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Dirk Liesemer: Café Größenwahn

Rezensiert von David Kreitz, 02.04.2024

Cover Dirk Liesemer: Café Größenwahn ISBN 978-3-455-01656-7

Dirk Liesemer: Café Größenwahn. 1890-1915 : als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde. Hoffmann und Campe (Hamburg) 2023. 383 Seiten. ISBN 978-3-455-01656-7. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 32,50 sFr.

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Thema

„Das Kaffeehaus ist der Sammelplatz von Müßiggängern und Schwätzern, in vielen Fällen. Aber zuweilen ist es auch ein kleines Parlament, eine ungebundene Universität, eine improvisierte Akademie; und manchmal ganz einfach der Salon derjenigen, die keinen haben“ (S. 292). Und genau darum geht es in diesem Sachbuch: das Kaffeehaus als Ort, der das intellektuelle, künstlerische, literarische Leben am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts prägt. Schließlich treffen hier die Gedanken, neuen Strömungen, Ideen und die diese verkörpernden und verbreitenden Personen aufeinander, schaukeln sich aneinander hoch, kritisieren, fabulieren, träumen – und zwar groß. Anhand des Wiener Café Griensteidl, des Münchner Café Stefanie und des Berliner Café des Westens – die alle den Spitznamen Café Größenwahn trugen – gibt Dirk Liesemer einen Überblick über diese Institution der europäischen Kulturgeschichte. 

Autor

Dirk Liesemer arbeitet als Buchautor und Journalist, unter anderem für Zeitschriften wie MARE, G/Geschichte, Spiegel+ und Geo. Daher sind einzelne Aspekte seiner Bücher meist auch in journalistischen Artikeln veröffentlicht.

Aufbau & Inhalt

Das Buch gliedert sich in ein Vorwort und vierzehn Kapitel. Die Kapitel sind nicht nummeriert, umfassen als Zeitraum ein bis drei Jahre, angefangen vom Juli 1890 bis Oktober 1915. Dabei beginnt jedes Kapitel mit einem kurzen Einleitungstext, einem Porträtfoto und einer Aufnahme eines Cafés oder Wiens, Münchens, Berlins. Die in den Kapiteln versammelten Kurztexte sind dann jeweils mit einem Ort überschrieben und geben Einblick in verschiedene Biografien.

Das Buch beginnt mit Wien als Kaffeehausmetropole Europas und mit dem Café Griensteidl, welches als Erstes den Namen „Café Größenwahn“ führen wird. Hier treffen die Lesenden auf Hermann Bahr, Hugo von Hoffmannsthal, Arthur Schnitzler, Felix Salten und Richard Beer-Hoffman, die Gruppe Jung-Wien. Bald gesellen sich Peter Altenberg hinzu und auch der scharfzüngige Kritiker Karl Kraus, die es beide jedoch bald ins Café Central weiterzieht, wo Altenberg noch heute als Pappkamerad an seinem Stammplatz sitzt.

Im Münchner Schwabing eröffnet 1896 das Café Stefanie und ist bald mit Namen verbunden wie Frank Wedekind, Skandalautor des freizügigen „Frühlings Erwachen“, Max Halbe, Franziska Gräfin von Reventlow – die frei und flirtend und vielliiert durchs Leben geht. Unter dem Verleger Albert Langen entsteht das Satiremagazin Simplicissimus und öffnet der Münchner, aber auch der Wiener und Berliner literarischen Kaffeehausbohème seine Seiten. In München werden der Anarchist Erich Mühsam und der dichtende Matrose Hans Bötticher, später besser bekannt als Joachim Ringelnatz, das Rampenlicht betreten. Hier entsteht auch die erste, sehr erfolgreiche Kabarettgruppe Deutschlands „Die elf Scharfrichter“ mit Wedekind.

Das Berliner Größenwahn, das Café des Westens, zieht die eigenwillige und auffällige Else Lasker-Schüler an. Auch ihr baldiger Mann Herwarth Walden findet sich ein. Der vor allem für das Theater bekannte Max Reinhardt und auch Stefan Zweig schauen vorbei; letzterer allerdings ist vor allem fasziniert von dem ungezwungen vor sich hinlebenden Dichter Peter Hille, der auf Wunsch seiner Fans seine Manteltaschen nach Gedichten durchsucht, die er auf allen möglichen Zetteln geschrieben mit sich herumträgt.

So tauchen im Buch immer wieder neue Personen auf, manche begleiten die Lesenden nur ein Stück und geraten dann wieder aus dem Blick, manche lernt man mit ihrer Biografie und in verschiedenen Lebensumständen kennen. Es verbinden sich Lebenswege zwischen den Cafés, schließlich ist man mobil und kennt sich untereinander. Dazwischen werden immer wieder politische Nachrichten für ganz Europa eingestreut. 

Diskussion

Dirk Liesemer spricht vor allem durch die vorgestellten Personen und zeichnet ein dichtes Bild der Protagonist*innen der Kaffeehauskultur in den Jahren 1890–1915. Dabei geht es ihm vornehmlich darum, O-Töne einzuordnen, Lebenswege darzustellen und über Beschreibungen zu wirken. Eine Analyse des Kaffeehauses findet nur wenig statt – außer wiederum in den Aussagen und Bewertungen von Zeitgenoss*innen. Leider ist nicht ersichtlich, warum bei einer Vorstellung des Kaffeehauses nur die drei „Café Größenwahn“ eine Rolle spielen. Der Autor nimmt unter dem Stichwort „Größenwahn“ auch politische Aspekte der Zeit mit auf, was manchmal unpassend erscheint und möglicherweise hätte bspw. statt des deutschen Flottengrößenwahns der Blick auf weitere Kaffeehäuser gerichtet werden können. Insgesamt ein gut lesbares Sachbuch, das den Lesenden jedoch keine Analyse des Phänomens Kafeehausbohème anbietet, zumindest nicht über das Zeitgenössische und Deskriptive hinaus. Von Stil und Aufmachung erinnert das Buch stark an Florian Illies „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“.

Fazit

Ein anschauliches Panorama der Kaffeehausbohéme der Belle Époque und des Fin de Siècle. Für eine eher analytische Sicht auf das Kaffeehaus und -literatur müssen interessierte Leser*innen allerdings anderswo zugreifen. Wer es jedoch mag, Lebenswege zu verfolgen und dabei ein dichtes Bild einer Zeit und einer sozialen Gruppe zu erhalten, dem*der sei Café Größenwahn empfohlen.

Rezension von
David Kreitz
M.A., pädagogischer Mitarbeiter für politische Erwachsenenbildung bei der HVHS Mariaspring und freiberuflicher Trainer für wissenschaftliches Schreiben.
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Es gibt 29 Rezensionen von David Kreitz.

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Zitiervorschlag
David Kreitz. Rezension vom 02.04.2024 zu: Dirk Liesemer: Café Größenwahn. 1890-1915 : als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde. Hoffmann und Campe (Hamburg) 2023. ISBN 978-3-455-01656-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31918.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.


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