Sieglinde Eva Tömmel: Psychoanalyse der weiblichen Entwicklung
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 27.12.2024
Sieglinde Eva Tömmel: Psychoanalyse der weiblichen Entwicklung. Frauen und ihre gesellschaftliche Unbewusstheit. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2024. 245 Seiten. ISBN 978-3-95558-351-4. D: 32,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Thema und Zielgruppe
Die Autorin geht der Frage nach, ob Frauen durch einfache Mechanismen, oder doch eher auf sehr komplexe psychische Art und Weise diskriminiert werden. Sie analysiert zahlreiche gesellschaftliche und individuelle Faktoren unterschiedlicher Kulturen. Sie setzt sich hierbei auch mit Theorien zur biologischen Unterschiedlichkeit zwischen Männern und Frauen auseinander, konzentriert sich aber deutlicher auf sozialwissenschaftliche und insbesondere auf psychoanalytische Theorien. Sie untermalt ihre Argumentation mit psychoanalytischen Fallvignetten. Das Buch hat keine klare umrissene Zielgruppe und richtet sich insbesondere an Sozialwissenschaftler*innen, Kulturwissenschaftler*innen und (analytische/tiefenpsychologische) Therapeut*innen. Zugleich hat der Brandes und Apsel Verlag ein deutlich psychoanalytisches Profil.
Autorin
Dr. phil. Dr. rer pol. habil. Sieglinde Eva Tömmel studierte Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie und Pädagogik und ist als Psychoanalytikerin in eigener Praxis sowie als Lehranalytikerin und Supervisorin tätig. Sie hat u.a. bereits zu psychoanalytischen Geschlechtstheorien und zur therapeutischen Arbeit mit Migrant*innen aus Afghanistan publiziert.
Aufbau
Das Buch besteht nach einer Einführung aus 5 Kapiteln
- Annäherung an ein schwieriges Thema
- Von Natur aus anders?
- Die gesellschaftliche Konstruktion weiblicher Wirklichkeit
- Weibliche Unbewusstheit
- Psychoanalyse der weiblichen Entwicklung
Inhalt
Die Autorin richtet einen soziopsychoanalytischen Blick auf derzeit gültige analytische Theorien der weiblichen Entwicklung, arbeitet – wie andere Autor*innen zuvor – die Begrenztheit der Freud'schen Theorie zur weiblichen Entwicklung im Kontext der gesellschaftlichen Umgebung der Donaumonarchie heraus und lässt auch die Deutungen Karen Horneys und Christa Rohde-Dachsers nicht unerwähnt, die die Ähnlichkeiten Freud'scher Weiblichkeitsmodelle mit den frühen Phantasien eines fünfjährigen Buben herausgearbeitet haben. Erneut mahnt sie eine psychoanalytisch wissenschaftliche Aufarbeitung der neueren Erkenntnisse zur weiblichen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne insbesondere aus weiblicher Sicht an, welche auch die stark unterberücksichtigte Lebensphase der über 40-Jährigen Frauen umfasst. Sieglinde Eva Tömmel prägt und erläutert den Terminus „gesellschaftliche Unbewusstheit von Frauen“ und geht auf die Institutionalisierung von entwicklungstheoretischen Konzepten und hierbei auch auf Perspektiven ein, die über den Tellerrand der eigenen Kultur hinausgehen. In diesem Zusammenhang thematisiert sie insbesondere ausgewählte afrikanische und islamisch geprägte Frauenbilder mit einer besonderen Vertiefung der Situation afghanischer Frauen.
Im ersten Abschnitt geht sie auf einen kabylischen (nordafrikanischen) Mythos ein, der die männliche Herrschaft in die Körper einschreibt und in einer sexualisierten Kosmologie die Unterordnung der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen festschreibt. Mit Rückgriff auf Bourdieu konstatiert sie, dass die biologischen Unterschiede nachträglich die Begründung böten, die schon bestehende Herrschaftsform festzuschreiben. Sieglinde Eva Tömmel ergänzt ihre Ausführungen mit Fallbeispielen aus den islamisch geprägten Ländern Iran und Afghanistan, macht im Anschluss daran jedoch deutlich, dass auch in Europa Frauen trotz ihrer besseren gesellschaftlichen Position nicht selbstbewusst seien und geht der Frage nach, wie selbstunterwerfende und depressive Haltungen von Frauen zu Stande kommen. Hierbei differenziert sie nach Erfahrungen, die der Neuen und Alten Mittelklasse sowie im Prekariat entstehen. Insbesondere geht sie auf die transgenerationelle Transmission übertragener Reste der Struktur früherer Herrschaftsverhältnisse ein, welche sich insbesondere in der Mutterbeziehung ereignen. In einem ausführlicheren Fallbeispiel einer ihrer Meinung nach typischen Frauengeschichte aus Deutschland einer tüchtigen, gut gebildeten Frau mit problematischen Erfahrungen in der eigenen Paarbeziehung treten Aspekte der Beziehung zur eigenen Mutter hervor: Mangelnde Empathiefähigkeit der eigenen Mutter und die unbewusste Benutzung der Tochter als Selbstobjekt, die für alle ihre Sorgen zuständig sei. Weitere Fallbeispiele untermauern die These der Autorin, dass es um die verinnerlichte Vorstellung gehe, dass sich Frauen stärker als Männer anpassen müssten, und dass sie ohne Mann nach dem Zerbrechen einer Beziehung „mutterseelenallein“ seien.
Aus diesen Überlegungen heraus spannt die Autorin im 2. Kapitel einen Bogen zu empirischen Studien zur (biologisch geprägten) Unterschiedlichkeit zwischen Mädchen und Jungen und konstatiert: Männer und Frauen sind auch von Natur aus anders. Sie thematisiert hier die Unterschiede in der Normalverteilung der Intelligenz, nach der Frauen stärker im mittleren Bereich vertreten seien, sowie Unterschiede im Bereich mathematisch räumlicher Aufgaben und Empathiefähigkeit. Weiterhin thematisiert sie die höhere Leistungsbereitschaft und Effizienz von Frauen. Auch setzt sie sich mit den Ausführungen Bischof-Köhlers zur biologischen Unterschiedlichkeit auseinander.
Das dritte Kapitel ist der gesellschaftlichen Konstruktion weiblicher Wirklichkeit und der Macht von habitualisierten Typisierungen gewidmet. „Die Benachteiligung von Frauen, einmal institutionalisiert, ganz gleich, ob berechtigt oder unberechtigt, funktioniert nach diesem Muster. Je länger die Benachteiligung dauert, das heißt je verbindlicher sie institutionalisiert ist, desto weniger rasch kann sie beendet werden.“ (S. 122) Anhand eines Fallbeispiels einer aus Nordafrika stammenden, in Deutschland lebenden Patientin werden die Ambivalenzkonflikte zwischen den beiden Kulturen thematisiert. Es geht auch um die Beziehung der Patientin zur eigenen Mutter, die zwar als berufstätige Frau weiblich selbstbewusst war, sich aber dennoch dem cholerischen Vater unterordnete. Sieglinde Eva Tömmel vergleicht die Kultur, in der ein Mensch aufgewachsen ist, mit einem narzisstischen Kleid, das bei Migration zu zerreißen droht. Im weiteren Verlauf thematisiert sie Gruppendruck in Mädchencliquen.
Im vierten Kapitel geht die Autorin detaillierter auf die weibliche Unbewusstheit ein. Nach einem interessanten Exkurs zu narzisstisch gestörten Männern, die sich mit den schlechtesten Eigenschaften, die Menschen haben können, an die Spitze der Gesellschaft gekämpft haben und im Sinne einer Makrosoziopathie dafür sorgen, dass sich ursprünglich individuelle Defizite auf ganze Gesellschaften ausbreiten, kommt die Autorin stärker auf analytische Modelle der Individualentwicklung zu sprechen. Mit Kandel unterscheidet sie das implizite (das unbewusste Konflikte und Abwehrmechanismen umfasst), das prozedurale und das vorbewusste Unbewusste. Im weiteren Verlauf kommt sie u.a. auf Embodiment zu sprechen und definiert Embodiment nach Leuzinger-Bohleber und Pfeifer: „dass im Hier und Jetzt einer neuen Interaktionssituation durch sensorische Koordinationen die Analogien zu früheren Situationen (nicht kognitiv, sondern im Körper) erkannt werden …“ (S. 161). Im Fazit ihrer gesellschaftlichen und individuallebensgeschichtlichen Betrachtungen vor dem Hintergrund von unbewusst verkörperten transgenerational weitergebenen Erfahrungsmustern kommt sie zu der Schlussfolgerung, dass sich Frauen die Tatsache des Gemachten allen gesellschaftlichen Seins nicht genügend bewusst machen, dadurch nähre sich ein anhaltendes, auf ihr Lebensgefühl wirkendes mangelndes Selbstbewusstsein.
Im fünften Kapitel holt die Autorin noch einmal ausführlich aus, um die Psychoanalyse der weiblichen Entwicklung und die frühen und neueren Einwände aus weiblicher Sicht gegen die begrenzte Sichtweise von Freud zu thematisieren. Sie schlägt für Mädchen eine alternative Terminologie vor, die Begriffe wie ödipaler Konflikt und phallische Phase ersetzen könnten. Weiterhin finden sich in diesem Kapitel Ausführungen zum (unerfüllten) Kinderwunsch. Sieglinde Eva Tömmel betont auch, dass kleine Mädchen besonders begabt in allen Äußerungsformen, die die soziale Interaktion betreffen, seien und daher besonders anfällig seien, von unglücklichen Müttern emotional vereinnahmt zu werden.
Diskussion
Es handelt sich um eine interessante Analyse weiblicher Diskriminierung aus psychoanalytischer Sicht, welche mit zahlreichen Fallvignetten untermauert wird. Die Stärken des Buches bestehen darin, dass auch die Situation von Frauen mit Migrationshintergrund thematisiert und mit recht ausführlichen Fallbeispielen unterlegt wird und dass Bezüge zu unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Theorien herausgearbeitet werden. Insbesondere das im vorliegenden Buch ausgearbeitete Konzept der gesellschaftlichen Unbewusstheit ist interessant. Allerdings bleibt die Autorin bei ihrer Forderung nach stärkerer wissenschaftlicher Aufarbeitung psychoanalytischer Theorien stehen, vertieft diese Forderung nicht methodologisch und schlägt keine Brücke zu ethnografischen Ansätzen und Forschungsprojekten anderer Disziplinen und anderer Länder. Die Auseinandersetzung mit neueren Gendertheoretischen Ansätzen geschieht in Teilen. Sieglinde Eva Tömmel bezieht sich in diesem Zusammenhang beispielsweise auf Ilka Quindeau, die Modelle von Robert Stöller aufarbeitet und weiterführt: Hilfreicher als die immer weitere Vervielfältigung der Möglichkeiten unterschiedlicher sexueller Kernidentitäten und gesellschaftlicher Rollen sei es, diese generell eher als Container für verschiedene Elemente zu sehen, die sowohl Weibliches als auch Männliches enthalten können. Die gesellschaftliche Codierung als Mann oder Frau würde den individuellen Patient*innen mit ihren männlichen und weiblichen Anteilen ohnehin nicht gerecht. Davon getrennt denken solle man die gesellschaftliche Benachteiligung ganzer Gruppierungen von Männern und Frauen und auch die Diskussion um biologisch gegebene Unterschiede. Sieglinde Eva Tömmel plädiert im Gegensatz zu manch anderen gendertheoretischen Ansätzen dafür, die politische Entscheidungen (wie z.B. die Kategorie „divers“ gesellschaftlich zu verankern) strikt von naturwissenschaftlichen Fragen angeborener Unterschiedlichkeiten zwischen Männern und Frauen zu trennen. Ihre Auffassung, binäre Kodierungen in verschiedenen Kontexten beizubehalten und zugleich innerhalb der Kodierung zu differenzieren, dürfte in diesem Zusammenhang sicher bei einigen Vertreter*innen der Genderstudies auf Widerspruch stoßen. Die Ausführungen zu dem veralteten Weiblichkeitsmodell von Freud und den Kritiken an diesem Modell hätten gekürzt werden können, da sie schon häufig thematisiert wurden.
Fazit
Das Buch thematisiert komplexe Dynamiken der Diskriminierung von Frauen aus psychoanalytischer Sicht. Es enthält zahlreiche Fallvignetten und berücksichtigt hierbei auch Frauen mit Migrationshintergrund. Die Autorin dekonstruiert die Weiblichkeitstheorien von Freud, schlägt neue Begrifflichkeiten vor und geht in ihren Ausführungen, insbesondere auf transgenerationale Aspekte und gesellschaftlich institutionalisierte Faktoren ein.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 27.12.2024 zu:
Sieglinde Eva Tömmel: Psychoanalyse der weiblichen Entwicklung. Frauen und ihre gesellschaftliche Unbewusstheit. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2024.
ISBN 978-3-95558-351-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31917.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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