Suche nach Titel, Autor:in, Rezensent:in, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Holger Kirsch, Josef Brockmann: Mentalisieren

Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 10.09.2025

Cover Holger Kirsch, Josef Brockmann: Mentalisieren ISBN 978-3-8379-3208-9

Holger Kirsch, Josef Brockmann: Mentalisieren. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2024. 140 Seiten. ISBN 978-3-8379-3208-9. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR.
Reihe: Analyse der Psyche und Psychotherapie.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Thema

Die Autoren Holger Kirsch und Josef Brockmann vermitteln theoretische Grundlagen des Mentalisierungsansatzes, thematisieren dessen Entstehung aus den Bindungstheorien und der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie und stellen aktuelle Entwicklungen und Anwendungen vor. Mit diesem Konzept werden Vorgehensweisen vorgestellt, die dazu beitragen, eine misslingende Selbst- und Beziehungsregulation zu verstehen, im Hier und Jetzt zu erleben, Narrative dafür zu entwickeln und zu integrieren.

Autoren

Holger Kirsch, Prof. Dr. med. ist Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker und Lehranalytiker. Er lehrt als Professor an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt, zudem ist er in eigener Praxis und in der Fortbildung tätig.

Josef Brockmann, Dr. phil. ist Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in eigener Praxis. Er ist als Lehranalytiker und in der Fortbildung tätig.

Entstehungshintergrund

Der Psychosozial Verlag stellt in der Reihe »Analyse der Psyche und Psychotherapie« grundlegende Konzepte und Begrifflichkeiten der Psychoanalyse vor und thematisiert deren jeweilige Bedeutung für die Therapie.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in 2 Teile. Im ersten Teil werden das Entstehungskonzept und entwicklungspsychologische Meilensteine vorgestellt. Im zweiten Teil beschäftigen sich die Autor*innen mit klinischen Anwendungen der mentalisierungsbasierten Therapie, den Interventionen und der Mentalisierung in anderen Settings. Das Buch schließt mit einem Ausblick und dem Literaturverzeichnis.

In der Einleitung definieren die Autoren ihren Mentalisierungsbegriff und beschreiben die Grundlagen ihres Konzeptes als ein zugleich altes und neues und zudem im Kern psychoanalytisches Modell. Mentalisierung sei ein Brückenkonzept und habe einen individuumszentrierten und sozialpsychologischen Ansatzpunkt. Für Kirsch und Brockmann (S. 7) ist Mentalisieren die imaginative Fähigkeit, sich Gefühle, Gedanken, Einstellungen (mental states) als Motive für Handlungen vorstellen zu können und so dem menschlichen Verhalten eine Intention zugrunde zu legen, die das Verhalten erklären und bis zu einem gewissen Grad auch vorhersagen kann.

Im ersten Kapitel des ersten Teils mit dem Titel „Der Entstehungskontext des Mentalisierungskonzepts“ werden die psychoanalytischen Wurzeln und das Mentalisieren als ein psychoanalytisches Modell der Internalisierung von Erfahrung zusammengefasst. Mit Hilfe dieses Modells kann z.B. selbstverletzendes Verhalten als Zeichen überwältigender Impulse oder Emotionen als abwesende Mentalisierung oder fehlende Symbolisierung interpretiert werden. „Affekte, triebhafte Impulse oder traumatische Erfahrungen werden weder toleriert noch verarbeitet, stattdessen impulsiv und (vorübergehend) psychisch entlastend ausagiert“ (S. 16).

Im Weiteren erfolgen theoretische, meist psychoanalytisch geprägte Aussagen über aktuelle Modelle der Repräsentation und die Struktur des Selbst, über Zusammenhänge zwischen Mentalisierung und der Gegenwartspsychoanalyse und in diesem Kontext eine Neuformulierung zentraler Kernaussagen der Psychoanalyse. Dem schließen sich Ausführungen über das Unbewusste und das Bewusstsein an, um dann Zusammenhänge zur Theory of Mind herzustellen. Die Autoren sehen (S. 38) das Mentalisierungskonzept als ein Brückenkonzept, welches die Theory of Mind, Bindungstheorie und die psychoanalytische Vorstellung vom Symbolisieren verbindet. Die Mentalisierungstheorie sei nicht auf eine Subjekttheorie begrenzt, sondern leiste auch Beiträge zu soziologischen, anthropologischen und anderen sozialwissenschaftlichen Themenstellungen.

Im nächsten Kapitel erfolgt die Vorstellung entwicklungspsychologischer Meilensteine. Eingegangen wird auf die Bedeutung der Bindungstheorie und die Entwicklung des Selbst. Eingeführt wird die Bedeutung des sogenannten fremden Selbst und Kernaspekte des Als-ob-Modus. Betont wird die Bedeutung eines epistemischen Vertrauens als das basale Vertrauen in andere Personen als sichere Informationsquelle (S. 52). Abschließend erfolgen in diesem Kapitel Ausführungen über Mentalisieren in verschiedenen Lebensabschnitten. Deutlich wird, dass für das mittlere Lebensalter bisher kaum aussagekräftige Untersuchungen existieren. Es gebe jedoch Hinweise, dass sich mit dem Alter Voraussetzungen für die mentale Regierungsfähigkeit verschlechtern können.

Im ersten Kapitel des zweiten Teils werden klinische Anwendungen des Mentalisierungsmodells fokussiert. Einführend wird angemerkt, dass sich das Mentalisierungskonzept als Brückenkonzept und wichtiger gemeinsamer Wirkfaktor der Psychotherapie versteht. Zudem referieren die Autoren allgemeine Aussagen über die Wirkfaktoren der Psychotherapie, die Psychotherapie als dreifaches Kommunikationssystem, über effektives und ineffektives Mentalisieren und eine Beschreibung von Dimensionen des Mentalisierens. Im Weiteren wird ein Bezug zu den Stresstheorien eröffnet und ausgeführt (S. 76), dass eine gestörte Stressverarbeitung vulnerabel für die Entwicklung körperlicher und psychischer Symptome macht.

Einführend wird im Kapitel „Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT)“ darauf verwiesen, dass diese Therapieform mittlerweile als Goldstandard in der Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen gilt. Das MBT habe sich zu einem Verfahren entwickelt, das international mit einer sehr guten Evidenz etabliert ist. Typische Indikationen seien Schwierigkeiten im Bereich der Affektregulation, die mit Mentalisierungsproblemen in Verbindung gebracht werden und möglicherweise ein niedriges Funktionsniveau der Persönlichkeit. Im Weiteren informieren die Autoren über die mentalitätsfördernde Haltung, die Therapieziele und den Therapieplan.

Im Kapitel „Interventionen“ folgen Ausführungen über die Exploration in der Therapie und Interventionsvorschläge bei den unterschiedlichsten Formen einer Mentalisierungsstörung. Besonders bedeutsam sind hier meines Erachtens die Informationen über typische Merkmale dieser Störungen, Interventionen, mit denen man diesen Modus verstärkt und über Interventionen, die aus einer Sackgasse in der Behandlung führen können. Dem schließt sich eine ausführliche Falldarstellung einer Patientin an, die sich in einer psychoanalytisch orientierten Langzeittherapie in der 70. Stunde befand. Betont wird die Bedeutung der Haltung des Nicht-Wissens auf Seiten der Therapeut*innen.

Im Kapitel „Mentalisieren in anderen Settings“ beschäftigen sich die Autoren mit dem Einsatz dieser Therapieform in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, der Kindertherapie, in Gruppen und der Psychosomatik. Im Unterkapitel „Weitere Anwendungsfelder“ wird jeweils nur auf einer Seite den Einsatz der Methode in der Pädagogik, der Sozialen Arbeit und in der Supervision, bzw. in Teams und in der Fallarbeit eingegangen.

Das Buch schließt mit einem „Ausblick“ und dem vierzehnseitigen Literaturverzeichnis.

Diskussion

Einführend werden wichtige Hintergründe der Mentalisierungskonzeptes benannt, allerdings werden hier bereits grundlegende Kenntnisse bei den Leser*innen vorausgesetzt, über die nicht alle hier angesprochenen Berufsgruppen verfügen. Bei der Darstellung der Grundlagen wird auf empirische Forschungen verwiesen, bei den psychoanalytisch geprägten Ausführungen bleiben diese für mich oft spekulativ.

Im Kapitel über die klinischen Anwendungen wird auf die Psychotherapie eingegangen, jedoch nur auf einer Seite auf die Pädagogik und die Soziale Arbeit, hier insbesondere auf die vielfältige Klinische Soziale Arbeit (z.B. Sektion Klinische Sozialarbeit 2024), obwohl einer der Autoren an einer Hochschule für Soziale Arbeit lehrt. Es wird nicht auf mögliche Mentalisierungsprobleme bei dem wichtigen Indikationsbereich Traumata (siehe z.B. Diez Grieser 2022) und z.B. auf Mentalisierungsprobleme bei älteren Menschen eingegangen. Im Klappentext wird ausgeführt, dass in diesem Buch deutlich werden würde, wie weitreichend die Anwendungsmöglichkeiten dieses Konzeptes sind und wie stark Psychotherapie, Pädagogik und Soziale Arbeit von einer mentalisierungsfördernden Haltung profitieren können. Hier werden die Erwartungen an das Buch nicht erfüllt.

Geeignet ist dieses Buch insbesondere für Fachleute, die sich in einem Überblick mit dem Mentalisierungskonzept mit einem Fokus auf die Entwicklungspsychologie und die Psychoanalyse beschäftigen wollen.

Fazit

Psychotherapeut*innen erhalten mit diesem Buch eine kenntnisreiche Darstellung der Grundlagen und der Behandlungstechnik des Mentalisierens. Der Schwerpunkt des Buches liegt im Bereich der psychoanalytischen Psychotherapie und nicht, wie im Klappentext angekündigt in einem Überblick in den weiten Anwendungsmöglichkeiten der verschiedensten psychosozialen Arbeitsfelder.

Literatur

Diez Grieser, M.-T. (2022): Mentalisieren bei Traumatisierungen. Cotta Verlag, Stuttgart.

Sektion klinische Sozialarbeit (Hrsg.) (2024): Handbuch Klinische Sozialarbeit. Beltz Juventa, Weinheim Basel.

Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
Website
Mailformular

Es gibt 75 Rezensionen von Jürgen Beushausen.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245