Heiko Schrader: Sozialer Wandel
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Biedinger, 03.09.2024
Heiko Schrader: Sozialer Wandel.
transcript
(Bielefeld) 2024.
264 Seiten.
ISBN 978-3-8252-6238-9.
D: 25,00 EUR,
A: 25,70 EUR,
CH: 32,50 sFr.
Reihe: Einsichten. Themen der Soziologie.
Thema
Heiko Schrader setzt sich in seinem Werk aus der Reihe „Einsichten in die Soziologie“ (utb.) mit dem Thema des Sozialen Wandels auseinander. Die Basis hierzu ist seine Vorlesung „Sozialer Wandel, Modernisierung und Transformation: die sozialwissenschaftliche Weltperspektive“, die er von 1999 bis 2023 an der Otto von Guericke-Universität Magdeburg für Studierende gehalten hat. Der Umfang wurde für die Monografie etwas erweitert, sodass sein Werk sowohl an Fachinteressierte als auch an Studierende gerichtet ist.
Den Ausgangspunkt der Monografie bilden soziologische Klassiker der Modernisierungstheorien, die zu Beginn eher die eurozentrische Sichtweise darstellen. Im Verlauf des Buches werden jedoch auch neuere Modernisierungstheorien berücksichtigt, bis hin zu poststrukturalistischen und Post-Development-Ansätzen.
Autor
Heiko Schrader ist emeritierter Soziologie-Professor an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Promoviert und habilitiert hat er an der Universität Bielefeld. Im Laufe seiner Karriere war er u.a. Professor für Wirtschaftsanthropologie an der Staatlichen Universität St. Petersburg, hatte verschiedene internationale Fellowships und betrieb Feldforschung in zahlreichen Staaten (z.B. Nepal, Indien, Kasachstan). Gerade bei den neueren theoretischen Ansätzen fließt einiges aus dieser Auslandserfahrung mit in das vorliegende Werk ein.
Aufbau und Inhalt
Das Einführungsbuch „Sozialer Wandel“ von Heiko Schrader gliedert sich in neun Hauptkapitel (Nummerierung wurde von der Rezensentin erstellt):
- Die Zeitstruktur der Moderne und der Blick auf Fremdkulturen
- Der soziale Evolutionismus: Comte, Spencer, Morgan und der Neoevolutionsmus
- Karl Marx und der Historische Materialismus
- Weitere Klassiker der Modernisierungsidee: Simmel, Durkheim, Weber
- Modernisierungstheorie
- Kolonialismuskritik und neomarxistische Ansätze
- Neue Theorien der Modernisierung
- Modernisierung als Fremdverhältnis aus der Perspektive postkolonialer und postsozialistischer Gesellschaft
- Heutige Tendenzen in der Entwicklungssoziologie und der Post-Kolonialismusdebatte
Zunächst wird auf die Zeitstruktur und damit einhergehenden Entwicklungsprozessen in einem noch stark einleitenden Kapitel Bezug genommen. Dabei wird nicht nur der Fokus auf Gesellschaften, sondern auch auf die Bedeutung des Gesellschaftsvergleichs gelegt. Es wird auf grundsätzliche Entwicklungen wie Rassenkunde, soziale Evolution und Eurozentrismus eingegangen, die jeweils auch in späteren Kapiteln immer wieder aufgegriffen werden.
Stärker inhaltlich beschäftigt sich das zweite Kapitel dann mit dem sozialen Evolutionismus. Exemplarisch wird hier auch auf die sozial-evolutionistische Stufentheorie eingegangen. Diese leitet dann auf neuere neoevolutionistischen Theorien des Wandels (z.B. nach Leslie White) hin.
Im nächsten Kapitel steht Karl Marx und sein Blick auf den Sozialen Wandel im Vordergrund. Der Fokus liegt auf dem historischen Materialismus, der sowohl definiert wird, aber auch beispielsweise zu anderen Klassikern wie beispielsweise zu Hegel in Kontrast gesetzt wird. Daher beschäftigt sich das Kapitel auch mit Wirtschaftstheorien und -formen, aber auch mit Themen der sozialen Ungleichheit.
Das vierte Kapitel beschäftigt sich auf über 40 Seiten mit vor allem drei Klassikern der Modernisierungsidee. Dabei wird auf die rollentheoretische Betrachtung nach Georg Simmel und Emil Durkheims Differenzierungstheorie noch eher knapp eingegangen. Den Schwerpunkt bilden Max Webers kulturvergleichenden Überlegungen. Neben den Gesellschaftstypen nach Durkheim wird dann vor allem der Fokus auf den Rationalismus und Herrschaft gelegt, bevor dann Webers Protestantische Ethik und dem Geist des Kapitalismus in den Blick genommen wird. Ein besonders Gewicht legt Schrader auf Webers Religionssoziologie mit Blick auf asiatische Religionen und ihre Ethiken. Abschließend stellt der Autor die Blickwinkel vor allem von Marx und Weber gegenüber und verweist auf klare Gemeinsamkeiten bei der Dichotomisierung von Orient und Okzident, aber auch auf Unterschiede bezüglich der Nützlichkeit des Kapitalismus.
Auch das nächste Kapitel zu den Modernisierungstheorien orientiert sich an klassischen Ansätzen. Zunächst wird auf Parsons strukturfunktionalistische Sichtweise eingegangen. Gefolgt von Eisenstadts neoevolutionistischen Konzepts bis hin zur Frankfurter Schule und zur Kritischen Theorie. Danach geht der Autor auf neuere Blickwickel ein, in dem auf die Modernisierungstheorien für Entwicklungsländer eingegangen wird. Hierbei geht es dann um Ansätze der Entwicklungshilfe und Armut, sowie um die Studien von wirtschaftlicher Entwicklung (z.B. nach Rostow).
Daran schließt sich direkt das Kapitel zur Kolonialismuskritik und neomarxistischen Ansätzen an. Zunächst werden die Begrifflichkeiten vorgestellt und verschiedene Kolonietypen und koloniale Praxen beschrieben. Bevor es dann vor allem um die Dependenztheorie geht, die auf kapitalistische Überlegungen bezogen wird, aber auch kritische Anmerkungen zur Dependenztheorie werden angeführt. Daraus leitet sich schließlich die Weltsystemtheorie, die Wallerstein in typischen Geschichtsphasen darstellt, ab. Abschließend geht Schrader selbst auf vier zentrale Blickwinkel ein, die bei allen vorgestellten Ansätzen im Blick behalten werden sollte, nämlich Globalisierung, Weltgesellschaft, Landnahmen und Finanzkapitalismus.
Im nächsten Kapitel werden explizit neuere Theorien der Modernisierung in den Blick genommen. Die Gliederung orientiert sich hierbei an Kößler/Schiel, sodass nacheinander die privatkapitalistischen, post-kolonialen und postsozialistischen Gesellschaften im Hinblick auf den Modernisierungsdiskurs vorgestellt werden. Es werden u.a. die Kulturtheorie nach Soeffner, aber auch andere wichtige Theoretiker wie z.B. Anthony Giddens, Ulrich Beck oder auch Niklas Luhman in den Blick genommen. Besonders Ulrich Beck mit der Unterscheidung zwischen Erst und Zweiter Moderne und seinem Ansatz zur Weltrisikogesellschaft wird ausführlicher vorgestellt und diskutiert. Bevor dann der Übergang zur Wachstumsgesellschaft vollzogen wird, der dann auch neuere Überlegungen z.B. zu Themen der Nachhaltigkeit, angepasste Technologien mit einbindet. Abgeschlossen wird das Kapitel mit kurzen Einblicken in soziologische Zeitdiagnosen, nämlich Erlebnisgesellschaft, Resonanz und Singularitäten.
Im nächsten Kapitel steht dann das Fremdverhältnis aus der Perspektive von postkolonialer und postsozialistischer Gesellschaften im Vordergrund. Diese Gegenüberstellung beschäftigt sich mit der Dekolonisierung und der damit verbundenen Wertedebatte. Dies wird dann auf die multiplen Modernitäten nach Eisenstadt weitergeführt, bevor es dann zu konkreten Ansätzen weiterer Kulturkreise führt. Hier wird vor allem die Modernisierung in der muslimischen Welt und das neue Selbstbewusstsein der asiatischen Welt thematisiert. Bevor es dann zu Thema der Transformation bzw. Transition des postsowjetischen Raum kommt.
Den Abschluss bilden dann Tendenzen in der Entwicklungssoziologie. Gerade in diesem Kapitel wird nochmals auf die Begrifflichkeit der Modernisierung eingegangen und dass man sich davon seit den 90er Jahren verabschiedet hat. Die starke Kritik gegen den Eurozentrismus, Orientalismus und gegen eine homogenisierte westliche Kultur wird dargestellt, ebenso wie den entwicklungspolitischen Hintergrund. Hierbei werden auch die Entwicklungsstaaten und der globale Süden in den Blick genommen.
Diskussion
Das Werk widmet sich einem soziologischen Hauptthema, nämlich dem Sozialen Wandel. Die Lektüre zeigt, dass Heiko Schrader über ein sehr breites Wissen zum Thema verfügt und die zahlreichen Verweise auf Ansätze, Denkstrukturen oder Kritiken bestätigen zusätzlich die umfassende Expertise des Autors. Besonders hervorzuheben ist der wichtige Versuch nicht nur in den klassischen Ansätzen zu denken, sondern auch gerade die neueren Entwicklungen und Diskurse mit aufzunehmen.
Ziel der Reihe „Einsichten“ ist es, aus meiner Perspektive vor allem auch fachfremde, aber interessierte Leser*innen mitzunehmen und in eine Fachdiskussion einzuführen. Eine völlig fachfremde Person hat bei dieser Arbeit sicherlich stark zu kämpfen, da oft, dem umfassenden Thema geschuldet, nicht alles erklärt oder ausführlich dargestellt werden kann. Dies ist vor allem dem großen Thema geschuldet, hätte jedoch ggf. auch durch eine stärkere Strukturierung vereinfacht werden können. Die in der Reihe üblichen Schlagworte am Rand helfen dabei nicht immer zielgerichtet weiter. Für vorwissende Leser*innen stellt dies sicherlich weniger ein Problem dar und eröffnet dann sogar die Möglichkeit neue Ansätze zu entdecken oder andere Sichtweisen wahrzunehmen. Ich würde mich selbst eher dieser Leserschaft zuordnen und hätte mir dann an manchen Passagen noch etwas genauere Quellenangaben gewünscht.
Insgesamt ist es ein spannendes soziologisches Werk, das sich u.a. aufgrund des komplexen Themas nicht einfach liest, aber viele spannende Fachdiskurse und Kontroversen aufgreift.
Fazit
Heiko Schrader widmet sich dem Thema des Sozialen Wandels zunächst mit Rückgriff auf die klassischen Theorien der Modernisierung, bevor er dann exemplarisch neuere Modernisierungstheorien anführt und schließlich auf den Entwicklungsbegriff hinleitet. Das Werk besticht vor allem durch den Einbezug von neueren Theorien und kann somit Leser*innen mit schon etwas Vorwissen spannende Einblicke liefern.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Biedinger
Empirische Sozialforschung und Soziologie
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Es gibt 3 Rezensionen von Nicole Biedinger.
Zitiervorschlag
Nicole Biedinger. Rezension vom 03.09.2024 zu:
Heiko Schrader: Sozialer Wandel. transcript
(Bielefeld) 2024.
ISBN 978-3-8252-6238-9.
Reihe: Einsichten. Themen der Soziologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31927.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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