoktrinären protestantischen Familie stammend wehrte er sich mit nüchternem Realitätssinn auch gegen Dogmatismus von Psychoanalytikern.
Die Begegnung mit Patienten – Kinder, Jugendliche, Erwachsene – war ihm wichtig und die Verständigung mit ihnen, darin auch Ferenczi folgend, und auf der Suche nach der Entwicklung des Wirklichkeitssinns anstelle der frühen imaginären Omnipotenz (Illusion und Desillusionierung), der Entwicklungsstufen und der Anpassung der Familie an das Kind.
An Ferenczi knüpften auch Überlegungen zum ‚falschen Selbst‘ an, zu frühen Störungen und agierendem Wiederholen von Träumen, und darüber hinaus Unterscheidungen zwischen Ich-Bedürfnissen und Es- oder Trieb-Wünschen und grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen. Eine authentische Beziehung, einschließlich der Anerkennung von Fehlern, sei vor allem bei der Arbeit mit frühgestörten Patienten wichtig.
Wie kommt man aus einem nicht-integrierten Zustand entwicklungs- und objektbeziehungspsychologisch zu einem einheitlichen Selbst? Wie entwickelt der Mensch in dem vielfältigen Chaos von Beobachtungen und Überlegungen eine gewisse Ordnung, mit dem Ziel, sich wirklich zu fühlen (Beispiele von Beobachtungen zum Spielen, zur Kreativität, zu Übergangsphänomenen und dem Möglichkeitsraum).
Weniger berücksichtigt wurde, indem vorliegenden Text, die Adoleszenz (z.B. Jugendgewalt) und das Erwachsenenalter.
Winnicott verstand sich als Entwicklungshelfer, der Möglichkeiten zur Entfaltung oder zu Veränderungen anbietet.
Vorwort
Die Bedeutung der Arbeit mit Studenten und Sozialarbeitern für die Entwicklung der Gedanken von Winnicott.
Vorbemerkung der Herausgeber (Christopher Bollas, Madeleine Davis, Ray Shephard).
Einleitung
Darstellung der menschlichen Natur aufgrund eigener Erfahrungen auf dem Weg vom Kinderarzt zum Psychoanalytiker. Neben einer begrenzten Anzahl von Langzeitanalysen betreute er ambulant viele kleine und große Patienten in Kurztherapien und lernte deren Lebensumstände (auch asoziale) kennen und erfuhr von psychotischen Patienten viel über die Psychologie der frühen Kindheit.
Seine Arbeiten wurden unterstützt durch die Beratertätigkeit (von Eltern), das Unterrichten und Rundfunkvorträge.
(Ich werde in folgendem nur eine kurze Inhaltangabe geben, da Auchter in seinem Vorwort bereits einen wesentlichen Überblick gegeben hat, der nur noch positiv ergänzt werden kann durch die – allerdings nur in der Übersetzung überlieferte – eigene Sprache von Winnicott.)
I. Eine Untersuchung des Kindes: Soma, Psyche, Geist
Nach einer Einführung folgen die Kapitel
- Psyche-Soma und Geist: Körperliche und psychische Gesundheit, Intellekt und Gesundheit.
- Die entgleiste Gesundheit, z.B. der körperlichen und psychischen Gesundheit.
- Die Beziehung zwischen körperlicher Krankheit und psychischer Störung. Die Auswirkungen des Körpers und seiner Gesundheit auf die Psyche: Erbanlagen, Angeborene Störung, Störungen der Nahrungsaufnahme, Ausscheidungsstörungen, Unfälle, Eine Kategorie des bislang Unbekannten »ob körperlich oder psychisch«, Allergie, Der Einfluss der Psyche auf den Körper und seine Funktionen.
- Der psychosomatische Bereich.
II. Die emotionale Entwicklung des Menschen
Nach einer Einführung folgende Themen:
- Interpersonale Beziehungen (Familie, Trieb, Liebe).
- Das Gesundheitskonzept aus triebpsychologischer Sicht: Imaginative Bearbeitung und Ausgestaltung der Körperfunktionen, Die Psyche, Die Seele, Erregungs- und Ruhezustände, Der Ödipuskomplex und dessen Neuformulierung, Infantile Sexualität, Realität und Phantasie, Das Unbewußte. Eine Zusammenfassung der Triebentwicklung eines kleinen Jungen: Die Entwicklung durchläuft einen Reifungsprozess (Höhepunkt mit 5 J.), dessen Muster in der Pubertät wieder auftauchen. Gewinnt die Angstabwehr die Oberhand führt das klinisch eher zu einer Psychoneurose. Die Familie ist der ideale Rahmen für Wachstum (übersichtliche Darstellung der Psychologie des kleinen Jungen im Rahmen eines triebtheoretischen Verständnisses).
III: Die Entwicklung zur Einheit der Persönlichkeit
Nach einer Einführung ‚Die charakteristische emotionale Entwicklung im Säuglingsalter‘ folgt
- Die depressive Position: Besorgnis -Schuldgefühl und innere psychische Realität, Eine Neubetrachtung der Verdrängung, Die Kontrolle und Bewältigung böser Kräfte und Objekte, Innerer Reichtum und Komplexität.
2) Entwicklung des Themas der inneren Welt: Paranoide Lebensweise, Depression und die »depressive Position«, Die manische Abwehr.
- Psychotherapeutisches Material unterschiedlicher Herkunft (4 Beispiele).
- Hypochondrische Angst.
IV. Von der Triebtheorie zur Ich-Theorie
Nach einer Einleitung zur primitiven emotionalen Entwicklung
- Das Aufnehmen von Beziehungen zur äußeren Realität. Erregte und ruhige Beziehungen: Die Bedeutung der Illusion und Übergangszustände, Scheitern der ersten Kontaktaufnahme, Primäre Kreativität, Die Bedeutung der Mutter, Das Baby bei der Geburt, Die Philosophie des »Realen«.
- Integration.
- Der Einzug der Psyche in den Körper: Körpererleben, Paranoia und Naivität. 4) Die frühesten Zustände. Diagramm des Systems »Umwelt-Individuum«, Wirkung der Schwerkraft intrauterin.
- Ein primärer Zustand des Seins: Prä-primitive Stadien.
- Chaos, wenn das Reagieren auf äußere Einwirkungen das Sein unterbricht.
- Die Funktion des Intellekts.
- Innerer Rückzug und Regression.
- Die Geburtserfahrung.
- Umwelt: Kleinkind, Latenz, Adoleszenz, reife
11 Neubetrachtung psycho-somatischer Erkrankungen: Asthma und Magengeschwür.
Anhang
- Synopse I: 1) Untersuchung des Kindes (Soma, Psyche, Geist), 2) Die emotionale Entwicklung des Menschen, 3) Konstituierung der Umwelt.
- Synopse II: Die Untersuchung der menschlichen Natur,Teil 1) des Kindes und der emotionalen Entwicklung des Menschen, Teil 2) der Entwicklung und Einheit der Persönlichkeit, Teil 3) die Ich-Theorie.
Diskussion
Dieses Buch ist für Winnicott-Kenner geschrieben, für jemand, der sich mit ihm in seinen Veröffentlichungen beschäftigt hat, seinen Überlegungen zur frühen Mutter-Kind-Beziehung, seinen Fallgeschichten und seinem methodischen und intuitivem Umgang mit Kindern, z.B. der Squiggle-Technik. Ohne diesen Hintergrund lässt sich dieser Versuch der Zusammenfassung eines Lebenswerks ’Nachdenken über die menschliche Natur‘ nur schwer erschließen. Das Vorwort von Auchter kann eine Hilfe sein, allerdings auch nur für den bereits mit Winnicotts Arbeiten vertrauten Leser.
Sein Hauptinteresse galt offensichtlich der frühen kindlichen Entwicklung in einer ausreichend gut haltenden mütterlich und väterlichen (das kommt etwas zu kurz) Umgebung. Insofern endet dieses unvollendete Werk, bevor die Themen Adoleszenz und Erwachsene aufgenommen wurden.
Was seine Erkenntnisse über die frühen Entwicklungen (Geburt, Säugling, Kleinkind, Ich-Entwicklung anbetrifft) verdanken wir ihm viel, insbesondere was die Bedeutung der vom Kind im illusionären Stadium noch nicht einmal bewusst wahrgenommenen haltenden Beziehung anbetrifft oder wenn erreichte Entwicklungsstufen wieder verloren gehen oder künstlerisch wahres und falsches Selbst vereint wird, oder die Mutter versagt in der Aufgabe, das Baby mit der Welt vertraut zu machen und für eine hinreichend gute Umgebung (System Umwelt-Individuum) zu sorgen, die Kompromisse einschließt, denn ‚Kompromissfähigkeit ist kein Charakteristikum des seelisch Kranken‘.
Winnicott selbst musste mit diesem Buch einen Kompromiss schließen mit der Begrenztheit unseres ‚Wissens über die menschliche Natur‘, denn diese muss sich auch einer sowohl gleichbleibender als auch verändernden Umwelt immer wieder neu anpassen.
Fazit
Für Winnicott-Kenner ein sehr lesenswertes Buch, dass ich persönlich gern noch einmal in seiner eigenen Sprache, der englischen Originalfassung, lesen möchte.
Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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