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Johanna L. Degen: Swipe, like, love

Rezensiert von Prof. Dr. Uwe Sielert, 02.10.2024

Cover Johanna L. Degen: Swipe, like, love ISBN 978-3-8379-3287-4

Johanna L. Degen: Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 150 Seiten. ISBN 978-3-8379-3287-4. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Reihe: Gegenwartsfragen.

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Thema

Der Titel bringt es schon auf den Punkt, worum es geht. Wie verändert die Nutzung digitaler Medien, insbesondere das Online-Dating und die Kommunikation mit Hilfe der sozialen Medien unsere Sexualkultur? Während in den alltäglichen Informations- und Unterhaltungsmedien ein kulturkritisches Bild gezeichnet wird, bei dem langfristige Enttäuschung, Vereinzelung, Selbstentfremdung und Müdigkeit der Nutzer*innen dominieren, ist die Fachwelt gespalten. Die einen stützen diese skeptische Haltung und sehen Zusammenhänge zwischen dem leichten Zugang von Erwachsenen und Jugendlichen zu Dating-Apps und Sozial-Media-Plattformen und der Zunahme von Angststörungen, Depressionen und Suiziden (Haidt 2024). Die anderen sehen solche Zusammenhänge als nicht erwiesen an und heben stattdessen den Nutzen der digitalen Kommunikationsmedien hervor (Vuorre/​Przybylski 2023). Die Sozialpsychologin Johanna L. Degen gehört tendenziell zu dem kritischen Lager der Wissenschaftler*innen.

Autor*in

Frau Degen arbeitet an der Universität Flensburg zu Beziehungen und Liebe im Kontext digitaler Entwicklung. Sie bezieht ihre Informationen sowohl aus internationalen Forschungsprojekten zu digitalen Annäherungspraxen und parasozialen Beziehungen als auch aus der eigenen Praxis als Paartherapeutin.

Aufbau

Das Buch verspricht Antworten auf die Frage „Was bleibt von Begegnung und Liebe zwischen Online-Dating als Ort parasozialer Annäherung und Social Media als Ort parasozialer Beziehung?“ (S. 9) Zu diesem Zweck betrachtet die Autorin zuerst die Psychologie des mobilen Online-Datings und im zweiten Schritt, wie sich die Social-Media-Praktiken auf Beziehungen zwischen den Nutzer*innen auswirken und möglicherweise die Sexualkultur insgesamt beeinflussen. „Statt in Dystopie zu verharren oder zu pathologisieren“ – schreibt Frau Degen – „werden abschließend aus kritisch-theoretisierender Perspektive ein angeeigneter Modus und Handlungsspielräume für therapeutische und beratende Kontexte sowie Bildung diskutiert“ (S. 9).

Inhalt

Beide großen Themenbereiche, die Kontaktanbahnung durch Dating-Plattformen und die parasozialen Beziehungen auf Social Media-Kanälen werden im Buch jeweils mit kleinen historischen Abrissen und statistischen Angaben über Nutzungshäufigkeiten und -gewohnheiten eingeleitet. Es folgen in vielen Einzelkapiteln wissenswerte Informationen über die charakteristischen Besonderheiten der fragilen Kontaktaufnahme, genderspezifischer Nutzung, gelingender oder enttäuschender Erfahrungen sowie offensichtlicher und subtiler Veränderungen der Intimitäts- und Beziehungsmuster, die weit in die allgemeine Sexualkultur hineinwirken. Die Autorin legt viel Wert darauf, ihre medien- und kulturkritischen Befunde über den Kreis der Nutzer*innen hinaus zu verallgemeinern. Damit animiert sie auch jene zunächst ethnologisch motivierte Interessent*innen zum Weiterlesen, die sich gelegentlich fragen: ‚Was habe ich damit zu tun? Ich bewege mich weder auf Tinder noch auf Instagram oder anderen artverwandten Plattformen‘. Viel Aufmerksamkeit wird den Gefahren für das Selbst, die Beziehungsgewohnheiten und kulturellen Muster geschenkt, die von den Onlinemedien bzw. durch ihre selbstverständliche, gelegentlich süchtig machende, Nutzung ausgehen. Weniger Raum bekommen die Chancen eines selbstbestimmten und horizonterweiternden Umgangs mit ihnen, die zudem nur gewissen bevorteilten Bildungsbürgern und Minderheiten zugesprochen werden.

Degen ist dabei von einem grundlegenden humanistischen Menschenbild überzeugt, wenn sie allen Nutzer*innen zuspricht, sich resonanzfähige Beziehungen und erfüllende Intimität zu wünschen. „Fest steht: Wirklich niemand datet online, um sich austauschbar, ausgenutzt oder abgewertet zu fühlen“ (S. 17) Im Hintergrund schwinge immer die Hoffnung auf berührende Begegnungen. Auch die Bedürfnisse der Follower*innen und Influencer*innen auf diversen Plattformen gingen in die Richtung parasozialer Intimität und Gegenseitigkeit, die auf der Plattform OnlyFans als Verlängerung von Social Media sogar Intimität, Erotik und Sex gegen Bezahlung einschließt. Das ernüchternde Ergebnis sei jedoch immer ein anderes: „So scheint genau das, was gesucht und gebraucht wird – Annäherung, bedeutsame Begegnung und Fülle (…) – auf die Art und Weise, wie sie hergestellt werden soll, unerreichbar“ (S. 129). Es entstünden in der Regel asynchrone parasoziale Beziehungen, die überwiegend ein enttäuschtes und erschöpftes Publikum zurückließen. Die Wirkungen gingen zudem noch über deren Beziehungs- und Intimitätssektor hinaus: Social Media habe eine Schlüsselrolle in der Meinungsbildung und wirke damit weit in die umgreifende sexuelle wie politische Kultur hinein.

Zu Recht weist die Autorin an verschiedenen Stellen auf die Wirkmuster der kapitalistisch fundierten Wirtschaft und deren neoliberalen Grundlagen hin, nach deren Prinzipien die Gewinne der Nutznießenden, so etwa zugunsten vieler Influencer, verteilt werden. Gleiches gelte für die Affektökonomie als Ergebnis von „Swipe, like and love“, durch welche die ersehnten, letztlich aber unerfüllbaren Bedürfnisse strukturiert, gelenkt und vernutzt würden. Eine genuine Begegnung könne in der digital erzeugten Parasexualität kaum stattfinden, sie erschwere sogar reale Beziehungen neben ihr (vgl. S. 141).

In dem von mir hoffnungsvoll entgegengesehnten letzten Teil der Studie referiert Frau Degen zunächst die Mängel bisheriger sexueller Bildung, die vorzugsweise mit Informations-Apps das konfliktfreie Wohlbefinden anstrebe und den Genuss diktiere (S. 134). Erforderlich sei dagegen Raum für Uneindeutigkeit und Verborgenes menschlicher Innenansichten und die Konfrontation mit Visionen aus dem Kontext ‚höherer Werte‘. Die subjektive Handlung als Wirkkraft müsse angesichts der Mediatisierung gestärkt und der Körper als Beobachtungsinstrument und Werkzeug zur Herstellung sinnlicher Kontakte zur Welt wiederentdeckt werden.

Diskussion

Frau Degen versteht es, an den allgemein verbreiteten Stereotypen über Nutzung, Verbreitung und Wirkweise digitaler Medien auf Intimität und Beziehungen ebenso anzuknüpfen wie an den subjektiven Wünschen, Erfahrungen und Praktiken der Leser*innen. Das gelingt ihr vermutlich aufgrund eigener Therapiepraxis und Kenntnis des wissenschaftlichen Diskurses zur Thematik.

Für mich als nicht mit Dating-Plattformen und sozialen Medien aufgewachsenen Rezensent ist das Buch ein willkommener Einstiegstext in die angesprochene Thematik. Als Erziehungs- und Sexualwissenschaftler, der sich für die Netzwerke der Akteure und Affektökonomien sowohl der subjektiven als auch organisationalen und gesellschaftlichen Sexualkulturen interessiert, hat mich das Buch um die Dimension der Mediennutzung wesentlich bereichert. Zumindest die Wirkweise der Dating-Apps und anderer Plattformen für parasoziale Kontakte wurde mit ihren Gefahren für die Individuen und Kontaktkulturen eindringlich und plastisch beschrieben. Dass dabei die Chancen wesentlich weniger in Augenschein genommen und auf ohnehin bevorteilte Bildungsbürger und diverse Minderheiten bezogen wurden, schränkt den kreativen Nährwert der Studie für die „Gegenmittel zur parasozialen Verarmung“ (S. 129) ein wenig ein. Das Ganze wirkt wie ein analoges Gegenprogramm zur digitalen Welt und verspielt dabei einige Chancen für kreative und energetisch weiterführende Beziehungen zwischen der inneren und äußeren Natur des Menschen, seinen technischen Artefakten und der Sehnsucht nach sexueller Integrität.

Fazit

Johanna L. Degen hat mit „Swipe, like, love“ ein lesenswertes Einführungswerk in die Veränderungen von „Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter“ vorgelegt: Sie beschreibt und analysiert die mediale Erweiterung und zugleich Verengung unserer Sexualkultur durch Dating- und Social Media-Plattformen. Es geht um ein ‚riesiges gesellschaftliches Experiment‘, von dem niemand in der Fachwelt schon vorhersagen kann, wie es ausgehen wird. Die Autorin wagt immerhin eine kritische Analyse mit skizzenhaftem Ausblick für Therapie, Beratung und Bildung.

Literatur

Haidt, Jonatan (2024): Generation Angst. Wie wir unsere Kinder an die virtuelle Welt verlieren und ihre psychische Gesundheit aufs Spiel setzen, Hamburg: Rowohlt

Vuorre M, Przybylski AK. (2023): Estimating the association between Facebook adoption and well-being in 72 countries. R. Soc.Open Sci. 10: 221451. https://doi.org/10.1098/rsos.221451

Rezension von
Prof. Dr. Uwe Sielert
Uwe Sielert, arbeitete bis 2017 als Professor für Pädagogik mit den Schwerpunkten Sozial- und Sexualpädagogik an der Christian- Albrecht-Universität zu Kiel.
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Es gibt 12 Rezensionen von Uwe Sielert.

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Zitiervorschlag
Uwe Sielert. Rezension vom 02.10.2024 zu: Johanna L. Degen: Swipe, like, love. Intimität und Beziehung im digitalen Zeitalter. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. ISBN 978-3-8379-3287-4. Reihe: Gegenwartsfragen. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31898.php, Datum des Zugriffs 16.10.2024.


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