Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Monique Ritter: Rassismus und Altenpflege in Ostdeutschland

Rezensiert von Dr. Julia Reimer, 17.04.2024

Cover Monique Ritter: Rassismus und Altenpflege in Ostdeutschland ISBN 978-3-8376-7063-9

Monique Ritter: Rassismus und Altenpflege in Ostdeutschland. Zum »Unbehagen« in der beruflichen Zusammenarbeit mit Migrant*innen. transcript (Bielefeld) 2024. 344 Seiten. ISBN 978-3-8376-7063-9. D: 45,00 EUR, A: 45,00 EUR, CH: 54,90 sFr.
Reihe: Postcolonial Studies - 50.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Autorin

Dr. Monique Ritter ist Vertretungsprofessorin für Gender, Diversität und soziale Ungleichheit in der Sozialen Arbeit an der Hochschule Zittau/Görlitz.

Entstehungshintergrund

Bei der Arbeit handelt es sich um die Dissertationsschrift der Autorin, die an der Technischen Universität Chemnitz promoviert hat. Ihr Forschungsinteresse entstand während ihrer praktischen Tätigkeit als Sozialarbeiterin im Dresdner Gesundheitsamt, speziell im Rahmen des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Hier lag der Fokus auf der Betreuung von Personen mit chronischen psychischen Erkrankungen und in Krisensituationen. Diese berufliche Phase fiel zeitlich mit einem starken Anstieg von geflüchteten Menschen aus dem westasiatischen Raum und einigen afrikanischen Regionen zusammen, die nach Deutschland kamen. Dies hatte Auswirkungen auf die Arbeit, indem Flüchtlinge zu wichtigen Zielgruppen der Interventionen wurden und viele von ihnen Interesse an einer Karriere in der Pflege zeigten, obwohl sie zuvor keine Erfahrung in diesem Bereich hatten. Diese Beobachtung weckte Monique Ritters Interesse an den Ursprüngen und Motivationen dieses Berufswunsches.

Aufbau und Inhalt

Die Arbeit beginnt mit einem kurzen Vorwort und einem kurzen Abschnitt, in dem verschiedene im Rahmen der Arbeit interviewte in der Altenpflege in Ostdeutschland tätige Migrant:innen zu Wort kommen. Die empirisch angelegte Arbeit besteht im Kern aus sieben Kapiteln, gefolgt von einem Literaturverzeichnis und einem Anhang, der eine Übersichtstabelle der Interviewpartner:innen enthält.

Nach einer Einleitung folgt in Kapitel zwei (Kontextualisierungen) eine kurze Einführung in den gesellschaftlich-historischen Kontext mit einem Fokus auf Migrationsprozesse nach Deutschland ab 2015, eine Einführung in den gesellschaftlichen Diskurs um den Pflegekräftemangel sowie eine Schärfung der theoretischen Analyseperspektive, die die Autorin mit der kritischen Rassismustheorie verknüpft.

In Kapitel drei (Zum forscherischen Weg: Methoden und Kritik) gibt die Autorin einen Einblick in das Forschungsdesign und die damit verbundene forscherische Haltung. Monique Ritters empirische Arbeit basiert auf der Analyse von Gesprächen mit Leitungs- und Pflegefachkräften sowie Patient:innen/zu pflegenden Personen und eigener ethnografischer Beobachtungen. Im Zentrum steht die Frage: „Wie lassen sich (alltags-)rassistische Ausschlusspraktiken im Arbeitskontext der ambulanten Pflege in der Stadt Dresden verstehen?“ (Seite 18). Die Arbeit folgt zur Bearbeitung dieser einem Vorgehen der Grounded-Theory-Methodologie und bezieht die qualitative Forschungsmethode der Situationsanalyse nach Adele Clarke ein. Dies ermöglicht, die aus unterschiedlichen Quellen gesammelten Daten in Bezug auf die spezifische soziale Situation zu analysieren, in der sie erhoben wurden. Dabei werden nicht nur individuelle Handlungen betrachtet, sondern auch die sozialen Strukturen und Kontexte, die diese Handlungen beeinflussen. Dies ermöglicht insbesondere eine Analyse und ein vertieftes Verständnis der Bedeutungsmuster, Konflikte und Machtverhältnisse innerhalb der Situation.

In den Kapiteln vier bis sechs folgt die Ergebnisdarstellung, die die Autorin wie folgt verdichtet präsentiert.

In Kapitel vier (Von Angesicht zu Angesicht mit geflüchteten Menschen – Historische Kontinuitäten eines kollektiven Ungerechtigkeitserlebens) zeigt die Autorin eindrücklich Verbindungslinien und vielschichtige Verknüpfungen zwischen rassistischen Ausschlusspraktiken im Arbeitskontext der ambulanten Pflege und „habituelle[n] Opfer-Dispositionen“ (Seite 145) von Ostdeutschen auf.

Kapitel fünf (Die Konturierung des ›Fremden‹ – Akzeptiertere und problematisierte migrantische ›Andere‹ im Alltagsdiskurs der Pflege) verdeutlicht Monique Ritter „Verflechtungen mit als rassistisch zu bewertendem Unterscheidungs- und Hierarchisierungswissen in den Aussagen der Sprecher*innen“ (Seite 147), das historische Kontinuitäten verdeutlicht.

Das Kapitel sechs (Die Argumentation und Grenzen des Sagbaren) fokussiert zunächst vor dem Hintergrund der bisherigen Analysen das sprachliche Phänomen der Einschränkung von Aussagen im Sinne „der Sprachhandlung »Ich bin eigentlich aufgeschlossen, aber…«“ (Seite 208). Im Anschluss verdeutlicht die Autorin Spannungsfelder, die sich insbesondere durch das „Beschweigen sozioökonomischer Zwänge“ (Seite 221) in der Altenpflege identifizieren lassen und zeigt auf vor welchen vielschichtigen Herausforderungen migrantische Altenpflegefachkräfte stehen, die sowohl seitens der Kolleg:innen und Kollegen, als auch seitens von Vorgesetzten und Patient:innen offenem und verdecktem Rassismus ausgesetzt sind. Besonders eindrucksvoll zeichnet dies die Autorin im Unterkapitel 6.3 nach, in dem sie die Voraussetzungen des Aufbaus von Vertrauen in der häuslichen Pflege aus Perspektive von Patient:innen nachzeichnet und analysiert.

Im abschließenden Kapitel sieben fasst die Autorin nochmals zentrale Ergebnisse zusammen und reflektiert diese, um ein tiefgreifendes Verständnis für das untersuchte komplexe soziale Phänomen „(alltags-)rassistische Ausschlusspraktiken im Arbeitskontext der ambulanten Pflege in der Stadt Dresden“ zu entwickeln und die Wechselwirkungen zwischen individuellem Handeln und sozialen Strukturen aufzuzeigen. Monique Ritter bietet den Lesenden hier auch wichtige Handlungsimpulse an, sowohl was weitere Forschung im Themengebiet als auch die Ausgestaltung von altenpflegerischen Praxiszusammenhängen angeht (Seite 281–282). Besonders eindrücklich ist ihr Plädoyer dafür, auch die strukturellen Rahmenbedingungen des Pflegesektors in den Blick zu nehmen, dessen starke ökonomische Zwänge auch Auswirkungen auf die Qualität der Tätigkeit haben und eine rassismuskritische Handlungspraxis erschweren.

Diskussion

Das gewählte forschungsmethodische Vorgehen im Sinne der Grounded-Theory-Methodologie ermöglicht Phänomen in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und verschiedene Dimensionen von Rassismus in der Altenpflege in Ostdeutschland sowie Wechselwirkungen zwischen individuellem Handeln und sozialen Strukturen zu beleuchten. Die Autorin nimmt dabei eine interessiert fragende Haltung in Bezug auf das zu untersuchende Phänomen ein und lässt eine abwägende, selbstkritische Haltung erkennen.

Was kritisch diskutiert werden kann, ist, dass das forschungsmethodische Vorgehen eher schemenhaft skizziert bleibt, was gegebenenfalls jedoch auch eine bewusste Entscheidung war, um ein breiteres Publikum anzusprechen. Hier lohnt es sich insbesondere in Kapitel drei auch den verschiedenen Fußnoten Aufmerksamkeit zu widmen.

Die Arbeit zeigt erschreckend deutlich auf, dass Rassismus in der Altenpflege durch Pflegefachkräfte und zu Pflegende in Ostdeutschland ein weit verbreitetes, aber oft unterschätztes Problem ist. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen nicht nur Einzelfälle sind, sondern strukturell in der Altenpflege verankert sein können und auch Bezüge zu Wendeerleben und der Nachwendezeit haben. Historische, gesellschaftliche und institutionelle Faktoren spielen so auch in der Analyse dieses Phänomens eine entscheidende Rolle, um rassistische Denkmuster und Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten. Die Autorin betont hier eindrücklich die Notwendigkeit eines ganzheitlichen Ansatzes zur Bekämpfung von Rassismus in der Altenpflege. Dazu gehören unter anderem Sensibilisierungsmaßnahmen für Pflegekräfte, die Förderung Diversitätskompetenz und die Schaffung von strukturellen Rahmenbedingungen, die eine diskriminierungsfreie Pflegepraxis ermöglichen.

Die Lektüre der Arbeit bereitet auch aufgrund der komplexen Fachterminologie Lesevergnügen, könnte jedoch Lesende, die weniger mit wissenschaftlicher Literatur vertraut sind, zum Teil fordern. Dennoch ist die Arbeit lohnenswert für unterschiedliche Zielgruppen. Einerseits für Forscher:innen, die sich empirisch mit Fragen von Diversität und Rassismus in pflegerischen und pädagogischen Handlungsfeldern befassen. Ebenso ist die Arbeit jedoch auch für Praktiker:innen relevant, die in verschiedenen Funktionen in der Altenpflege tätig sind, um hier professionelles Handeln in Bezug auf Diversitätssensibilität und Rassismuskritik weiterzuentwickeln.

Fazit

Die vorliegende gut strukturierte, wenngleich sprachlich anspruchsvolle empirische Arbeit liefert wertvolle Erkenntnisse über das Ausmaß und die Dimensionen von Rassismus in der Altenpflege in Ostdeutschland. Sie trägt dazu bei, das Bewusstsein für dieses wichtige Thema zu schärfen und liefert gleichzeitig Impulse für weitere Forschung und Maßnahmen zur Bekämpfung von Rassismus in der Pflegepraxis.

Rezension von
Dr. Julia Reimer
Dipl. Sozialpäd. (FH), M.A.
Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Kooperation und Transfer an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin
Mailformular

Es gibt 6 Rezensionen von Julia Reimer.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245