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Timea Semlitsch: Autismus und herausforderndes Verhalten - Lücken im System?

Rezensiert von Sabine Karliczek, 13.05.2024

Cover Timea Semlitsch: Autismus und herausforderndes Verhalten - Lücken im System? ISBN 978-3-339-13724-1

Timea Semlitsch: Autismus und herausforderndes Verhalten - Lücken im System? Verlag Dr. Kovač GmbH (Hamburg) 2024. 108 Seiten. ISBN 978-3-339-13724-1. D: 65,80 EUR, A: 67,70 EUR.
Reihe: Sonderpädagogik in Forschung und Praxis - 50.

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Thema

Das Buch widmet sich dem Umgang mit herausforderndem Verhalten in der praktischen Arbeit mit betroffenen AutistInnen, die eine komplexe Beeinträchtigung bzw. eine unterdurchschnittliche Intelligenz aufweisen. Das Buch will Antworten auf Fragen geben, die sich im Alltag für das betreuende Personal und die Familien immer wieder ergeben. Die Autorin interviewte in einer empirischen Studie PädagogInnen aus der Praxis, die die Erfahrungen in den verschiedensten Einrichtungen veranschaulichen. Dem voran stellt sie theoretische Grundlagen. Von Definitionen über die Abgrenzung von intellektuellen bzw. komplexen Beeinträchtigungen bzw. Entwicklungsstörungen bis hin zu einer stärkeorientierten Darstellung werden die einzelnen Facetten von Autismus dargestellt. In der alltäglichen Begleitung soll das Verstehen des Autismus in den Mittelpunkt rücken, Rahmenbedingungen und eigenes Verhalten überdacht werden.

Autorin

Timea Semlitsch ist ausgebildete Pädagogin, absolvierte ein Studium der Erziehungswissenschaften (mit Schwerpunkt Heil- und Sonderpädagogik bzw. Schulpädagogik) und einen Masterlehrgang für psychosoziale Beratung. Sie ist Human Resources Managerin. Zusätzlich spezialisierte sie sich auf Autismus-Therapie und ist Special Trainerin für Kinder und Jugendliche mit ADHS sowie Legasthenietrainerin.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Buch ist geprägt von den praktischen Erfahrungen der Autorin. Sie wird mit der Thematik des herausfordernden Verhaltens häufig konfrontiert. Durch Gespräche mit Eltern und PädagogInnen erlebt sie tagtäglich die Schwierigkeiten bei der Begleitung und Unterstützung. Hautnah erfährt sie die große Unsicherheit und oft auch Hilflosigkeit von Eltern und Betreuungspersonal. Sie wollte dem auf den Grund gehen, Fragen beantworten und Lösungsansätze finden. Das Buch basiert auf ihrer Masterarbeit, einer empirischen wissenschaftlichen Studie. Diese stellt das herausfordernde Verhalten von Menschen aus dem Autismus-Spektrum im institutionellen Kontext dar, untersucht Ursachen und Möglichkeiten im Umgang damit. Dem voran stellt die Autorin eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus und herausforderndes Verhalten.

Aufbau und Inhalt

Das Taschenbuch im Softcover umfasst 108 Seiten. Es besteht aus zwei Teilen, die ineinandergreifen: Theoretische Grundlagen zum Thema und die Forschungsergebnisse einer empirischen Studie im Rahmen einer Masterarbeit. Das Buch ist klar und differenziert untergliedert. Es enthält zur Veranschaulichung zwei Abbildungen sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis.

In der Einleitung stellt die Autorin ihre Intention zur Themenfindung vor. Sie geht davon aus, dass in der gegenwärtigen Forschung zum Thema Autismus Personen mit einer unterdurchschnittlichen Intelligenz bzw. in Kombination mit komplexen Beeinträchtigungen zu wenig Beachtung geschenkt wird und macht es sich zur Aufgabe, das Autismus-Spektrum in all seinen Facetten zu untersuchen. Sie will das herausfordernde Verhalten näher beleuchten und im institutionellen Kontext Angebote für eine gelungene Begleitung vorstellen. Grundlage dafür ist ihre Masterarbeit, die den zweiten Teil des Buches ausmacht.

Ausgangspunkt ihrer Ausführungen sind grundsätzliche, theoretische Grundlagen zum Thema.

Den Anfang macht ein Exkurs zur Definition von Autismus, intellektuellen und komplexen Beeinträchtigungen.

Die Autorin bezieht sich hierbei auf die Definitionen der WHO und der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie. Sie bemängelt die Defizitorientierung der Beschreibung. Das Autismus-Spektrum wird nicht genau erfasst. Eine exakte und stärkeorientierte Diagnosestellung sei notwendig, um den individuellen Bedürfnissen der AutistInnen gerecht zu werden.

Im Abschnitt Autismus-Spektrum gibt es zur Einführung einen kurzen Überblick zur Geschichte der Forschung und der Begriffsbildung. Die Autorin verweist darauf, dass heute der offizielle Begriff Autismus-Spektrum-Störung Anwendung findet, was von Betroffenen und ihren Eltern oft kritisch gesehen wird.

Es folgen Erläuterungen zu diagnostischen Kriterien.

Hier vertieft die Autorin ihre Kritik an den Definitionen und den Diagnosevorschlägen. Sie folgert u.a. daraus, dass herausforderndes Verhalten als Symptom von Autismus gesehen werden kann. Sie sieht Wahrnehmungsbesonderheiten negativ dargestellt, ohne Blick auf die Stärken. Als Fazit fordert sie, das Verhalten komplexer zu sehen, im Zusammenhang mit persönlichen Faktoren, Umwelteinflüssen usw.

Beim Thema Besonderheiten und Stärken von Autismus beginnt die Autorin, ihren stärkeorientierten Ansatz näher zu erläutern. Sie stellt die autistische Wahrnehmung nicht nur als Nachteil, sondern auch als Vorteil dar. Das Wesentliche und Besondere sei die Intensität und die Ausprägung der Wahrnehmung. Bei Überforderungen reagieren die AutistInnen oft anders als erwartet.

Man unterscheidet drei verschiedene spezielle Formen der Reaktionen: Overload, Meltdown und Shutdown. Diese Begriffe werden theoretisch erläutert und mit Beispielen veranschaulicht. Menschen aus dem Autismus-Spektrum sind fast immer und überall großer Reizüberflutung ausgesetzt. Sie sind völlig überlastet und es kommt zum Overload, die Personen wollen ausweichen, das heißt, es zeigen sich Rückzugsverhalten und Stereotypien. Dies gilt es wahrzunehmen und die Signale zu verstehen. Geschieht das nicht, kann ein Meltdown die Folge sein. Die Person gerät in Panik, schreit, wirft Gegenstände, verletzt sich selber oder andere. Ein Overload kann auch einen Shutdown auslösen, das heißt, es kommt zu völligem Abschotten. Erstarren, der Einschränkung von kognitiven Fähigkeiten. Im Vergleich zum Overload, der schnell vergehen kann, dauern ein Meltdown oder Shutdown möglicherweise Tage oder Wochen.

Zum Thema der „besonderen“ sensorischen Wahrnehmung bezieht sich Timea Semlitsch auf U. Funke, die die verschiedenen Bereiche Körperwahrnehmung, Gleichgewichtssinn, taktile, gustatorische, olfaktorische, visuelle und auditive Wahrnehmung im Hinblick auf die möglichen Reaktionen von AutistInnen erläutert und Hinweise zum Umgang damit gibt.

Als Nächstes widmet sich die Autorin den Besonderheiten in der Problemlösung, im Lernverhalten, an Interessen und im Bewegungsablauf.

Sie betont die Stärkung der Person mit ihren Spezialinteressen von außen als Notwendigkeit für den Zugang. Unterschieden werden muss auch zwischen Tics bzw. Zwangsverhalten. Es folgen Beispiele zur Erläuterung aus der Praxis.

Struktur und Routine bieten Sicherheit und sollten als positive Eigenschaften gesehen werden. Bewährte Routinen helfen, den Alltag zu meistern und sollten immer individuell betrachtet und modifiziert werden.

Besonderheiten in der Kommunikation und der sozialen Interaktion treten häufig bei frühkindlichem Autismus auf und machen den zwischenmenschlichen Austausch schwerer. Sprachliche Probleme wirken sich automatisch auch negativ auf die soziale Interaktion aus. Feinfühligkeit, Emotionalität, Detailwissen sind AutistInnen durchaus nicht abzusprechen und sollten positiv betrachtet werden.

In Ätiologie, die Ursachenforschung wird der Frage nachgegangen, ob Autismus zum Modewort geworden ist und ob die Zahl der Betroffenen wirklich ständig steigt. Seit Jahren wird nach Ursachen von Autismus geforscht, wobei man inzwischen von einem Autismus-Spektrum ausgeht. Eine klare Ursache ist nicht festzulegen, aber genetische Vulnerabilität gepaart mit Umweltfaktoren wird favorisiert und durch Zwillingsstudien untermauert. Die Verbesserung der Diagnoseverfahren und die dadurch frühzeitige Erkennung führen zu einer gesteigerten Zahl von erkannten Fällen.

Zum Schluss dieses Kapitels zur allgemeinen Einführung in das Thema Autismus, Begriffserläuterungen und Beispielen widmet sich die Autorin dem Autismus als primäre bzw. sekundäre Beeinträchtigung.

Es gibt eine Unterscheidung zwischen idiomatischem und syndromentalem Autismus. Bei letzterem geht man von komplexen Beeinträchtigungen aus.

Autismusspezifische Verhaltensmuster können auch bei schwerer kognitiver Beeinträchtigung auftreten. Eine Abgrenzung fällt oft schwer. Autismus darf nicht als Begleitsymptomatik anderer Beeinträchtigungen, wie z.B. ADHS betrachtet werden. Wissen und Verstehen von Autismus ist wichtiges Kriterium.

Im folgenden Abschnitt geht es um die Notwendigkeit einer Differenzialdiagnostik bei intellektuellen Beeinträchtigungen. Erläuterungen der verschiedenen Verfahren, deren Nachteile, Begriffsklärungen, z.B. zur kormobiden psychischen Störung, gehen den folgenden Kapiteln zum Verständnis voraus. Die besondere Bedeutung der Kombination der intelligenten Beeinträchtigung mit Autismus, gerade im Hinblick auf herausforderndes Verhalten, gilt der Autorin als Grundlage ihrer Sichtweise.

Autismus-Spektrum und komplexe Beeinträchtigungen bzw. kormobide Störungen werden als Nächstes behandelt.

Autismus und intellektuelle Beeinträchtigungen werden vergleichend gegenübergestellt, die Notwendigkeit der Priorisierung des Autismus betont und dadurch eine Diagnose in positiver Betrachtungsweise möglich. Es folgen Beispiele dazu.

Bei Autismus und Sinnesbehinderungen ist eine differenzierte Diagnostik relativ schwierig. Dazu gibt es einige Beispiele.

Eine der häufigsten Kombinationen ist die von Autismus und Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS). Oft wird zuerst ADHS erkannt und erst später Autismus, häufig beides. Es bedarf des genauen Hinschauens und einer genauen, individuellen Betrachtungsweise. Beide Syndrome führen häufig zu herausforderndem Verhalten.

Beim Vergleich Autismus und andere komorbide Störungen werden Angst- und Schlafstörungen bei AutistInnen als ein häufig auftretendes Charakteristikum dargestellt. Hohe Stressbelastung kann vermehrt zu psychischen Störungsbildern führen und sich in depressiven Symptomen äußern.

Ein neues, umfassendes Kapitel widmet sich dem herausfordernden Verhalten. Zunächst geht es der Autorin darum, anhand von Beispielen der Frage nachzugehen, was entspricht der Norm, was nicht. Es gibt ganz unterschiedliche Definitionen und Benennungen für herausforderndes Verhalten. Für wen ist es herausfordernd? Was steckt hinter dem jeweiligen Verhalten? Wie kann ich die Situation schnell auflösen? Man geht der Ursache nicht auf den Grund, sondern will die daraus erfolgenden Reaktionen schnell mindern.

Die Autorin bezieht sich auf fünf Bereiche, in denen Änderungen nötig sind. (eigenes Verhalten verändern, bestehende Motivation, Vermeidung der Reaktion auslösenden Situation, gefährliche Verhaltensweisen verändern, andere auch akzeptieren).

Die Betonung liegt allgemein darauf, bestimmte Verhaltensweisen, die eine Funktion haben, auch zuzulassen, die Ursachen zu erkennen und präventiv zu arbeiten. Schuldzuweisungen, z.B. an Eltern, sind kontraproduktiv. Es müssen gemeinsame Lösungsansätze gefunden werden.

Die Autorin vergleicht auch das herausfordernde Verhalten von AutistInnen mit dem von Personen mit psychischen Problemen. Sie sieht, dass in den letzten Jahren Umdenkprozesse angelaufen sind. Die Sicht nicht nur auf das Negative, gerade Sichtbare zu legen, sondern komplex die Person und ihre Umwelt zu sehen, rückt mehr in den Fokus von Wissenschaft und Praxis.

Zum Verständnis folgen noch Definitionen zu fremdverletzendem, selbstverletzendem und sachbeschädigendem Verhalten.

Um das Thema zu vertiefen, geht Timea Semlitsch dann auf das Erscheinungsbild des herausfordernden Verhaltens ein. Studien belegen, dass dieses Verhalten bei Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung häufiger auftritt. Sie erklärt, worin ihrer Meinung nach die Ursachen für das Verhalten zu suchen sind. Es ist wichtig zu unterscheiden zwischen autistischen Merkmalen, autistischem Verhalten und zusätzlichen herausfordernden Verhaltensweisen. Oft sind äußere Bedingungen die Ursache. Verständnis und Hinterfragung der konkreten Situation können dem entgegenwirken. Einige Beispiele veranschaulichen diesen Ansatz. Drei wesentliche Faktoren werden benannt, die zu herausforderndem Verhalten führen können (Einschränkung in Kommunikation, Kognition, emotionaler Selbstregulation; unsichere Beziehungen, unzureichende Abstimmung auf Bedürfnisse; unzureichende Gelegenheiten zur sozialen Partizipation). Schlussfolgerung der Autorin ist, wenn man Herausforderungen nicht gewachsen ist, kann man möglicherweise sein Handeln nicht steuern. Es wird nicht bewusst geärgert und provoziert. Das Begleitpersonal sollte Alternativen anbieten, um Situationen zu entschärfen oder überhaupt zu vermeiden. AutistInnen mögen z.B. häufig keine Berührung, haben kein Zeitgefühl. Planänderungen erzeugen Stress. Es folgen Beispiele und Ansätze zur Veränderung.

Aus der Erfahrung heraus betont die Autorin, dass die betroffenen Personennach der Schulzeit, wo es oft wenig Förderung oder Begleitung, kein Erlernen sozialer Kompetenzen gab, in der Regel Einrichtungen der Behindertenhilfe besuchen, meist in großen Gruppen. Erwartungen können nicht erfüllt werden. Es kommt zu Überforderung. Das Ergebnis ist oft der Rückzug nach Hause oder eine Unterbringung in der Psychiatrie. Die Einrichtungen haben kaum spezielle pädagogische und therapeutische Konzepte. Der Übergang von der Schule ist nicht organisiert. Es gibt keine ausreichende Planung, keinen Austausch. Drei konkrete Beispiele verdeutlichen die Argumente.

Im nachfolgenden Kapitel wird es nun konkreter und lebensnah. Praktische Methoden für den Alltag werden vorgestellt.

Zuerst geht es um den TEACCH-Ansatz und das Eisberg-Modell. Vor allem Anne Häußler steht für diesen Ansatz der sicherheitsgebenden Strukturierung und Visualisierung. Fünf Phasen im Umgang mit herausforderndem Verhalten sind dabei wichtig: Beobachten und verstehen; direkte Reaktion, Deeskalation; Suche nach versteckten Auslösern; nicht sichtbare Ursachen erkennen und präventiv arbeiten; Datenanalyse, Dokumentation, Reflexion.

Die positive Verhaltensunterstützung (PVU) basiert auf dem Verständnis, herausforderndes Verhalten als Ausdruck gestörter Individuum-Umwelt-Verhältnisse zu sehen. Aus Skandinavien stammt das Normalisierungsprinzip, das auf dem Konzept der Enthospitalisierung aufbaut. Probleme werden individuell betrachtet, Veränderungen der Person berücksichtigt. Der Gesamtkontext wird am Ende des Kapitels in einem Diagramm veranschaulicht.

Die Zusammenfassung weist noch auf viele andere Methoden und Ansätze hin. Die Quintessenz ist: Es geht immer darum, die Person nicht den Gegebenheiten „anzupassen“, sondern das Umfeld so zu gestalten, dass alle gleichwertig am Leben teilhaben können. Es wird keinen Erfolg geben, wenn grundlegende Bedürfnisse nicht beachtet werden.

Nach diesem eher allgemeinen theoretischen Exkurs folgt nun eine konkrete praktische Bestandsaufnahme.

Forschungsergebnisse

Zugrunde liegt hier die Masterarbeit der Autorin, die sich anhand einer qualitativen Forschungsmethode folgenden Fragen widmet: Welches herausfordernde Verhalten zeigen Menschen aus dem Autismus-Spektrum im institutionellen Kontext und was sind die Gründe derart auffälliger Verhaltensweisen aus Sicht der BegleiterInnen? Wie sollte eine adäquate Begleitung nach der Schulpflicht für Menschen mit Autismus-Spektrum und komplexen Beeinträchtigungen bzw. herausforderndem Verhalten aussehen?

In der Querschnittstudie wurden teilnarrative Leitfadeninterviews geführt zur Zustands-bzw. Prozessbeschreibung. Die Teilnahme der Befragten, die regelmäßig mit AutistInnen mit intellektuellen bzw. komplexen Beeinträchtigungen arbeiten, war freiwillig und anonym. Die Antworten wurden mit Tonband aufgezeichnet und die Ergebnisse im Wortlaut wiedergegeben.

Bei der Frage nach der Darstellung des herausfordernden Verhaltens waren die Aussagen sehr emotional und detailliert. Häufig genannt wurden: auf Dächer klettern, in fremde Häuser eindringen, langanhaltendes Lautieren, Schreien, uneingeschränktes Verlangen nach Essen, unkontrolliertes Trinken, alles in den Mund nehmen, gefährliche Situationen).

Die Angst, verletzt zu werden, wird als allgegenwärtig geschildert. Aber auch das Gefühl der bewussten Provokation wurde genannt.

Bei dem Punkt, welche Maßnahmen ergriffen werden und wie der Umgang mit den Personen aussieht, gab es viele Ideen und schon umgesetzte Verhaltensweisen, z.B. die Person aus der Situation rausholen, Atemübungen machen, einen Ruheraum oder ein Entspannungsbad nutzen. Die Betroffenen sollte man nicht allein lassen und mit beruhigenden Worten deeskalierend einwirken. Ein körperlicher Einsatz wurde als absolute Deeskalationsmaßnahme genannt.

Die Autorin stellte bei der Auswertung fest, dass präventive Maßnahmen selten angewandt werden. Es fehlt oft an Fachwissen zum Thema Autismus. Es gibt keine Fallanalysen oder einen ständigen Austausch unter den KollegInnen. Die Begleitung wechselte häufig. Das Gefühl von Angst, Ohnmacht und Überforderung spielte bei den Interviews eine sehr große Rolle.

Als Ursachen für das Verhalten wurden äußere Einflüsse, fehlendes Wissen zum Thema, die familiäre Situation und die oft schwierige Zusammenarbeit mit den Eltern und (fehlender) Einsatz von Medikamenten genannt. Oft konnten auch keine Auslöser benannt werden.

Pädagogische und therapeutische Ansätze werden wenig genutzt. Fortbildungen wie zum TEACCH-Ansatz werden zwar besucht, aber dann nicht in der Praxis umgesetzt.

Viele der betroffenen Personen besuchen aufgrund ihres Verhaltens gar keine Einrichtung und werden zu Hause betreut. Die Suche nach einem Platz gestaltet sich schwierig. Die Argumente der Ablehnung sind vielfältig (Sicherheitsbedenken, kein Personal, volle Gruppen) und stellen die Eltern oft vor fast unüberbrückbare Probleme. Von den Befragten wurden viele Lösungsvorschläge für eine bessere oder ideale Begleitung benannt. Wichtig sei eine Änderung der Rahmenbedingungen (Gruppengröße, Betreuungsschlüssel). Es bedarf besserer Schulungen und mehr Augenmerk auf die Psychohygiene. Kleinere Gruppen mit maximal 4 Personen, ein Betreuungsschlüssel von 1:1 oder 2:1 und kleinere Räume wären wünschenswert. Allerdings werden die realistischen Möglichkeiten der Umsetzung der Ideen sehr kritisch gesehen und auf absehbare Zeit nicht zu verwirklichen sein.

Diskussion der Ergebnisse

Zusammenfassend kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass das negative Verhalten des Betreuungspersonals im Mittelpunkt steht. Viele störende Aspekte werden als Auslöser gesehen, die oft nicht verstanden werden. Die besondere Wahrnehmung, der positive Ansatz sind wenig zu sehen. Die verhältnismäßig vielen Schulungen machen sich kaum bemerkbar. Es ist wenig Lust und Engagement zu spüren, das Wissen zu vertiefen und praktisch anzuwenden.

Schuldzuweisungen von Seiten des Personals gegenüber den Eltern sind kontraproduktiv und tragen nicht zur Problemlösung bei. Insgesamt ist aus der Umfrage zu sehen, dass es viele Zweifel und Ängste gibt, die den Umgang mit AutistInnen und ihr herausforderndes Verhalten erschweren und ein Umdenken erforderlich machen.

Fazit des Buches

Schlussendlich kommt die Autorin zu der Erkenntnis, dass es kein allgemeingültiges Rezept oder eine einzige Lösung zur Verbesserung der Lage gibt. Es gilt, viel mehr als nur die äußeren Bedingungen zu ändern. Es muss ein Umdenken geben. Mehr methodisches Wissen ist erforderlich, vor allem eine verstehende Sicht, die Person im Mittelpunkt zu sehen, ihre Lebensgeschichte zu kennen und zu bedenken, die Bereitschaft, AutistInnen mit all ihren Besonderheiten, Stärken und Schwächen anzunehmen als Teil der Gesellschaft. Autismus ist vielfältig, viele Aspekte im Alltag werden anders wahrgenommen. Die Autorin betont nochmals, dass AutistInnen unser Leben bereichern.

Diskussion

Bereits der Titel ist außergewöhnlich und macht neugierig auf den Inhalt. Lücken im System? Was soll das bedeuten?

Das vorliegende Buch reiht sich ein in die immer umfassendere Literatur zum Thema Autismus und herausforderndes Verhalten.

Gerade aus der Praxis kommen immer wieder Anfragen zum Umgang damit. Die Autorin hat eine empirische Studie im Rahmen einer Befragung von PädagogInnen durchgeführt. Sie sucht und findet Antworten auf viele der gestellten Fragen. Sie fordert in erster Linie eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus und herausforderndes Verhalten. Das erscheint einleuchtend, ist aber noch lange kein Standard. Hervorzuheben ist, dass man der Autorin anmerkt, dass sie aus der Praxis kommt. Sie weiß genau, worum es geht. Durchgehend und stets sehr engagiert und wertschätzend fordert sie eine positive Sicht auf den Autismus. Ihr Zugang, dass jeder Mensch mit Autismus einmalig ist, mit individuellen Stärken, Herausforderungen und Besonderheiten, ist in jeder Zeile spürbar. Eine stärkeorientierte Darstellung betont die verschiedensten Facetten. Timea Semlitsch erklärt anschaulich, dass nur durch das Verstehen bestimmter Reaktionen und Verhaltensweisen richtig und angemessen reagiert werden kann. Besonders ist der Aufbau ihres Buches. Vor ihre durchgeführte Studie stellt die Autorin einen Teil, der sich mit Autismus allgemein, dem herausfordernden Verhalten von komplex betroffenen AutistInnen im Besonderen widmet. Gerade hier erkennt man die Sicht der Autorin, herausforderndes Verhalten nicht mehr als Symptom von Autismus zu sehen, sondern die äußeren Rahmenbedingungen, äußeren Herausforderungen, den Umgang zu bedenken. Das klingt sehr logisch. Ist aber scheinbar in der Praxis nicht so geläufig. Das Buch bietet sich an für Menschen, die tagtäglich in der Praxis mit Konflikten zu tun haben, ja oftmals mutlos werden, resignieren oder aufgeben. Ein besseres Miteinander fordert den Einsatz der Betreuenden, ihr Engagement, ihre Zuwendung. Beispiele ergänzen die im Buch gemachten Aussagen und geben Mut, etwas zu tun, sich einzubringen. Ich sehe die angesprochenen Themen auch als Diskussionsgrundlage in institutionellen Einrichtungen. Wie in der Überschrift als Frage formuliert wird: Gibt es Lücken im System? Gibt es sie, und wenn ja, wie gehen wir damit um, wie können sie geschlossen werden, was können wir besser machen? Ich finde das Buch wichtig, um das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Autismus zu dem zu machen, was es verdient – normaler.

Fazit

Die Autorin fordert vor allem eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema Autismus. Eine stärkeorientierte Herangehensweise, das Verstehen rückt in den Mittelpunkt. Die Autorin will Unterstützung und Denkanstöße für Menschen geben, die tagtäglich in der Praxis mit herausforderndem Verhalten konfrontiert werden. Es ist ein Buch, das längst in seiner Eindringlichkeit überfällig war.

Rezension von
Sabine Karliczek
Sprachmittlerin und Heilerziehungspflegerin
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Es gibt 3 Rezensionen von Sabine Karliczek.

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ISSN 2190-9245