Heike Liebsch, Eva Flemming et al. (Hrsg.): Wochenkrippen und Säuglingsheime
Rezensiert von Prof. Dr. Alexander Parchow, 29.11.2024
Heike Liebsch, Eva Flemming, Carsten Spitzer (Hrsg.): Wochenkrippen und Säuglingsheime. Institutionalisierte Fremdbetreuung im frühen Kindesalter.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
200 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3333-8.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Forum Psychosozial.
Thema
Der hier rezensierte Sammelband aus dem Jahr 2024 hat die historische Auseinandersetzung und Aufarbeitung von Wochenkrippen und Säuglingsheimen in der DDR – aber auch in anderen Ländern – in den 1950er- und 60er-Jahren zum Gegenstand. Diese stationäre Betreuungsform war in der DDR durchaus üblich, da sie der sozialistischen Vorstellung von einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen am Arbeitsmarkt entsprach. Gleichzeitig war sie Ausdruck der ideologischen Ausrichtung auf eine kollektive Kindererziehung, die als integraler Bestandteil des sozialistischen Systems galt. Allein vor dem Hintergrund einer kollektivistischen Gesellschaftsordnung wie der DDR erscheint eine kritische Reflexion dieser in der Vergangenheit liegenden institutionellen Betreuungssettings angemessen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang gleichermaßen die Aufarbeitung der individuellen Erfahrungen der betroffenen Menschen, da sie wichtige Einblicke in die potenziellen psychosozialen Folgen ermöglichen. All dies findet sich in einzelnen Beiträgen im vorliegenden Sammelwerk, wodurch ein wesentlicher Beitrag für den Fachdiskurs geleistet wird.
Herausgeber:innen und Entstehungshintergrund
Dr. phil. Heike Liebsch forscht vorrangig zu Jüdischer Geschichte und Biografien. Seit 2016 beschäftigt sie sich zusätzlich mit der Thematik Wochenkinder in der DDR. In diesem Zusammenhang sei vom Rezensenten auch ihre äußerst spannende Dissertation empfohlen, die den Titel trägt: Wochenkinder in der DDR: Gesellschaftliche Hintergründe und individuelle Lebensverläufe.
Dr. rer. hum. Eva Flemming ist an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität Rostock tätig. Sie hat zum Thema Desorganisierte Bindung im Erwachsenenalter promoviert.
Prof. Dr. med. Carsten Spitzer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Universität Rostock.
Der Sammelband schließt laut der Herausgeber:innen an die unterschiedlichen und kontroversen Reaktionen an, die die Ausstellung „Abgegeben. Wochenkrippen in der DDR“ und das Rahmenprogramm bei der Eröffnung im Frühjahr 2023 in der Kunsthalle Rostock bei Besucher:innen hervorrief. Ausgehend von diesen Reaktionen und der hohen Resonanz der Ausstellung ist der Sammelband als Beitrag zu diesem Diskurs zu verstehen.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband umfasst 13 Einzelbeiträge sowie ein Vorwort auf insgesamt 184 Textseiten.
Zu Beginn des Sammelwerks nehmen die ersten beiden Beiträge Bezug auf die bereits angesprochene Ausstellung „Abgegeben. Wochenkrippen in der DDR“ – sowohl aus einer Erfahrungs- als auch einer künstlerischen Perspektive.
Es folgen vier Beiträge, die die Bedingungen der Unterbringung in diesen Kleinkindeinrichtungen zur damaligen Zeit analytisch erörtern. Dabei werden in den Beiträgen verschiedene Länder thematisiert (ehemalige Tschechoslowakei, Westdeutschland sowie schwerpunktmäßig die DDR) und Auszüge aus Forschungsarbeiten präsentiert.
Nach dieser Betrachtung der Rahmenbedingungen, geht es in zwei weiteren Beiträgen um die Auswirkungen stationärer Unterbringung in der DDR. Zum einen erweitert einer der beiden Beiträge die Perspektive auf die Altersphase Kindheit und Jugend, und dementsprechend auf „Kinderheime“, indem die Folgen der Unterbringung für das (weitere) Leben betroffener Menschen thematisiert werden. Zum anderen fokussiert der sich anschließende Beitrag die Folgen für Kinder bei einer frühen Trennung von den elterlichen Bezugspersonen und gibt Einblick in eine psychotherapeutische Aufarbeitung einer Person, die in einer Wochenkrippe untergebracht war.
Im Anschluss folgen zwei Beiträge, die sich jeweils auf ein spezifisches Forschungsprojekt beziehen: Als Erstes wird Einblick in eine noch laufende Studie in der Schweiz gegeben, in der Menschen zu ihrem Lebensweg befragt wurden, die 1958 in Säuglingsheimen in Zürich untergebracht waren. Als Zweites werden eine Untersuchung und die dazugehörigen vorläufigen Ergebnisse vorgestellt. Diese befassen sich mit dem Bindungsverhalten und dem psychischen Gesundheitszustand von Menschen, die in der DDR in Wochenkrippen untergebracht waren.
Die letzten drei Beiträge in diesem Sammelband thematisieren zunächst ein Online-Schreibprojekt zur Aufarbeitung und Auseinandersetzung der Erlebnisse für Menschen mit „DDR-Heimerfahrung“, dann Erfahrungen mit psychosozialen Hilfsangeboten für ehemalige Wochenkinder im Rahmen eines Gesprächskreises während des Rostocker Symposiums und abschließend Erfahrungen und Entwicklungen von bundesweit agierenden Selbsthilfegruppen von „Wochenkindern“.
Diskussion
Der Sammelband eint eine facettenreiche Zusammenstellung von Beiträgen und Beitragsarten unterschiedlicher Autor:innen, die ganz unterschiedliche Zugänge zum Thema aufweisen. Durch die Beiträge erhalten Lesende einen guten historischen Einblick und Analysen zu psychosozialen und gesellschaftlichen Folgen der institutionellen Fremdunterbringung und -betreuung.
Mit einem Umfang von rund 180 Seiten und 13 Einzelbeiträgen liegt ein kompaktes und lesefreundliches Sammelwerk vor, durch das auch fachfremde Personen sehr gut in die Thematik einsteigen können. Dazu trägt auch der gut verständliche bzw. leserliche Schreibstil der unterschiedlichen Autor:innen bei, der sich durch den ganzen Sammelband zieht. Insofern kann das Buch insgesamt auch als Grundlage, etwa für Studierende, genutzt werden, um einerseits in das Thema einzusteigen sowie andererseits einen guten Überblick über aktuelle Forschungsarbeiten und Aufarbeitungsbemühungen zu erhalten. Aufgrund dessen ist der Sammelband insgesamt empfehlenswert, zumal es nur wenige Werke gibt, die Beiträge verschiedener Autor:innen zur Thematik der Wochenkrippen und Säuglingsheime in der DDR bündeln.
Fazit
Der Sammelband leistet einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung institutioneller Betreuungsformen und ihrer Folgen in den 1950er und 60er Jahren, mit einem Schwerpunkt auf der DDR. Durch seine interdisziplinären Zugänge leistet das Buch einen wichtigen Impuls für den Fachdiskurs.
Rezension von
Prof. Dr. Alexander Parchow
Jade Hochschule Wilhelmshaven
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Es gibt 6 Rezensionen von Alexander Parchow.
Zitiervorschlag
Alexander Parchow. Rezension vom 29.11.2024 zu:
Heike Liebsch, Eva Flemming, Carsten Spitzer (Hrsg.): Wochenkrippen und Säuglingsheime. Institutionalisierte Fremdbetreuung im frühen Kindesalter. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
ISBN 978-3-8379-3333-8.
Reihe: Forum Psychosozial.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31887.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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