Matthew Appleton (Hrsg.): Impulse zur Ganzheit
Rezensiert von Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider, 28.10.2025
Matthew Appleton (Hrsg.): Impulse zur Ganzheit. Die Synthese pränataler, transpersonaler und somatischer Psychologie.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
430 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3343-7.
D: 49,90 EUR,
A: 51,30 EUR.
Reihe: Neue Wege für Eltern und Kind.
Thema
Der Autor Matthew Appleton gilt als einer der Mitbegründer der sog. Integrativen Therapie bei Babys. Diese widmet sich den vorgeburtlichen Erfahrungen von Säuglingen. Sie geht davon aus, dass pränatale Erfahrungen und das Leben im Mutterleib sowie frühe Beziehungserfahrungen die Entwicklung eines Kindes positiv wie negativ beeinflussen. So können negative Erlebnisse zu Störungen bei der emotionalen Regulierung und/oder zu psychosomatischen Symptomen führen, deren Ursprünge in impliziten Körpererinnerungen (embodiment) an diese Erlebnisse verwurzelt sind. Dem Autor ist es ein Anliegen, das vorgeburtliche Kind bereits vom Zeitpunkt seiner Zeugung an als „ganzen“ Menschen zu betrachten, dessen Erfahrungen in diesen pränatalen Phasen (Appleton nennt diese „Übergänge“) prägend sind und Grundlagen bilden, wie später das Leben gemeistert werden kann. So legt er als integrativer Babytherapeut den Fokus auf dysfunktionale bzw. traumatische Erfahrungen des Babys oder Kleinkindes und möchte diese nicht nur durch Einbeziehung und Beratung der Bezugspersonen, sondern besonders durch Körpertherapie und der Arbeit mit dem Baby selbst korrigieren und so verborgene Ressourcen freilegen. So beschreibt Appleton, wie unbewusste Erfahrungen von Babys Beziehungen beeinflussen und wie anhand der Entschlüsselung impliziter Körpererinnerungen – durch z.B. durch Körpertherapie- eine Art Korrektur bzw. heilende Begegnung mit unserem „geistigen Grund“ und mit unserem Daseinszweck ermöglicht werden kann. Dabei bezieht sich der Autor zu einem großen Teil auf Psychoanalytiker wie Freud, Jung, Reich, aber auch ebenso auf neuere neuropsychologische Forschungsergebnisse. Weiterhin möchte er ein von ihm konzipiertes Entwicklungsmodell vorstellen, das drei Modalitäten bzw. therapeutische Herangehensweisen integriert und als kohärentes Ganzes zusammenbringt. Diese drei Modalitäten sind zum einen die pränatale Psychologie, die somatische Psychologie bzw. Körpertherapie sowie die transpersonale Psychologie. Alle drei nehmen in der Mainstream Psychologie, die geprägt ist von der Psychologie des „Ichs“, aktuell nur eine marginale Rolle ein. Appleton moniert, dass diese Ausrichtung zu einer Entfremdung von uns selbst, von unserer Natur und der natürlichen Welt als Ganzes geführt hat. Nur durch die Einlassung mit unserer eigenen tiefen Natur dem sog. „Grund“ können wir uns wieder mit dieser natürlichen Welt verbinden. Er bejaht jedoch, dass wir für diese Prozesse ein stabiles „Ich“ benötigen.
Autor
Matthew Appleton lebt und arbeitet in Bristol. Er ist Körperpsychotherapeut, ausgebildeter Craniosakral-Therapeut und integrativer Baby-Therapeut. Dazu hat er eine entsprechende Fortbildung in mehreren internationalen Ausbildungsstätten durchlaufen. in den Jahren 1988–1997 war Mathew Appleton Hausvater in der weltberühmten demokratischen Summerhill School von A.S.Neill. Bekannt wurde Appleton über das in mehreren Sprachen übersetzte Buch „Kindern ihre Kindheit zurückgeben“, in dem er die Besonderheiten und den Alltag in dieser Schule beschreibt. In vielen Fachzeitschriften und Büchern finden sich zahlreiche Artikel von ihm zu Themen wie alternative Erziehung, Körperarbeit, Psychotherapie etc.
Entstehungshintergrund
Appleton beschreibt die von ihm als Triebfeder empfundene Notwendigkeit, theoretische Modelle, die im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen, miteinander zu verbinden und Erfahrungen, welche nicht in den Rahmen der vorherrschenden Theorien passen, zu verstehen. Das Finden der „Ganzheit“, wenn die Teile nicht zusammenzupassen scheinen. ist die Herausforderung, wobei die erwähnte „Ganzheit“ kein Ziel ist, sondern ein sich entfaltender Pfad, der sich ständig am gegenwärtigen Moment orientiert. Der Titel seines mehr als 400 Seiten umfassenden Werkes „Impulse zur Ganzheit“ bezieht sich somit nicht nur auf das Thema, sondern spiegelt auch den Prozess wider, den der Autor bei Entstehung und Fertigstellung des Buches erlebt hat.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Vorwort und einer einführenden Einleitung durch den Autor finden sich 10 längere Kapitel, die hier kurz oder auch etwas ausführlicher vorgestellt werden. Die letzten 80 Seiten beinhalten ein Glossar, anschauliche Abbildungen zu den Phasen der Geburt aus der Sicht des Babys (Appendix 1), Fotos und Erläuterungen zur sog. Babykörpersprache (Appendix 2) sowie einen Überblick über psychologische und existentielle Themen im Zusammenhang mit der vorgeburtlichen Phase und der Geburt (Appendix 3).
- Kapitel 1: Ich, Seele und Geist (Blatt 27ff)
Hier erläutert der Autor seine Sichtweise auf unsere menschliche Psyche. Er betrachtet diese als ein Körper-Geist- Kontinuum und verwendet die Begriffe Ich, Seele und Geist als Facetten unserer Psyche und als verschiedene Zustände unseres Seins. “Seele“ betrachtet er als eine erfahrbare Realität, ähnlich wie er den Begriff „Geist“ verwendet, um einen weiteren Erfahrungsbereich zu beschreiben. Der Begriff „Geistesgrund“ dient als Metapher für die wesentliche Eigenschaft des Geistes, nämlich als Grund einer Emergenz zu sein, aus dem sich Seele und Ich verdichten. Er benutzt eine Analogie zum Wasser, um Seele, Geist und Ich zu beschreiben und bezeichnet das Ich als Eis, da es die Psyche in ihrer größten Festigkeit ist und eine klare Form zeigt. Seele dagegen ist wie Wasser in seinem flüssigen Zustand; dieses sammelt sich immer am tiefsten Punkt und ähnlich wie dieses steigt die Seele hinab, um Tiefe im Leben zu finden und von diesem Ort aus zu leben. Das Ich schwimmt auf der Seele wie Eis auf dem Wasser und der Geist ist schließlich wie Dampf. Er steigt auf, ist formlos, kann sich ausbreiten und ist weit und frei. Der Begriff Seele beschreibt aus Sicht des Autors das Gefühl einer tief innewohnenden Intelligenz und Lebendigkeit, die dem Ich zugrunde liegt. Passt sich nun das Ich zu stark an eine Kultur an, die die lebensfördernden Qualitäten der Seele nicht anerkennt, werden seine Impulse selbstdestruktiv und asozial.
Da das Ich glaubt, es sei alles was es gibt, muss es ständig von seiner eigenen Realität überzeugt werden, indem es sein Identitätsgefühl stärkt. Das Fließen oder treiben lassen der Seele fürchtet das ich, erlebt es als Auflösung. So findet das Ich Sicherheit darin, sich vom Fluss des Lebens getrennt zu halten. Dadurch wird es von dem Gefühl abgeschnitten, Teil eines größeren Ganzen zu sein und das Leben beginnt, jeden anderen Sinn außer dem Streben nach Sicherheit zu verlieren. Es verfestigt sich, wird sozusagen zum Eisblock in einer andauernden existenziellen Krise. Appleton betont, dass wir ein starkes Ich benötigen, um in der aktuellen Welt zu funktionieren (S. 30f). Dieses weiß, wie man in der konsensuellen Welt funktioniert, bringt Ordnung in das Chaos der Erfahrung und kann persönliche Anpassungen vornehmen, wenn diese nötig sind. Das starke gesunde „Ich“ kennt seinen Platz im breiten Spektrum des Bewusstseins und hält weniger stark an seinem Selbstbild fest. Viele Menschen in unserer westlichen Welt besitzen kein derartiges starkes Ich. Wir erleben uns von Natur aus defizitär. Das ist gut, wenn es dabei hilft, unser überstarkes Bedürfnis zu mildern, Perfektion zu erreichen. Dieser Drang leitet sich von dem frühkindlichen Glauben ab, wir müssen das perfekte Kind sein, um die ersehnte Liebe unserer Eltern zu erhalten.
In der Psychotherapie konzentriert sich ein beträchtlicher Teil der Arbeit darauf, Klienten dabei zu unterstützen, größere Ich-Stärke und Kohärenz zu entwickeln. Erst danach kann an ihren Fehlern oder Defiziten gearbeitet werden. So verschiebt sich der Fokus von der Arbeit mit dem Ich hin zur Verbindung mit den tieferen Strömungen des Lebens, welches der Autor in seinem Modell mit der „Seele“ gleichsetzt. Seelenarbeit verbindet uns dann mit unserer zugrundeliegenden Ganzheit und Defizite oder Fehler des ICHs werden weniger wichtig. Nun besteht die Möglichkeit, dass wir uns nach unseren angeborenen Qualitäten und unserer verkörperten Tiefe ausrichten und das annehmen, was wir sind.
Eine Hauptaufgabe der Säuglingszeit und der Kind- und Jugendzeit ist es, die Ausbildung eines starken „Ich“ beim Baby zu fördern, damit es die Welt begreifen und in ihr funktionieren kann Dieses „Ich“ wird durch die Interaktionen des Kindes mit seiner Umwelt und seinen Bezugspersonen geformt und es hilft, sich an diese Welt anzupassen. Allerdings ist eine Persönlichkeit des Babys bereits vor einem voll entwickelten Ich vorhanden.
Ein starkes „ICH“ zeichnet sich aus u.a. durch ein kohärentes Selbstgefühl, das aus Ich, Seele und Geist besteht, die alle drei zusammen als verkörperter Empfindungsprozess in direkter Beziehung zu seiner Umwelt funktionieren. Appleton betont, dass in dem Maße, in dem die Familie und die jeweilige Kultur sich unseren essenziellen biologischen Bedürfnissen anpassen und die inhärenten seelischen Qualitäten des Kindes unterstützen, desto besser kann das Kind ein stabiles und gleichzeitig flexibles „Ich“ entwickeln und sich sicher und stark fühlen.
- Kapitel 2: Bionuminosum (Blatt 61ff)
Mit diesem Begriff bezeichnet der Autor eine „Schicht“ unserer Psyche, die aus dem „Geistigen Grund“ entspringt und eng mit der Zeit der Empfängnis und unseren damaligen Erfahrungen sowie dem Leben im Mutterleib verbunden ist. Im gesamten Leben kann diese Zeit in Form von Bildern, Emotionen, spontanen Körperbewegungen etc. spontan oder im therapeutischen Prozess wiederbelebt werden, wie das von Appleton zitierte jüdische Sprichwort „…im Leib der Mutter kennt der Mensch das Universum, bei der Geburt vergisst er es…“. Erinnerungsspuren aus dieser Zeit wurden schon in den 1950er Jahren in Psychotherapien aufgedeckt und mittlerweile ist ihre Existenz immer mehr belegt. Der Begriff „Numinosum“ wurde vom Theologen Rudolph Otto 1958 geschaffen, um die Erfahrung einer spirituellen Kraft, der Heiligkeit oder die Präsenz einer Gottheit zu bezeichnen. Erfahrungen mit diesem Numinosum sind universelle Erfahrungen von allen Menschen, egal welcher Kultur. Im Wesentlichen ist sie eine Erfahrung unserer eigenen Natur und des Geistesgrundes der sog „Emergenz“ aus dem die gesamte Natur hervorgeht. Das sog. „Bionuminosale Reich“ definiert Appleton als ein Übergangsgebiet, wenn das nicht lokale (kollektive) Bewusstseins in das Reich des Physischen „eintaucht“, wobei die Silbe „Bio“ (medizinisch „Leben“ ) auf biologische Prozesse und instinktive Triebe beim Säugling hinweist. Diesen Prozess des „Eintauchens“ bezeichnet der theoretische Quanten- und Kernphysiker Dr. Amit Goswani als „Quantenkollaps“ und vergleicht diesen mit der Bewegung von Potenzwellen zu einem materiellen Teilchen, für die die Mainstream Wissenschaft aktuell noch keine Erklärung hat (Blatt65ff).
„Präkonzeptionelle Reisen“ zu den Zeitpunkten der Zeugung und des Lebens als Embryo, können Erkenntnisse und Erlebnisse vermitteln, die vieles erklären bzw. Fragen zu eigenen Entwicklungen beantworten können und – wie der Autor betont- tief empfundene Seelenfreude anstoßen, wie der Autor durch ein Beispielaus seiner Fortbildung, einer eigenen präkonzeptionellen Reise, eindrucksvoll veranschaulicht. Während in unserer westlichen Kultur der Zeit um die Empfängnis keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, versehen indigene Völker diese Zeit mit einer spirituellen Bedeutung und schaffen deswegen z.B. durch reinigende Rituale u.ä. eine möglichst nährende, unterstützende das Baby willkommen heißende Umgebung.
Appleton zeichnet die Empfängnis biologisch aus Sicht der Spermien, wie auch der Eizelle genau nach, was als zelluläre Erinnerung gespeichert wird und später positive wie negative Auswirkungen haben kann. Er beleuchtet das Empfängnisfeld wie auch die Einnistungsphase aber auch die verschiedenen Gebärmuttertypen, um mögliche Prägungen zu entdecken.
- Kapitel 3: Traumzeit [1] des Embryos (Blatt 97ff)
Der Begriff „Traumzeit“ beschreibt die Entstehung der Welt und ist die Grundlage ihrer Religion und Kultur. Diese reicht etwa 65.000 Jahre zurück. Sie erzählt die Geschichte der Ereignisse, die sich zugetragen haben: wie das Universum entstand, wie der Mensch geschaffen wurde und wie der Schöpfer den Menschen in der Welt, wie er sie kannte, funktionieren lassen wollte. Traumzeit ist eine zeit- und raumlose Welt – eine spirituelle Ebene, aus der die reale Gegenwart in einem permanenten Schöpfungsprozess hervorgeht.
Embryo und Baby sind Teil dieser Welt. Seit ihrer Zeugung sind sie Wesen, die wahrnehmen, Schmerz, Freude und Emotionen spüren, ja fühlen können. Über die Nabelschnur (Umbilikale) sind sie fähig, die Gefühle ihrer Mutter zu spüren, und können sogar negative Gefühle oder Zustände (wie z.B. Stress) durch Kontraktion der Nabelschnuröffnung verringern. Appleton beschreibt mit klinischen Beispielen, wie sich in der Babytherapie negative Effekt verkleinern oder gar verhindern lassen.
Auch die Aussage, dass das Herz das Zentrum des Bewusstseins ist und nicht das Gehirn (bzw. der Kopf) wird durch aktuelle Studien untermauert. Das Entdeckungstrauma und seine Anzeichen bzw. Folgen werden erläutert, ebenso wie der Umbilikaleffekt, der beschreibt, wie z.B. der Gefühlszustand von der Mutter auf durch die Nabelschnur auf das Kind übertragen wird, positiv wie negativ. Klinische Beispiele aus der Praxis veranschaulichen die therapeutische Arbeit mit einer umbilikalen Störung und die Stärkung von Abwehrstrategien des Säuglings von negativen umbilikalen Strömungen. weitere Beispiele für körperliche Auswirkung von negativen Erfahrungen werde erläutert und aufgezeigt, wie diese diagnostiziert und auch „behandelt“ werden können.
- Kapitel 4: Die Geburt aus Sicht des Babys (Blatt127)
Der Autor beschäftigt sich hier mit den Empfindungen und Erfahrungen eines Babys unter seiner Geburt. Er nennt das überwiegende Leugnen eines vorhandenen Schmerzempfindens beim Baby unter seiner Geburt in der westlichen Welt einen „kulturellen blinden Fleck“. Beim Geburtsprozess sind auch Babys einem massiven Stress sowie hohem Schmerzempfinden ausgeliefert ebenso wie großer existentieller Ungewissheit. Diese Erfahrungen werden in unserer „Neurologie“ gespeichert. Appleton erläutert traumabasierte Reaktionen, die er auch die „superleitfähigen Überlebenssysteme“ eines Babys nennt. Darunter versteht er autonome Systeme (Hormone, Bioelektrische Aktivitäten) etc. die ein schnelles Reagieren von Überlebenssystemen in existentiellen Situationen aktivieren. Er beschreibt diesen Vorgang neurophysiologisch und gibt anschauliche Beispiele. Diese emotionalen, physischen und auch spirituellen Erfahrungen vor und bei der Geburt, werden in unserer „Neurologie“ fest gespeichert und ggf. später im Leben, insb. in Übergangszeiten, aktiviert, positiv wie negativ.
Appleton plädiert dringend dafür, diese so stark prägende Phase in ein breiteres Verständnis der menschlichen Entwicklung einzubeziehen und bei Problemen in dieser Entwicklung, insb. in den ersten Wochen/​Monaten und Jahren eines Kindes, zu berücksichtigen. Beispiele hierfür schildert er in diesem Kapitel.
- Kapitel 5: Soziale Bindung und sexuelles Bonding (161ff)
Hier setzt sich der Autor mit den Grundlagen menschlicher Beziehung auseinander. Er betont, dass unser Wesen und Streben und unsere „Neurologie“ ausgerichtet sind, soziale Interaktionen zu suchen. Denn so wie die Nabelschnur im Mutterleib zum Überleben benötigt wird, so brauchen wir soziale Beziehungen um uns zu entwickeln und um zu überleben.
Diese Theorie des „Social Engagement-Systems“ basiert auf dem sog. Polyvagalen Konzept des Neurobiologen Stephen Porges, der so eine neue Sicht auf das Autonome Nervensystem (ANS) bezeichnet. Dieses polyvagale System legt nahe, dass das ANS nicht zwischen Sympathikus und Vagus hin und her schwankt, sondern als dreigliedrige Hierarchie bei Einflüssen auf die Umwelt funktioniert. Diese drei Reaktionsstufen des ANS sind einmal a) die sog. Immobilisierung (Erstarren und Einfrieren“ sich „tot stellen) bei ausweglos erscheinenden Bedrohungen mit Herunterregulieren der Herzfrequenz und des Stoffwechsels. Oder b) die Mobilisierung, auch bekannt als Kampf- oder Flucht – Reaktion und c) die Aktivierung unserer – aus evolutionärer Sicht – jüngsten Überlebensstrategie „ das sog social _Engagement- System“, das Mimik, Lautäußerungen, Lauschen und Kopfdrehen beinhaltet und unsere Reaktionen auf Interaktion und Versorgung ausrichtet.
So vermag das Baby über sein social Engagement System die Mutter zu lokalisieren und ihre Aufmerksamkeit bzw., ihre mütterlichen Gefühle durch z.B. Weinen oder andere Geräusche oder auch Mimik zu gewinnen.
Des Weiteren beschreibt Appleton die bioenergetische Basis von Bindung und der Bindungstheorie nach Bowlby und geht auf die Notwendigkeit einer sicheren Bindung für eine sichere Persönlichkeit und gute Selbstregulation sowie zuversichtlichem und achtsamen sozialem Handeln ein. Besonders ausführlich beschreibt der Autor die vielen verschiedenen Beiträge von Wilhelm Reich zum Verständnis der Geist-Körper-Einheit, seine Gedanken zu einer bestimmten von Reich als „Orgon“ bezeichneten Energieform, sowie dessen Ausführungen zu einer sog. „Formel des Lebens“.
Auch Reichs Gedanken zur Sexualität bzw. Sexualökonomie als Grundlage der bioenergetischen Regulation, die Rolle des sexuellen Bondings und die Bedeutung der sog. Herzfelder, d.h. von den elektromagnetischen Feldern eines jeden Herzens, deren Existenz und Ausbreitung in den letzten Jahren teilweise naturwissenschaftlich bestätigt wurden, werden ausführlich wiedergegeben.
- Kapitel 6: Das Netzwerk der Erfahrung (Blatt 199ff)
Appleton beschäftigt sich hier mit der Prägung unserer Körperreaktionen (Embodiment) insbesondere der Faszien durch unsere Erfahrungen und Erlebnisse mit der Welt und unseren sozialen Kontakten. Er betont, dass das Fasziennetzwerk – anders als früher angenommen – nicht nur Verpackungsmaterial für Organe oder Muskeln darstelle, sondern in unserem Körper ein riesiges Kommunikationsnetz, eine lebende Matrix darstelle, die sich nach unseren Erfahrungen formt. Jede dieser Formen erzähle eine Geschichte, ist gelebte Erfahrung eines Menschen und kann, z.B. bei Problemen- in einer Therapie mit dem Klienten/​Patienten zusammen „ausgelesen“ werden.
- Kapitel 7 und Kapitel 8: Die Ausdruckssprache des Körpers (Oberhalb und unterhalb des Zwerchfells) (Blatt 221ff)
In diesen Kapiteln widmet sich der Autor ausführlich der Sprache des Körpers, die an vielen Beispielen veranschaulicht wird. Auch hier beruft sich Appleton in erster Linie auf Wilhelm Reich und seine Theorie über Emotionen, sowie deren Entstehung oder auch Hemmung ausgelöst durch den sog. „Protoplasmastrom“ (Protoplasma ist eine veraltete Bezeichnung für die gesamte lebende Substanz einer Zelle, also den Inhalt innerhalb der Zellmembran. Es umfasst sowohl das Zytoplasma (die flüssige Substanz außerhalb des Zellkerns) als auch das Karyoplasma (den Inhalt des Zellkerns). Protoplasma besteht hauptsächlich aus Wasser, Proteinen, Kohlenhydraten, Lipiden, Nukleinsäuren und anorganischen Salzen.) W. Reich identifizierte sieben Segmente, d.h. Organe und Muskelgruppen, die in funktionellem Kontakt zueinanderstehen und sich gegenseitig zur Teilnahme an einer Ausdruckbewegung (Lachen, Weinen, etc.) anregen können. Diese Segmente entsprechen weitgehend der in der östlichen Tradition als „Chakren“ bezeichneten Energiezentren. Diese Segmente und deren -aufgrund ungünstiger Erlebnisse vollzogenen – „Panzerung“- werden detailliert erläutert. Appleton betont, dass die Craniosakraltherapie durch Förderung des Protoplasmatischen Flusses, wie auch die Körperpsychotherapie durch die Begleitung der eigenen Körper-Erkundung als auch mithilfe spezifischer Übungen, diese Panzerungen bei Klienten zu lockern oder zu lösen vermag. Anders als Wilhelm Reich präferiert Appleton in der Therapie nicht ein „Aufbrechen“ der „Panzerung“ durch großen Druck sondern die Lösung der Panzerung durch sanftere verkörperte und begleitete Erkundung, die er als kraftvoll und effektiver als andere Herangehensweisen bezeichnet.
- Kapitel 9: Der Kern der gelebten Erfahrung und ihre kulturellen Anpassungen (Blatt289ff)
Hier betont Appleton, dass das Ziel einer Therapie nicht die Katharsis selbst sei, sondern das, was blockiert ist, wieder zum Fließen zu bringen, bzw. wie der Autor es nennt „…die Verbindung zwischen Kern und Peripherie wiederherzustellen um einen freien Fluss des Protoplasmas zu ermöglichen…“ Er beschreibt, wie Panzerungen immer Spiegelungen darstellen von Erfahrungen mit der aktuellen Gesellschaft, deren kulturellen Normen und der historischen Epoche, in die wir hineingeboren werden, von geschlechts- klassenspezifischen Erfahrungen und von familiären Geschichten. Appleton stellt die verschiedenen Panzerungsformen anhand von selbst skizzierten Abbildungen dar. Ausführlicher und tiefer beschäftigt er sich mit verschiedenen Kulturen und deren Einfluss auf starre Panzerungen aber auch mit der aktuellen elterlichen Kultur und der Kultur der Kindheit, die aus Appletons Sicht den Kindern und somit auch den Eltern selber zu wenig zutraue oder Freiheit gewähre bzw. zu sehr Leistungs- wie Anpassungsdruck-Druck erzeuge. Der Autor betont, je mehr uns eine Kultur nötigt, uns gegen erotische und kreative Energien von Seele zu wehren, indem sie uns zwingt, zu panzern um uns an Werte und Institutionen anzupassen desto destruktiver und disruptiver persönlich wie gesellschaftlich vollziehen sich Übergänge.
- Kapitel 10: Entelechie und der Impuls zur Ganzheit (Blatt315)
in diesem letzten Kapitel resümiert der Autor viele der von ihm getroffenen Hauptaussagen, skizziert sein Bild von der menschlichen Persönlichkeit und Psyche und beschreibt deren Entwicklungsphasen aus seiner Sicht, die spirituell, psychologisch, naturwissenschaftlich und neurophysiologisch aber auch philosophisch geprägt ist. Er geht erneut auf den Impuls zur Ganzheit mit seinen phylogenetischen wie ontologischen Aspekten ein, den er als inneren Antrieb von Individuen und Systemen (Kulturen, Familien) beschreibt. Die letzten Seiten sind seinen ganz persönlichen Erfahrungen durch seine eigene Biografie wie auch seinen Erlebnissen als Therapeut und seiner Auffassung von therapeutischen Zielen, Methoden und Voraussetzungen aber auch der selbstkritischen Auseinandersetzung mit eigenen Sichtweisen gewidmet. Er erörtert die aktuellen Herausforderungen unserer Welt, die er vor allem in einer tiefen ökologischen Krise sieht. Für ihn besteht die dringende Notwendigkeit der Einbeziehung anderer Denk- und Lebensweisen als es die aktuelle „westliche“ Denkweise bietet, um Wege mit bzw. aus dieser Krise zu finden
Diskussion
Zugegeben, die Rezensentin brauchte mehrere Anläufe und viel Druck durch ihr eigenes Pflichtbewusstsein -hatte sie die Rezension doch zugesagt- um diese dann zu beginnen und zu erstellen. Zu gewaltig schien die Herausforderung durch ein Buch von deutlich über 400 Seiten, aus dem Englischen übersetzt, gespickt mit fremden, schwierigen und in der hiesigen psychologischen Fachwelt eher unüblichen Begrifflichkeiten, die ein mehrfaches Lesen und auch ein ständiges Nachschlagen in Lexika erforderten oder auch die Entschlüsselung von langen Wurmsätzen abverlangte, deren Aussagen sich nicht so ohne weiteres erschlossen. Auch erschienen die dort geäußerten Annahmen mir als Medizinerin doch zunächst eher etwas zu fremd -ja zu spirituell – verglichen mit meinen primär naturwissenschaftlich geprägten und eher etwas rigiden Sichtweise über pränatale Entwicklung und weitere Entwicklungsfaktoren von Babys usw. Als ich schließlich entschied, mich dem Buch und seinen Aussagen wirklich zu öffnen, kam die Veränderung, Ich lernte interessante Annahmen von indigenen Völkern über die pränatale Zeit eines Menschen kennen und erfuhr wie diese Zeit und Erlebnisse die spätere Entwicklung prägen können, was mittlerweile auch teilweise neurophysiologisch belegbar ist… ich lernte viel über die integrative Babytherapie, die produktiv mit den Körperaussagen eines Babys arbeitet. Ich erfuhr, welche anderen Kommunikationssysteme (z.B. Faszien-Netzwerke) außer dem Nervensystem eine bisher unbeachtete aber deutlich relevante Rolle spielen, usw. So hat der Autor eines seiner Hauptziele bei der Rezensentin erreicht: Die Integration der therapeutischen Ansätze der pränatalen Psychologie, der somatischen Psychologie (Körpertherapie) und der transpersonalen Ansätze bzw. der Respekt vor diesen Ansätzen hat sich bei der Rezensentin eingestellt. Dem Autor gelingt es, eine breitere Sichtweise auf Zeugung und die Entwicklungsphasen von Babys zu etablieren und aufgrund seiner anschaulichen Beispiele aus der Praxis der integrativen Babytherapie aber auch durch seine Vergleiche mit aktuellen neurophysiologischen Erkenntnissen, Aussagen von anderen Psychoanalytikern oder auch Physikern seine Leserschaft zu inspirieren. Da Appleton äußerst belesen ist und immer wieder Vergleiche zieht mit Theorien oder Entdeckungen von anderen Wissenschaftlern oder auch andere Quellen zitiert, ist dies zwar auf der einen Seite sehr interessant, aber gleichzeitig auch manchmal etwas weitschweifig und schwächt die Prägnanz von einigen seiner Aussagen bzw. überfordert häufig die Leserschaft. Das 6-seitige Glossar am Ende des Buches ist hier eine große Hilfe, erklärt es doch die Bedeutung von häufig benutzten, den meisten LeserInnen aber sicher eher unbekannten Begriffen wie „Bionuminale Energie“, „Entelechialer Impuls“, „Liminal“ oder auch „Panzerung“. Appletons Buch mit gut 400 Seiten bietet einen breiten Überblick über die pränatale Entwicklung von Babys und deren Einfluss auf die spätere psychische Entwicklung. Neben dem aktuellen wissenschaftlichen Stand der pränatalen Psychologie, betont der Autor die Relevanz einer stärkeren Einbeziehung von impliziten Körpererinnerungen (embodiment) wie auch von Annahmen und Wissen indigener Völker. Einen weiteren Themenschwerpunkt bildet sein anschaulicher Überblick über die integrative Babytherapie mit vielen interessanten Praxisbeispielen.
Fazit
Aufgrund der fundierten, weitreichenden Fachkenntnisse des Autors ist das Buch mit 400 Seiten sehr umfangreich und auch detailliert, manchmal aber auch weitschweifig und verlangt eine hohe Fachkenntnis von seinen Lesern und Leserinnen. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, wird belohnt mit einer deutlichen Erweiterung seiner bisherigen Sichtweisen über die pränatale Entwicklung, mit interessanten Annahmen über positive wie negative Prägungen von Babys, sowie einer Fülle von Inspirationen für den therapeutischen Umgang mit Babys oder auch für die Bereitschaft, ausgetretene Wege der Naturwissenschaft zu überdenken und neue, auch zunächst fremd anmutende Denkweisen zuzulassen und diese in seine eigenen Sichtweisen zu integrieren bzw. einzubeziehen.
[1] Die Traumzeit der australischen Ureinwohner, der Aborigines ist wie ein Paralleluniversum, das die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verbindet. Die Traumzeit erklärt die Entstehung der Landschaft, der Tiere, Pflanzen und auch der Menschen. Sie zeigt die enge Verbindung zwischen allen Lebewesen und der Umwelt.
Rezension von
Prof. Dr.med. Dipl.Psychol. Karla Misek-Schneider
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