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Marian Kratz, Urte Finger-Trescher (Hrsg.): Szenisches Verstehen in der Pädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 12.08.2024

Cover Marian Kratz, Urte Finger-Trescher (Hrsg.): Szenisches Verstehen in der Pädagogik ISBN 978-3-8379-3272-0

Marian Kratz, Urte Finger-Trescher (Hrsg.): Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Grundlagen, Potenziale, Reflexionen. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 30. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 300 Seiten. ISBN 978-3-8379-3272-0. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Jahrbuch für psychoanalytische Pädagogik.

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Thema

Aktueller Dialog über das Konzept des szenischen Verstehens von Alfred Lorenzer.

Herausgeberinnen

Marian Kratz, Dr. phil. und Dipl.-Sozialarbeiterin lehrt und forscht am Institut für Sonderpädagogik an der Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Urte Finger-Trescher ist Professorin für Psychoanalytische Pädagogik an der Universität Wien.

Entstehungshintergrund

Als Grundlagenkonzept der Psychoanalytischen Pädagogik wird das szenische Verstehen weiterentwickelt und von den insgesamt 19 Autoren sowohl die historischen Wurzeln als auch die Weiterentwicklung und Anwendung in der Pädagogik, Sonderpädagogik, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vorgestellt.

Aufbau

Nach einem Editorial insgesamt vier große Kapitel über Grundlagen, Praxis, Professionalisierung und Forschung, und am Ende ein freier Beitrag und eine Literaturumschau.

Inhalt

Marian Kratz, Urte Finger-Trescher: Editorial

Kurze Zusammenfassung der Geschichte der Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik mit Fokus auf den Schwerpunkt dieses Bandes, das Szenische Verstehen.

Grundlagen

Frank Dammasch: Interaktionsformen und Szenisches Verstehen. Theoretische Grundlagen und klinische Anwendung.

Nach einer Einleitung legt Dammasch den Fokus auf die einzigartige Erlebniswelt des individuellen Subjekts, die sich Standardisierungen entzieht, und beschreibt mit Beispielen sozialisationstheoretisch die sinnlichen, sprachlich-symbolischen und symbolischen und sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. Es folgen Überlegungen zum psychischen Konflikt und das dynamisch Unbewusste anhand eines Falls. Neben dem logischen Verstehen, gibt es ein psychologisches und ein szenisches, das den Handlungsprozess im Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung aufzeigt. Beispielhaft wird das Verstehen der Beziehungsszenen anhand der konkreten Handlungen beschrieben.

Simon Heyny: Anmerkungen zur Aktualität und Grenzen der Theorie Alfred Lorenzers.

Lorenzers Ansatz zeigt die Pluralität psychoanalytischer Konzepte. Er analysiert das Verhältnis von Psychischem und Sozialem, aber auch dessen Grenzen, Ergänzungen und Anwendungen in der Pädagogik.

Praxis

Manfred Gerspach: Der »Brillenglotzer« und die Angst. Alfred Lorenzer und das Szenische Verstehen in der Pädagogik.

Lorenzers Beitrag zur Psychoanalytischen Pädagogik wird beschrieben und nach seiner Aktualität gefragt: Durch die szenische Darstellung werde die historische Situation bewusst. Becker differenziert zwischen natio-ethno-kulturellem und/oder rassifiziertem und zwischen individuellem und strukturellem und institutionellem Rassismus (Beispiele aus dem Schulalltag). Rassismus strukturiert nicht nur soziale Zusammenhänge, sondern wird auch verinnerlicht in Interaktionspraxen deutlich. Rassifizierende Deutungen werden aktiviert in bedrohlich erlebten Situationen, die eine Abwehr hervorrufen, um die innere Stabilität aufrechtzuerhalten. Der Wahn der Fremdenfeindlichkeit hat insofern einen unbewussten Sinn, als er frühe Spaltungsmechanismen wieder belebt, die das Fremde zum Sündenbock machen. Rassismus ist aber nicht nur eine individuelle Pathologie.

Das szenische Verstehen (Lorenzer) ist klinisch in der Übertragung und Gegenübertragung auf ein konkretes Gegenüber zentriert. Unbewusste Interaktionsformen lassen sich jedoch in der Gruppe nicht leicht erkennen, wenn die Teilnehmer keine Erfahrung mit dem Unbewussten haben. Dennoch werden beim szenischen Verstehen von Rassismus relevantem Material verinnerlichte Rassismen bei den Interpretierenden aktiviert. Lassen sich diese in der Gruppe bewusst machen und thematisieren? Oder können sie auch eine Abwehr produzieren?

Lara Spiegler, Margret Dörr &Felicitas Beeck: Scham als Hüterin sozialer Meinungsangebote?

Ausgehend von psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen Überlegungen zum Tabubegriff werden Tabuisierungspraktiken in sozialpsychiatrischen Einrichtungen anhand von Praxisbeispielen untersucht. Diese zeigen sich auch in Interaktionen zwischen Fachkräften und Betreuten in gemeinpsychiatrischen Einrichtungen. Das Verhältnis zwischen Tabuisierung und Schamaffekt als zwei Seiten einer Medaille wird diskutiert.

Freier Beitrag

Reinhard Fatke: Das Studium der Psychoanalytischen Pädagogen an der Universität Wien. Eine Auswertung ausgewählter Studienbücher.

In diesem historisch interessanten Beitrag werden die Studienverläufe von Siegfried Bernfeld (1892-1953), Willi Hoffer (1897-1967), Bruno Bettelheim (1903-1990) und Fritz Redl (1902-1988) anhand ihrer Studienbücher und gleichzeitig die Studienangebote der Universität Wien vorgestellt.

Diskussion

Es handelt sich um Band 30 des Jahrbuchs für psychoanalytische Pädagogik, das sowohl für Theoretiker und Praktiker lesenswert ist. Für Wissenschaftler enthält es interessante Überlegungen, z.B. zur Übertragung von psychoanalytischen Konzepten ( Lorenzer, Winnicott) in die pädagogische Praxis und zahlreiche weiter führende Literaturhinweise, für Praktiker hingegen nachvollziehbare und diskurtierbare Beispiele aus der pädagogischen Praxis. Methodisch leitend ist das Szenische Verstehen nach Lorenzer, das auch im Gruppenprozess – und das ist der pädagogische Alltag – mit Übertragungs- und Gegenübertragung arbeitet, ein Handlungs- und Forschungsfeld in einer sich nicht nur sozial, sondern auch durch die Netzwerke ständig kommunikativ verändernden Welt.

Das Konzept von Lorenzer wirft Fragen auf und regt zu neuen Perspektiven und Erkenntnissen insbesondere in der Pädagogik und Sonderpädagogik an, was Kritik und Zweifel nicht ausschließt. Wer an diesem innerpädagogischen Diskussionsprozess teilnehmen möchte, ist mit diesem Buch gut beraten, das durch die Vielzahl der Autoren besonders geeignet ist, zu zeigen, dass Wissenschaft neben einem Bestand an Wissen immer auch neue Fragen stellt. Bei einer gesunden Verbindung von Theorie und Praxis sind diese geeignet, sich den veränderten pädagogischen Anforderungen in der Praxis zu stellen.

Als Band 30 des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik sind im Anhang auch Schwerpunkte von früheren Jahrbüchern erwähnt, die einen Überblick geben, der von der Heilpädagogik, Jugendhilfe, frühen Kindheit, Familie und den Reifungsprozessen, Traumatisierungen, Migrationserfahrungen bis zum Genderdiskurs reicht, u.a. auch die inzwischen breit gefächerte Entwicklung der Pädagogik. Diese tat sich laut den Berichten über die Wiener Universität zu Zeiten der Väter einer Psychoanalytischen Pädagogik (Siegfried Bernfeld, Willi Hoffer, Bruno Bettelheim Fritz Redl) noch lange Zeit schwer, Anerkennung zu finden. Frühe Verbindung mit Nachbardisziplinen (Philosophie, Psychologie, Soziologie) haben sich aber bereits damals als bereichernd erwiesen, und dazu gehört inzwischen – last not least – auch die Psychoanalyse, selbst wenn in der pädagogischen Praxis die Erfahrung einer Einzelanalyse nicht zu ersetzen ist. Sie hat zum Verständnis von Reifungs- und Entwicklungsbedingungen bei Kindern, Jugendlichen, Behinderten und Straffälligen individuell und sozial inzwischen viel beigetragen. Das zu vermitteln, ist auch ein Anliegen dieser Veröffentlichung.

Fazit

Ein sehr lesenswertes und anregendes Buch, dessen Beiträge zum Nachdenken und zur Diskussion anregen und Möglichkeiten, aber auch Grenzen, einer psychoanalytischen Pädagogik aufzeigen.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 120 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 12.08.2024 zu: Marian Kratz, Urte Finger-Trescher (Hrsg.): Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Grundlagen, Potenziale, Reflexionen. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 30. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. ISBN 978-3-8379-3272-0. Reihe: Jahrbuch für psychoanalytische Pädagogik. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31885.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


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