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Tobias Neuburger, Christian Hinrichs: Mechanismen des institutionellen Antiziganismus

Rezensiert von Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski, 06.03.2024

Cover Tobias Neuburger, Christian Hinrichs: Mechanismen des institutionellen Antiziganismus ISBN 978-3-658-41645-4

Tobias Neuburger, Christian Hinrichs: Mechanismen des institutionellen Antiziganismus. Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt. Springer VS (Wiesbaden) 2023. 212 Seiten. ISBN 978-3-658-41645-4. D: 65,41 EUR, A: 71,95 EUR, CH: 77,50 sFr.
Reihe: Bürgerbewusstsein.

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Thema der Publikation

Die soziologische Studie untersucht anhand qualitativer Interviews und Dokumentenanalysen empirisch anhand von EU-Binnenmigration institutionellen Antiziganismus in den Verwaltungen und Sozialbehörden einer westdeutschen Großstadt aus einer macht- und rassismuskritischen Perspektive.

Vorstellung der Autoren

Tobias Neuburger ist Soziologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin sowie am Institut für Didaktik der Demokratie/​Center for Inclusive Citizenship (CINC) der Leibniz Universität Hannover. Von 2015 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Kompetent gegen Antiziganismus – in Geschichte und Gegenwart“ der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten und promoviert derzeit mit einer Arbeit über institutionellen Antiziganismus in der kommunalen Praxis.

Christian Hinrichs ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Göttingen und arbeitet dort unter anderem zu Wohnungslosigkeit. Zuvor war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Didaktik der Demokratie, Leibniz Universität Hannover. Dort arbeitete er im Forschungsprojekt „Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt“ unter der Leitung von Prof. Dr. Dirk Lange mit.

Entstehungshintergrund

Als die Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) 2019 ihre Arbeit begann, lag „keine wissenschaftlich seriös angelegte empirische Studie, die die Mechanismen des institutionellen Rassismus, dem Rom_nja und Sinti_ze durch staatliche Behörden ausgesetzt sind, untersucht“ (Jonuz/Stender 2023: VI), vor. Entsprechend erteilte die UKA den Forschungsauftrag, der zur hier besprochenen Studie führte. Sie wurde 2021 erstmalig präsentiert (Neuburger/Hinrichs 2021).

Anfang Oktober 2023 publizierte die Hannoversche Allgemeine Zeitung mehrere Berichte zur Studie und legte offen, dass es sich bei der untersuchten Stadt um Hannover handelt (Bohnenkamp/Rinas 2023 a; b; c; d; e; Rinas 2023 a; b; c; d; Schinkel 2023). Daraufhin erfuhr die Studie, nunmehr als hier besprochenes Buch publiziert, kurzzeitig ein größeres Medienecho (u.a. Conti 2023; dpa 2023; Jung 2023).

Aus der Studie sind weitere Aufsätze entstanden, unter anderem mit grundlegenden Überlegungen zum Begriff des institutionellen Antiziganismus (Neuburger 2022a), über institutionellen Antiziganismus und die Neuerfindung von Sozialleistungsbehörden als wohlfahrtsstaatliche Grenzsicherungsbehörden (Neuburger/Hinrichs 2022) sowie über die Rolle von rechter Stimmungsmache hinsichtlich der Dynamiken des institutionellen Antiziganismus in der kommunalen Praxis (Neuburger 2022b).

Parallel wurde für die UKA eine weitere große Studie von Randjelović et al. (2022) erstellt, die anhand von 93 Interviews das persönliche, berufliche und politische Wissen sowie Erfahrungen und Analysen zur Gegenwart von Rassismus gegen Sinti*ze und Rom*nja in Deutschland erforschte.

Aufbau

Die 224 Seiten der Arbeit sind in acht Kapitel mit Literaturverzeichnis gegliedert und beginnen mit einem kontextualisierenden Geleitwort der Professor*in der Hochschule Hannover, Elizabeta Jonuz und Wolfram Stender, die beide Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus (UKA) im Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) sind.

Nach der Einleitung und Fragestellung der Untersuchung (Kapitel 1) stellen die Autoren in Kapitel 2 eine theoretische Rahmung und den Forschungsstand dar. Das Folgekapitel 3 erläutert die Forschungsstrategie und die methodische Vorgehensweise.

Die Kapitel 4 bis 7 präsentieren die empirischen Befunde der Studie, geordnet nach den untersuchten Feldern: Kapitel 4 ist der kommunalen Wohnraumversorgung und Unterbringung gewidmet, Kapitel 5 dem Arbeitsmarkt und wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen, Kapitel 6 stellt die Befunde zu Bildung und Schule dar und Kapitel 7 schließlich die Ergebnisse zur Gesundheitsversorgung. Die beiden ersten Untersuchungsfelder werden detailreich ausgewertet dargestellt, die beiden folgenden Kapitel lediglich vorläufig und verkürzt.

Kapitel 8 fasst die Ergebnisse zu einem Fazit und Ausblick zusammen.

Ein Literaturverzeichnis von gut zehn Seiten stellt umfängliche Quellenbezüge dar.

Inhalt

Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine Positionierung des Deutschen Städtetages aus 2013, die zu einem weitreichenden Diskurs über sogenannte Armutsflüchtlinge und unerwünschte EU-Binnenmigration geführt hat. Dieser Diskurs ist – so lässt es sich durch das methodische Vorgehen bekräftigen – schlecht kodiert aber antiziganistisch und fokussiert Unionsbürger*innen aus Rumänien und Bulgarien mit spezifischen sozioökonomischen Merkmalen.

Methodologisch begründet wurde die Forschung bewusst ohne ethnische oder ethnisierende Kategorien und Fragestellungen geführt. Dies führte bei den Interviewten häufig zu Irritationen und Schleifen der Rückversicherung, ob man im „Zusammenhang mit der problematisierten EU-Binnenmigration von demselben Personenkreis sprac[h]. Dies führte dazu, dass in den Erzählungen der interviewten kommunalen Führungs- und Fachkräfte antiziganistische Latenzen und Umwegkommunikationen brüchig wurden und die hinter den vermeintlich neutralen Wortsubstituten liegenden Bedeutungsgehalte offen hervortraten“ (4; einfache Seitenzahlen beziehen sich im Folgenden jeweils auf das besprochene Buch).

Kapitel 2 zeichnet im ersten Teil die Entwicklung und Schärfung des Konzepts des institutionellen Rassismus im anglo-amerikanischen Raum seit den späten 1960er Jahren nach, das im Folgenden die theoretische Analysegrundlage bietet. Dafür wird der „institutionelle Rassismus […] als ein gesellschaftliches Machtverhältnis begriffen, für das nicht nur gegenwärtige, sondern auch vergangene Gruppenkonstruktionsprozesse von Bedeutung sind“ (18); zugleich findet eine Abgrenzung zu Staatsrassismus statt. Im zweiten Abschnitt des Theoriekapitels werden unter Rückgriff auf die deutschsprachige Antiziganismusforschung und Michel Foucault drei Dispositive (ordnungspolitisch, sozialpolitisch und anerkennungspolitisch) als wirksame Macht-Wissens-Komplexe des Antiziganismus benannt, die „‚Roma‘ zugleich zum Gegenstand von sozialpolitischen Entwicklungsdispositiven als auch ordnungspolitischen Sicherheitsdispositiven“ (27) machen. Sie dienen im Rahmen der EU-Osterweiterung „demselben Zweck: der Abwehr ‚gefährlicher‘ Migrant_innen, die unter Rückgriff auf antiziganistische Wissensbestände als exzessiv mobil und örtlich ungebundene ‚Nomaden‘ oder als unwürdige und ökonomisch unbrauchbare ‚Schmarotzer‘ stigmatisiert werden“ (27). Ein dritter Abschnitt beschreibt die Veränderungen der Grenzregime, die mit dem Abbau der EU-Binnengrenzen (Vertrag von Maastricht; Schengener Abkommen) eingetreten sind. Demnach „übernimmt die kommunale Ebene – wie auch ihre institutionellen Akteur_innen (beispielsweise städtische Verwaltungen, Arbeits- und Sozialämter oder Träger der freien Wohlfahrtspflege) – eine wachsende Bedeutung bei der innereuropäischen Migrationskontrolle“ (30). Wo aufgrund dessen ordnungspolitische Maßnahmen nicht mehr greifen können, werde durch „welfare bordering“ (Guentner et al. 2016: 405) die Inanspruchnahme sozialer Rechte aus den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen, dem Gesundheitssystem und Bildungswesen oder auf dem Arbeitsmarkt eingeschränkt. Dies steht in einer Kontinuität von Differenzierungen zwischen ‚würdiger‘ und ‚unwürdiger‘ Armut, die im 19. Jahrhundert Grundlage der damals innovativen preußischen Sozialgesetzgebung wurden. Zugleich wird ein einschließender Ausschluss etabliert, weil dringend benötigte Niedriglohnarbeitskräfte nicht ausreichend für die Lebensunterhaltssicherung verdienen, ihnen gleichzeitig aber Unterstützung verwehrt wird.

Im dritten Kapitel werden die Forschungsstrategie und das methodische Vorgehen dargestellt. Die qualitative Studie setzte mit 71 leitfadengestützten problemzentrierten Interviews (Witzel 2000) mit Fach- und Führungskräften aus der städtischen Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie einer Dokumentenanalyse natürlicher Daten aus dem Feld (städtische Handlungskonzepte, verwaltungsinterne Handreichungen etc.) auf zwei Erhebungsmethoden, die sich gegenseitig ergänzten. Besonderes Augenmerk galt dabei der Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung der Daten. Die Daten wurden anschließend nach den Grundsätzen der Grounded Theory ausgewertet. Die Autoren stießen dabei auf eine Abfolge von Mechanismen (Problematisierung, Abwehr, Verdrängung, Unterlassung, Eindämmung), die „nicht isoliert voneinander betrachtet werden, sondern sie sind selbst stets – mitunter widersprüchlich – aufeinander bezogen“ (9) und die sich teilweise als lineare Prozesslogik beschreiben lassen.

„Wer dort leben darf und wer nicht“ (51), ist das vierte Kapitel überschrieben, das die empirischen Befunde aus dem Untersuchungsbereich kommunale Wohnraumversorgung und Unterbringung darstellt. Wie die Folgekapitel ist es in der o. g. Prozesslogik untergliedert:

  • Problematisierung: Ausgehend von der Befürchtung, dass akzeptable Unterbringung und weitergehende Sozialleistungen eine Magnetwirkung auf weitere Zuwanderung hätten, sollte eine „exkludierend[e] ‚Unbequemlichkeitskultur‘ (Feldbegriff)“ (56) explizit für EU-Bürger*innen aus Bulgarien und Rumänien geschaffen werden. In den Interviews treten dabei immer wieder „bestimmte Umwegkommunikationen [zu Tage], durch die Bezeichnungen wie ‚Zigeuner‘ oder ‚Roma‘ durch funktionale Äquivalente ersetzt werden“ (59). Als Umwegkommunikationen oder politisch korrekte Euphemismen werden unter anderem Begriffe wie ‚Armutszuwanderer‘, ‚Südosteuropäer‘ oder ‚integrationsproblematische Menschen‘ genutzt.
  • Abwehr: Ausgehend von der Konstruktion einer Konkurrenz deutscher Kommunen untereinander wird ordnungsrechtlich argumentiert, dass es keine Unterbringungsansprüche der Migrant*innen gegen die Kommune gäbe. Die Zuschreibung einer Gruppenzugehörigkeit, hier: ‚Roma‘, führt dann zu einem restriktiveren Umgang sowohl generell in der Bereitstellung von Wohnraum als auch spezifisch in der Bewilligung und Zuweisung.
  • Verdrängung: Sofern die Abwehr nicht gelingt, folgt eine Segregationspraxis, indem als ‚Roma‘ gelabelte Personen in entlegenen, baulich schlecht erhaltenen Notunterkünften und zudem in einer relativ homogenen Zusammensetzung am „Arsch der Welt“ (76) untergebracht werden.
  • Unterlassung: Dort werden dann unterschiedliche Hilfe-, Bildungs- und Integrationsleistungen verzögert, verknappt oder unterlassen. Diese Prozesse werden (im Nachhinein) rationalisiert und verweisen aufeinander, sodass im Sinne der beabsichtigen ‚Unbequemlichkeit‘ eine Weitermigration der Betroffenen intendiert ist, also wieder Verdrängung stattfindet.
  • Eindämmung: Das für die Unterbringung zuständige Baudezernat handelt in einer ordnungsrechtlichen Logik und verpflichtet Sicherheitsdienste, lässt Unterkünfte nach wirtschaftlichen Kriterien durch (Sozial-)Unternehmen betreiben und ruft Assoziationen an Lagerbedingungen mit rigidem Regime hervor (94).

Das fünfte Kapitel untersucht Arbeitsmarkt und wohlfahrtsstaatliche Dienstleistungen in der bekannten Struktur. Bemerkenswert ist dabei, dass den Zugewanderten einerseits ihre Mittellosigkeit angelastet und zugleich der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird (107), ein „einschließender Ausschluss“ (Balibar 2003: 157 ff.). „Das für die institutionellen Akteur_innen bedeutungstragende Stigma ‚Roma‘ (und scheinbar neutraler Äquivalenzbegriffe […]) führt in diesem Zusammenhang vielmehr dazu, dass ein sozialer Sachverhalt sehr wirkungsvoll in einen ethnisierten Sachverhalt überführt wird. So werden diese vulnerabilisierten Arbeitsmigrant_innen […] durch institutionelle Praktiken in Arbeitsvermittlungs- und Sozialleistungsbehörden in ‚betrügerische Armutszuwanderer‘ verwandelt, die unter einem pauschalisierenden Generalverdacht des Sozialleistungsmissbrauchs stehen und entsprechend den sozialstaatlichen Frieden gefährden“ (108). Die so erfolgende Problematisierung des Wohlstandsgefälles innerhalb der EU und einer daraus resultierenden Migration wird in einer Arbeitshilfe der Bundesagentur für Arbeit (2019) – nur für den Dienstgebrauch – exemplarisch sichtbar, die sich der „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch durch EU-Bürger“ widmet. Während dieses Dokument den Antiziganismus verschleiert, tritt er in den Interviews mit Jobcentermitarbeitenden und ihrer Mitwirkung am „welfare bordering“ (Guentner et al. 2016: 405) offen zu Tage. Die Abwehrhandlungen „artikulieren sich dann in der Interaktion zwischen Personal und Auskunftssuchenden, wie uns wiederholt berichtet wurde, insbesondere in folgenden Formen: unmittelbare Abweisung und Verweigerung des Zutritts, Verweigerung der Herausgabe von Antragsformularen und weiterführenden Informationen, [Aufrechterhalten einer Sprachbarriere] oder Verweigerung der Annahme von Dokumenten“ (125). Die betroffenen EU-Bürger*innen werden durch Regulierungen an den Rand des Arbeitsmarktes gedrängt, die sie in prekäre Formen der Solo-Selbstständigkeit zwingen. Behörden unterlassen es, Vorgänge rechtzeitig zu bearbeiten, sodass das rigide Zeitregime der EU-Freizügigkeitsregelungen zu greifen beginnt. Die Kooperation des Jobcenters mit weiteren Behörden wie der Familienkasse oder der Ausländerbehörde hilft in Verbindung mit rigiden Kontrollen bei der Eindämmung des unterstellten „‚bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauchs“ (158).

Das sechste Kapitel untersucht Bildung und Schule. Im Rahmen des Forschungsprojektes konnte das erhobene Material aber nicht vollumfänglich ausgewertet werden. Dargestellte Abwehr- und Verdrängungsprozesse sind deshalb als vorläufige Ergebnisse zu verstehen, deuten aber stark auf institutionelle Diskriminierungsprozesse hin. So führt ein „struktureller Angebotsmangel an Kita-Plätzen im Zusammenhang mit wohnräumlicher Segregation […] zu einer Unterversorgung von als ‚Roma‘ gelabelten Familien mit Dienstleistungen der frühkindlichen Bildung“ (162). Im Grundschulbereich erfahren diese Kinder dann eine „Sonderbehandlung“ (166), indem bei überproportional vielen ein Förderbedarf Geistige Entwicklung diagnostiziert wird, um zusätzliche Personalressourcen zu erhalten oder Begründungen für die Separation der Kinder in der Schule zu haben.

Das siebte Kapitel bearbeitet die Befunde zur Gesundheitsversorgung, ebenfalls nur vorläufig. Dabei erweisen sich Krankenversicherungssystemkollaborationen innerhalb der Europäischen Union als auch die Verbindungen zwischen Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung als hochkomplex und schwer verständlich. Zugleich werden die Zugewanderten als „kollektives Problem der Seuchenhygiene“ (178) und Gefahr für die öffentliche Gesundheit stigmatisiert. „Diese Wirklichkeitsinterpretationen münden stets in der Behauptung, dass die betroffenen Personen selbstverschuldet nicht in der Lage seien, für ihre Gesundheit zu sorgen. Ausgeblendet werden in diesem Kontext sowohl strukturell bedingte Ausschlüsse aus dem deutschen Krankenversicherungssystem als auch prekarisierte und krankmachende Arbeits- und Wohnverhältnisse“ (188). Das Budget für karitativ-medizinische Notfallversorgung reicht nicht aus, so „dass die betroffenen Personen angehalten werden müssten, legitime und notwendige Behandlungswünsche zu reduzieren. Dass die Limitierung und Einschränkung gesundheitlicher Dienstleistungen auch der Migrationskontrolle von als ‚Roma‘ gelabelten Unionsbürger_innen dient, deutet die von uns interviewte ärztliche Leitung der kirchlich getragenen medizinischen Notfallversorgung an“ (189).

Das abschließende Kapitel 8 fasst die Befunde zusammen (189–196) und beschreibt im Fazit verdichtet die bereits benannten fünf Mechanismen institutionellen Antiziganismus, bestehend aus Problematisierung, Abwehr, Verdrängung, Unterlassung und Eindämmung. Die antiziganistische Problemkonstruktion – zum Teil gespeist aus tradierten antiziganistischen Wissensbeständen und Stereotypen – labelt EU-Bürger*innen als ‚Roma‘, die bandenmäßigen Sozialleistungsmissbrauch betreiben und integrationsunfähig und -willig sind. Über Mechanismen der Abwehr wird diesem Personenkreis der Zugang zu Angeboten, Einrichtungen und Ressourcen im Wohn-, Arbeits-, Bildungs- und Gesundheitssystem verwehrt, indem Ermessensentscheidungen systematisch zum Nachteil des gelabelten Personenkreises ausgelegt oder gar rechtswidrig getroffen werden. Über alle Untersuchungsbereiche lassen sich dabei Mechanismen der Verdrängung und Segregation nachweisen. Bewusstes Unterlassen (oder Verzögern) trägt erheblich zu einer intendierten ‚Unbequemlichkeitskultur‘ bis hin zu Gesundheitsschädigung bei und ist nur scheinbar passiv – vielmehr liegt diesem systematischen Verhalten eine aktive Selektionsentscheidung zugrunde. Mit dem Mechanismus der Eindämmung schließlich werden die vorangegangenen Mechanismen geordnet und regiert, indem die Betroffenen „Praktiken der Disziplinierung, Kontrolle und Überwachung unterworfen“ (195) werden, unter anderem durch ‚welfare bordering‘ und der Entwicklung des Jobcenters zu einer Grenzschutzbehörde.

Abschließend wird ein „grundlegende[r] Bedarf an einer soziologisch orientierten Rassismus- und Antiziganismusforschung“ (196) benannt, die explizit eine machtkritische Perspektive einnimmt und damit die etablierte deutschsprachige Forschungstradition (sozial-)psychologischer Forschung entscheidend erweitert. Dafür wäre es wichtig, den Feldzugang in Sozial- und Ordnungsbehörden sowie Verwaltungsstrukturen im Sinne einer transparenten und demokratischen Gesellschaft zu erleichtern.

Diskussion

Die theoretische und methodische Herangehensweise sind gut argumentiert. Hilfreich sind die einleitenden Überlegungen, die zwischen Rassismus in Institutionen und institutionellem Rassismus unterscheiden, wobei letzterer in der Regel durch „in demokratischen Entscheidungsprozessen kodifizierte Regelungen und Gesetze legitimiert“ (6) und damit nur schwer kritisierbar ist. Forschungsmethodisch zeigt sich die Schwierigkeit, eine Studie mit politischer Sprengkraft wirksam zu anonymisieren/​pseudonymisieren. Ob es den Journalist*innen tatsächlich ausschließlich auf Grundlage des publizierten Textes in Verbindung mit eigenem Lokalwissen und dem Zugriff auf das eigene Verlagsarchiv gelang, die Anonymisierung aufzuheben (Bohnenkamp/​Rinas 2023e), oder ob informierte Kreise hier entscheidende Hinweise gaben, bleibt offen. Tatsächlich ist die Recherche von Fakten im Internet relativ einfach, sind Infrastrukturen und Entwicklungen nur schwer verfremdet zu beschreiben, sodass Anonymisierungsstrategien zum Schutz der Involvierten und aufgrund ihrer zum Teil herausgehobenen Positionen identifizierbaren Personen offenbar weitaus umfassender sein müssen als lediglich die Verschleierung von Namen.

Die detailreiche Darstellung aus der großen Menge empirischen Materials erschreckt, allein schon durch den jeweils beschriebenen Einzelfall, als im systematischen Zusammenwirken zahlreicher Mechanismen, Institutionen und Organisationen. Es scheint, als gingen institutioneller Rassismus und Rassismus in Institutionen eine unheilvolle Allianz ein. Dabei verdeutlicht die Rahmung der Mechanismen in EU-Binnenmigrations- und Politikdiskursen, dass sich der institutionelle Rassismus nicht lokal auf ‚eine westdeutsche Großstadt‘ reduzieren lässt, sondern dass inter- und transnationale Phänomene beschrieben wurden, die nach einer Antwort diesen Maßstabs rufen. Gleichwohl sind die politische Vereinnahmung und Binnenpolitisierung von Verwaltung beileibe keine neuen, sondern gut untersuchte Phänomene (vgl. bspw. Seibel 2016), ebenso eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (vgl. Heitmeyer 2018). An manchen Stellen entsteht deshalb der Eindruck, dass der Wunsch, institutionellen Antiziganismus nachzuweisen, verwaltungs- und organisationswissenschaftliche Erkenntnisse und Theorien hat in den Hintergrund rücken lassen. So kann der Eindruck entstehen, als gäbe es einen verdeckten Masterplan aus einem kommunalen Hinterzimmer anstelle eines dezentralen Koproduktionsprozesses aus vielen einzelnen Akten, Entscheidungen und gegenseitigen Bestätigungen zwischen kommunalen, nationalen und supranationalen Gremien und Entscheidungen.

Die gefundenen Praktiken sind zweifelsohne diskriminierend, in ihrer Fülle erschreckend und in einem demokratischen Rechtsstaat vor dem Hintergrund des Grundgesetzes und der Allgemeinen Menschenrechte nicht tolerierbar. Sie müssen kritisiert und verändert werden.

Zudem betreffen sie partiell auch andere Menschen als Sinti*ze und Rom*nja und sind deshalb nicht ausschließlich als ‚antiziganistisch‘ zu beschreiben. Dazu gehören auch die Menschen, die zwar anhand unklarer Kriterien als ‚Roma‘ gelabelt und damit ethnisiert werden, dieser Ethnie aber nicht angehören. Der herausgearbeitete institutionelle Antiziganismus trifft also absolut unscharf und im subjektiven Ermessen der Entscheidenden eine Gruppierung, die bestenfalls bestimmte sozioökonomische Merkmale gemeinsam hat.

Fazit

Die umfangreich und empirisch untersuchten Verwaltungspraktiken im Kontext der EU-Binnenmigration aus Rumänien und Bulgarien helfen, fünf zentrale Mechanismen des institutionellen Antiziganismus zu erschließen: Problematisierung, Abwehr, Verdrängung, Unterlassung und Eindämmung. Sowohl aufgrund des Forschungsgegenstands als auch des methodischen Vorgehens und der dargestellten Befunde empfiehlt sich die Lektüre sehr, insbesondere für Soziale Arbeit, Verwaltungs- und Politikwissenschaft sowie Akteur*innen der Zivilgesellschaft. Gegenwärtig ist diese Studie einzigartig.

Literatur

Balibar, Étienne (2003): Sind wir die Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg: Hamburger Edition.

Bohnenkamp, Christian; Rinas, Jutta (2023a): Einstellung des Jobcenters: „Hopfen und Malz verloren“. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 4.10.2023 (231), S. 19.

Bohnenkamp, Christian; Rinas, Jutta (2023b): Rassismus vom Amt: Wie Hannover Roma loswerden wollte. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 4.10.2023 (231), S. 18–19.

Bohnenkamp, Christian; Rinas, Jutta (2023c): Studie: Stadt Hannover hat Roma systematisch diskriminiert. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 4.10.2023 (231), S. 1.

Bohnenkamp, Christian; Rinas, Jutta (2023d): Werden Roma-Kinder in Hannovers Schulen fälschlicherweise als geistig behindert eingestuft? In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 5.10.2023 (232), S. 17.

Bohnenkamp, Christian; Rinas, Jutta (2023e): „Am Arsch der Welt“ – Hannover hat systematisch Roma diskriminiert. Unter Mitarbeit von Felix Harbart („Klar so weit?“). HAZ-Podcast, 10.10.2023. Online verfügbar unter https://getpodcast.com/de/podcast/​klar-so-weit/​am-arsch-der-welt-hannover-hat-systematisch-roma-diskriminiert-hinterg_6bb317f12b, zuletzt geprüft am 22.01.2024.

Conti, Nadine (2023): Antiziganismus in Hannovers Verwaltung: Rassismus von Amts wegen. In: die tageszeitung, 7.10.2023 (nord). Online verfügbar unter https://taz.de/Antiziganismus-in-Hannovers-Verwaltung/!5961191/(abgerufen am 19.1.2024).

dpa niedersachsen (6.10.2023): Kritik des OB Onay: Studie zu Diskriminierung von Sinti und Roma „frustrierend“. Hannover. Online verfügbar unter dpa:231006-99-461160/3; erschienen u.a. in Zeit online, Süddeutsche Zeitung online, Tageblatt (Stade).

Guentner, Simon; Lukes, Sue; Stanton, Richard; Vollmer, Bastian A.; Wilding, Jo (2016): Bordering practices in the UK welfare system. In: Critical Social Policy 36 (3), S. 391–411. DOI: 10.1177/0261018315622609.

Heitmeyer, Wilhelm (2018): Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung 1. Berlin: Suhrkamp.

Jonuz, Elizabeta; Stender, Wolfram (2023): Geleitwort, in: Neuburger, Tobias; Hinrichs, Christian (2023): Mechanismen des institutionellen Antiziganismus. Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Bürgerbewusstsein, Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung), S. V-IX.

Jung, Hagen (2023): Hannover vertrieb Roma. Stadt wies systematisch menschenunwürdige Quartiere zu. In: nd, 9.10.2023. Online verfügbar unter https://www.nd-aktuell.de/artikel/​1176874.studie-zu-antiziganismus-hannover-vertrieb-roma.html (abgerufen am 19.1.2024).

Neuburger, Tobias; Hinrichs, Christian (2021): Mechanismen des institutionellen Antiziganismus: Kommunale Praktiken und EU-Binnenmigration am Beispiel einer westdeutschen Großstadt. Forschungsbericht für die Unabhängige Kommission Antiziganismus, März 2021. Unter Mitarbeit von Ismail Bekir Dogru und Ria Tendler. Institut Bildung-Forschung-Qualifizierung e.V.; Institut für Didaktik der Demokratie und Forschungszentrum Center for Inclusive Citizenship, Leibniz Universität Hannover. Berlin. Online verfügbar unter https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/​downloads/DE/veroeffentlichungen/​themen/​heimat-integration/​antiziganismus/​neuburger-hinrichs.pdf?__blob=publicationFile&v=3, zuletzt geprüft am 19.01.2024.

Neuburger, Tobias; Hinrichs, Christian (2022): Die institutionelle Produktion von „Armutszuwanderern“: Kommunaler Antiziganismus und die Neuerfindung des Jobcenters als wohlfahrtsstaatliche Grenzsicherungsbehörde. In: Linda Supik et al. (Hg.): Gender, Race and Inclusive Citizenship. Dialoge zwischen Aktivismus und Wissenschaft, Wiesbaden: Springer VS, S. 195–226.

Neuburger, Tobias (2017): Von Armutszuwanderern und Notreisenden. Antiziganismus in der Migrationsgesellschaft. In: Horst Schreiber et al. (Hg.): Im Zwiespalt (Gaismair Jahrbuch 2018), Innsbruck: Studien-Verlag, S. 139–147.

Neuburger, Tobias (2022a): Kommunale Grenzziehungen des Antiziganismus. Oder: Was heißt institutioneller Antiziganismus? In: Außerschulische Bildung. Zeitschrift der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung 53 (1), S. 44–48.

Neuburger, Tobias (2022b): „Projektionsfläche rechtsextremen Gedankenguts“ – zur Dynamik des institutionellen Antiziganismus in der kommunalen Praxis. In: Zeitschrift für Rechtsextremismusforschung 2 (2), S. 215–235.

Randjelović, Isidora; Gerstenberger, Olga; Fernández Ortega, José; Kostić, Svetlana; Attia, Iman (2022): Unter Verdacht. Rassismuserfahrungen von Rom:nja und Sinti:zze. Wiesbaden: Springer VS.

Rinas, Jutta (2023a): „Diskriminierung von Sinti und Roma muss endlich aufhören“. Interview mit Professor Wolfram Stender. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 4.10.2023 (231), S. 19.

Rinas, Jutta (2023b): „Aufklärung muss Chefsache sein“. Hannovers Politik fordert Konsequenzen aus einer Studie zu Rassismus gegen Roma. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 5.10.2023 (232), S. 1.

Rinas, Jutta (2023c): „Es geht nicht um Hannover. Es geht um ein System“. Interview mit Mehmet Daimagüler. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 5.10.2023 (231), S. 17.

Rinas, Jutta (2023d): „Wir fühlen uns oft wie im Gefängnis oder im Zoo“. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 7.10.2023 (234), S. 23.

Schinkel, Andreas (2023): „Was hat Ihre Verwaltung eigentlich gegen Sinti und Roma, Herr Onay?“ Der Oberbürgermeister nimmt Stellung zur antiziganistischen Haltung in Teilen des Rathauses, die eine soziologische Studie dokumentiert. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung 74, 06.10.2023 (233), S. 16. Online verfügbar unter https://www.haz.de/lokales/​hannover/​diskriminierung-von-sinti-und-roma-bei-der-stadt-hannover-oberbuergermeister-belit-onay-nimmt-QHJKCBQPABEYZBB4I7DCE6H7YE.html, zuletzt geprüft am 19.01.2024.

Seibel, Wolfgang (2016): Verwaltung verstehen. Eine theoriegeschichtliche Einführung. Berlin: Suhrkamp.

Witzel, Andreas (2000): The Problem-centered Interview. Forum: Qualitative Social Research 1 (1). DOI: 10.17169/​fqs-1.1.1132.

Rezension von
Prof. Dr. Volker Jörn Walpuski
Prof. Dr. phil., Professur für Supervision und Coaching an der Evangelischen Hochschule Freiburg sowie freiberuflicher Supervisor und Coach (DGSv), Mediator (BM) und Organisationsberater.
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ISSN 2190-9245