Donald W. Winnicott, Ulrike Stopfel (Übersetzer): Kinder
Rezensiert von Dr. Erika Butzmann, 30.10.2024

Donald W. Winnicott, Ulrike Stopfel (Übersetzer): Kinder. Gespräche mit Eltern.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2024.
150 Seiten.
ISBN 978-3-8379-3336-9.
D: 22,90 EUR,
A: 23,60 EUR.
Reihe: Bibliothek der Psychoanalyse.
Thema
Die in diesem Buch zusammengetragenen Texte befassen sich mit nervenden Verhaltensweisen kleiner Kinder, die die Erziehung für Eltern anstrengend machen. Winnicott wandte sich dafür über die Medien direkt an die Eltern, wobei er immer davon ausging und dies den Eltern auch vermittelte, dass sie ihre Sache als Eltern gut machen. Mit seinen Rundfunkansprachen wollte er die Eltern dabei unterstützen.
Autor
Donald Woods Winnicott (1896-1971) war Kinderarzt und Psychoanalytiker. Er konzentrierte sich als einer der ersten auf die frühe Mutter-Kind-Beziehung und erweiterte mit seinen Forschungen die psychoanalytische Theorieentwicklung. Er gab mit seinen vielen Büchern Eltern immer wieder wertvolle Impulse für die Praxis.
Entstehungshintergrund
Das vorliegende Bändchen versammelt alle Rundfunkansprachen in der BBC, die Winnicott nach 1955 für Eltern gehalten hat. Zuerst erschien die von Ulrike Stopfel und Irmela Köstlin übersetzte deutsche Fassung der Rundfunkansprachen im Klett-Cotta-Verlag 1994. Die vorliegende unveränderte Neuauflage wurde aktuell vom Psychosozial-Verlag Gießen herausgegeben
Aufbau und Inhalt
Mit dem ersten einführenden Kapitel „Gesundheitserziehung über den Rundfunk“ stellt Winnicott die Probleme dar, die mit einer solchen Form der Elternberatung auftreten können. Da es dabei um die seelische Gesundheit der Kinder geht, die im Mittelpunkt seines Denkens stand, nahm er das Angebot des BBC ab 1955 an, Sendungen für Eltern zu machen. Mit einem eingeschränkten Themenkatalog konzentrierte sich Winnicott auf das, was ‚normalen Leuten‘ passiert und er war überzeugt, damit sehr viel tun zu können.
Die folgenden 9 Kapitel umfassen dementsprechend alle die Bereiche, die das Leben mit Kindern für die Eltern anstrengend machen: Das Dasein als Stiefeltern, das Daumenlutschen und Kissensaugen, das Nein-Sagen, die Eifersucht, das Nerven der Mütter durch die kleinen Kinder, Sicherheit und Schuldgefühle, die Entwicklung des moralischen Empfindens, die Besonderheiten des Kindes von fünf Jahren und Stress im Vorschulalter.
Stiefeltern haben eine sehr schwierige, undankbare Aufgabe, die durch das Märchen der bösen Stiefmutter nicht leichter wird. Winnicott gelingt eine aufmunternde Sicht auf die Probleme, die sowohl Stiefeltern als auch Stiefkinder belasten.
Beim Daumenlutschen und Kissensaugen weist Winnicott eindringlich darauf hin, dass es das Kind eine gewaltige Anstrengung kostet, zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich zu unterscheiden und wie notwendig das Saugen an Daumen und Kissen für diese Kinder ist.
Zum Nein-Sagen der Kinder beschreibt Winnicott eine Diskussion unter Müttern während einer Rundfunksendung, die anschaulich wiedergibt, welche gewaltigen Veränderungen sich von einem Lebensmonat zum anderen vollziehen, wenn Kinder nach und nach verstehen, was das Nein der Eltern bedeutet. Die anschließend vorgenommenen einfühlsamen Kommentare führten zu neuen Erkenntnissen für die Zuhörerinnen, was in der dann folgenden Diskussion zum Ausdruck kam.
In gleicher Weise wird Eifersucht und das, was Müttern kleiner Kinder auf die Nerven geht, diskutiert. Gerade hierzu zeigt Winnicott sein tiefes Verständnis für die so widersprüchlichen Gefühle der genervten Mütter.
Die von Winnicott immer wieder thematisierte Sicherheit der frühen Jahre, die besonders Mütter ihren Kindern geben, ist unverzichtbar für eine gesunde seelische Entwicklung. Sie verträgt keine unerwarteten Ereignisse, keine unwillkommene Einmischung, denn das kleine Kind kann ohne den vollkommenen Schutz nicht existieren.
Im Kapitel über die Schuldgefühle bei Müttern diskutiert Winnicott mit einer Mutter die vielfältigen Ursachen dafür und den Sinn von Schuldgefühlen im Hinblick auf die Erziehung der Kinder.
Die Entwicklung des moralischen Empfindens entstehe aus Schuldgefühlen des Kindes im Zusammenhang mit seinen aggressiven und destruktiven Impulsen der Mutter gegenüber. So entwickle sich das Empfinden für Gut und Böse beim Kind, wie sich so vieles andere auf natürliche Weise einstellt, wenn bestimmte Voraussetzungen in der Umgebung gegeben sind.
Mit den Besonderheiten in der Entwicklung des Kindes von fünf Jahren beschreibt Winnicott, wie der Übergang aus der subjektiven Welt des kleinen Kindes in eine Welt der gemeinsamen Realitäten dem Kind zu schaffen macht.
Das letzte Kapitel befasst sich mit Stress im Vorschulalter, der immer dann auftritt, wenn die Umwelt versagt und das Kind seiner Umgebung hilflos ausgeliefert ist. Winnicott verweist dabei auf den besonderen Stress des kleinen Kindes, den es empfindet aus dem Umstand, dass die Mutter länger abwesend ist, als das Kind ihr Bild vor seinem geistigen Auge bewahren kann.
Diskussion
Grundlegende Gedanken über Kinder und ihre Eltern haben Winnicott sein ganzes Leben beschäftigt, was seine vielen Veröffentlichungen immer wieder beweisen. Die hier vorgestellten Rundfunkansprachen zeigen sein Engagement auf ganz besondere Art. Die Mütter waren vom Rundfunk eingeladen worden; ihre Gespräche wurden aufgezeichnet und Winnicott gab seine Kommentare dazu ab, direkt oder Tage später. Das häufige Gelächter, das die Frauen in den Gesprächsrunden zeigten, sprach für eine entspannte Atmosphäre und die Aufregung, die durch das Festellen der gleichen Erfahrungen auftrat, führte zu Stimmengewirr. Die Wiedergabe der Gespräche machte darüber hinaus deutlich, dass kein Konkurrenzverhalten unter den Müttern vorhanden war. So ergaben sich umfassende Darstellungen der Themen. Besonders die Behandlung der Eifersucht unter den Kindern brachte alle Aspekte der Problematik zutage, wie sie eine wissenschaftliche Abhandlung kaum umfassen kann. Ein weiterer Grund für die entspannte Atmosphäre in den Gesprächsrunden war die Tatsache, dass die Frauen in den 1950-er und 1960-er Jahren nicht zerrissen waren zwischen den Ansprüchen von Beruf und Familie. Sie beklagte zwar auch, wenig Zeit für die eigenen Dinge zu haben, ließen sich aber vollkommen auf die Bedürfnisse der oft zahlreichen Kinder ein. Das berichtete Verhalten unterscheidet sich in keiner Weise von dem der heutigen Kinder, die jedoch zusätzliches nervendes Verhalten wie ständige Verweigerungen, übermäßiges Trödeln und Dichtmachen (Butzmann 2020, S. 106) zeigen. Auch dies hat heute seine Ursachen im Stresserleben, wenn die Umwelt versagt oder die Kinder durch zu viele Reize überfordert sind.
Fazit
Die Themen des Buches waren nicht nur vor 60 Jahren für Eltern relevant, sondern sind es heute in gleichem Maße, denn es sind die entwicklungsbedingten Verhaltensweisen, die die Erziehung kleiner Kinder anstrengend machen. Insofern kann das Buch Eltern weiterhin helfen, ihre Kinder besser zu verstehen. Winnicott zeigt darüber hinaus mit dem vorliegenden Buch sein Verständnis für die Herausforderungen, denen Eltern grundsätzlich ausgesetzt sind und macht deutlich, dass die Elternrolle zu den dankbarsten gehört, die man sich vorstellen kann.
Literatur
Butzmann, E. (2020). Sozial-kognitive Entwicklung und Erziehung. Impulse für Psychologie, Erziehungswissenschaft und Sozialpädagogik. Psychosozial-Verlag Gießen.
Rezension von
Dr. Erika Butzmann
Entwicklungspsychologin
Erziehungswissenschaftlerin
Elternbildung und -beratung
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Erika Butzmann.