Nicole von Langsdorff: Das Gruppenklima in der Heimerziehung
Rezensiert von Christian Busch, 18.11.2024
Nicole von Langsdorff: Das Gruppenklima in der Heimerziehung. Eine empirische Untersuchung in Nord- und Mittelhessen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
143 Seiten.
ISBN 978-3-8474-3032-2.
D: 26,00 EUR,
A: 26,80 EUR.
Reihe: Qualitative Fall- und Prozessanalysen. - 26.
Entstehungshintergrund und Thema
Die vorliegende Untersuchung von Prof. Dr. phil. Nicole von Langsdorff aus dem Jahre 2024 nimmt mit dem Gruppenklima in der Heimerziehung eine Thematik in den Blick, die bisher nur wenig Raum in den Fachdiskursen erhielt (vgl. S. 9). Sowohl aus der subjektiven Erfahrung der Autorin heraus als auch auf der Grundlage von Forschungsstudien von Sierwald und Strobel-Dümer (2012 zit. n. ebd., S. 11) und von von Heynen et. al. (2014 zit. n. ebd. S. 13) rückt von Langsdorff das Gruppenklima als ein Phänomen in den Vordergrund, das die Wahrnehmung und das Wohlfühlen von Betreuten in einer Wohngruppe beeinflussen. Erst recht müsse das Wissen darüber über die subjektiven Deutungen und Interpretationen der Adressaten_innen generiert werden, die die Wohngruppen zumeist als Wohlfühlort bei gleichzeitiger Problembewältigung beschreiben. Herausfordernd stelle sich zudem die Tatsache dar, dass es nach wie vor zu Stereotypisierungen in der Heimerziehung kommt, was die Kommunikation und Äußerungsmöglichkeiten der Adressaten_innen beeinflusst. Gleichzeitig entstehen Spannungsfelder zwischen sozialpädagogischer, alltäglicher Arbeit und gesellschaftlichem Diskurs, was die Perspektive der Adressaten_innen essentiell für das Verstehen des Gruppenklimas macht (vgl. 7–8).
Autorin
Frau Prof. Dr. phil. Nicole von Langsdorff ist Professorin für Theorien und Methoden Sozialer Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt. Schwerpunkte ihrer wissenschaftlichen Arbeit sind unter anderem im Bereich der stationären Erziehungshilfen, Migration und Intersektionalität anzusiedeln. Sie promovierte im Jahre 2012 in den Erziehungswissenschaften und sammelte zuvor über mehrere Jahre Praxiserfahrungen als Sozialpädagogin.
Aufbau und Inhalt
Die Publikation folgt einem stringenten Aufbau, der die notwendigen Inhalte einer Forschungsstudie darlegt. Ergänzt wird er um konkrete Handlungsperspektiven, die Maßnahmen zur Verbesserung des Gruppenklimas (vgl. S. 119–135) vorschlagen.
Vorwort
Im Vorwort (vgl. S. 7–8) erläutert die Autorin ausführlich die Entstehungshintergründe der Forschungsthematik. Sie nimmt Bezug auf den aktuellen gesellschaftlichen Diskurs, der die Heimerziehung häufig stereotypisiere und damit Einfluss auf die Wahrnehmung der Adressaten_innen ausübt. Zur Erweiterung der Perspektive werden Gruppenstrukturen und -dynamiken beleuchtet, damit die Heimerziehung insgesamt differenzierter dargestellt werden könne.
1. Einleitung
In der Einleitung (vgl. S. 9–10) deutet von Langsdorff bereits an, dass eine Qualitätsverbesserung der stationären Erziehungshilfen durch ein positiveres Gruppenklima erzielt werden könne. Der Einbezug der Adressaten_innenperspektive sei dafür basal und bildet den Ausgangspunkt der hiesigen Forschungsstudie. Unmittelbar anschließend formuliert sie die Forschungsfrage, mit der sie untersucht, welche Aspekte Teil des Gruppenklimas seien und wie es verbessert werden kann. Den Lösungsweg beschreibt sie anhand der Gliederung des Buches.
2. Stand der Forschung
Im ersten Kapitel (vgl. S. 11–23) zieht von Langsdorff zwei Studien heran, die einen Überblick zum Begriff des Gruppenklimas geben. In beiden Publikationen wurde der Begriff vor dem Hintergrund anderer institutioneller Rahmenbedingungen entwickelt, er zeige jedoch die Relevanz für die subjektive Wahrnehmung in Gruppenzusammenhängen. So nehmen Sierwald und Stromel-Düber (2012 zit. n. ebd., S. 11) in ihrer Studie vermehrt die Perspektive der in einem SOS Kinderdorf e.V. praktisch tätigen Fachkräfte auf und definieren den Begriff des Gruppenklimas. Von Heynen et. al. (2014 zit. n. ebd., S. 13) geben hingegen Aufschluss über Effekte und Zusammenhänge zwischen dem individuellen Erleben und dem Gruppenklima in einer Jugendstrafanstalt in den Niederlanden. Des Weiteren erläutert die Autorin rechtliche Rahmenbedingungen der Heimerziehung (vgl. S. 16 f.) und gibt einen kurzen Überblick über aktuelle Forschungsstudien (vgl. S. 17–22), die Merkmale, Problematiken und Wirkungen in den Blick nehmen.
3. Theoretische Einbettung
Zunächst erfolgt die Begriffsbestimmung von „Gruppen“ und „Gruppendynamiken“. So werden abstraktere Definitions- und Unterscheidungsmöglichkeiten vorgestellt, die vom Kontext der Heimerziehung gelöst werden (vgl. S. 23–26). Erst im nächsten Schritt findet eine Untersuchung der Rahmenbedingungen von Wohngruppen statt, von dem aus Gruppenstrukturen und Machtverhältnisse erläutert werden (vgl. S. 26–29). Miteinbezogen werden Elemente der Strukturationstheorie nach Giddens (1988 zit. n. ebd., S. 28) und Elias (1986 zit. n. ebd.) sowie dessen Weiterentwicklung für die Heimerziehung nach Klaus Wolf (2010 zit. n. ebd.). Nach von Langsdorff gestalten diese Prozesse Gruppenklimata.
4. Untersuchungsdesign
Die Datenerhebung erfolgte von 2018–2019 in Einrichtungen der stationären Heimerziehung in Nord- und Mittelhessen (vgl. S. 31–33). Die vorherrschende Diversität der Wohngruppenkonzepte nach z.B. Alter, pädagogischem Ansatz, Geschlechterstruktur werden im Sampling widergespiegelt. Die befragten Kinder und Jugendlichen wohnten in Einrichtungen von Freien Trägern, die in den Merkmalen der Zielstellung (z.B. Herstellung von Autonomie, Partizipation, gesellschaftliche Teilhabe) oder der Tagesstrukturierung kongruierten (vgl. S. 33 f.). Untersucht wurden die Aussagen von 34 Kindern und Jugendlichen im Alter von 6–21 Jahren durch Einzelinterviews. Diese wurden mithilfe eines offenen Leitfadens und eines ergänzenden Fragebogen erzählgenerierend durchgeführt (vgl. S. 31 f.). Ziel war die Rekonstruktion ihrer Deutungs- und Interpretationsmuster durch die Dokumentarische Methode nach Arndt-Michael Nohl (2017 zit. n. ebd. 35).
5. Gruppenklima in der Heimerziehung
Im fünften Kapitel (vgl. S. 39–97) wird eine Beschreibung von stark kontrastierenden Fällen in Form von verschiedenen Typen vorgenommen. Sie beleuchten, welche Erfahrungen und Deutungen in der Anfangsphase gemacht wurden und beschreiben, welche Gruppenklimata mit welchen Faktoren den weiteren Verlauf bestimmen. Der „Typus A“ beschreibt die Wohngruppe als neues Zuhause, indem sich Befragte nach kurzer Anfangsphase eingewöhnt haben und neue Freunde fanden. Es finde eine geringe Differenzierung zwischen der neuen Wohngruppe und der Herkunftsfamilie statt, ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht (vgl. S. 40–53). Der „Typus B“ ist dadurch gekennzeichnet, das ein oppositionelles Verhalten gegenüber den Betreuern und Regeln entstehe. Im Gegenzug werde eine Bindung zu den Mitbewohnern hergestellt. Aufgrund vorherrschender Regeln und mangelhafter Kommunikation komme es zu einer Verhärtung der Fronten (vgl. S. 53–73). Der „Typus C“ verstehe die Wohngruppe als funktionaler Arbeitsort, indem die Notwendigkeit der Unterbringung erkannt wird, jedoch keine emotionale Involvierung stattfindet. Es seien selten starke Beziehungen zu Mitbewohnern oder Betreuer erkennbar, es findet eine Orientierung nach Außen statt. Zur Herkunftsfamilie bestehe ein gutes Verhältnis (vgl. S. 73–83). Beim „Typus D“ werde von Beginn an ein schlechter Zugang zur WG deutlich. Die Befragten können sich nicht auf die Strukturen und Regeln einlassen und empfinden daher großes Misstrauen. Eine Bindung könne nicht aufgebaut werden und stereotype Familienbilder werden idealisiert (vgl. S. 83–97).
6. Theoretisierung
In diesem Kapitel (vgl. S. 97–119) werden die Ergebnisse stärker verallgemeinert, eine Theoretisierung findet losgelöst vom Einzelfall statt. Die Untersuchungen machten deutlich, dass die individuelle Lebenswelt vorwiegend für den Hilfeverlauf ausschlaggebend sei, Gruppeninterventionen jedoch große Wirkungen entfalten können. Zudem habe die Anfangs- und Eingewöhnungsphase den größten Stellenwert (vgl. 97 f.). Die theoretische Einbettung wird in vier Ebenen vollzogen (vgl. S. 98–119): individuelle Unterstützung, Beiträge zur Weiterentwicklung und Selbstständigkeit, Regeln und Sanktionen, allgemeines Klima und Atmosphäre. Die Ebenen sind ähnlich, wie im Rahmen von qualitativen Analysen, als Kategorien zu verstehen. Diesen werden in der Studie Aussagen und Deutung der Befragten zugeordnet und eine weitere Untergliederung findet statt. Der theoretische Rahmen wird hergestellt, indem die einzelnen Aussagen und zusammengefassten Untergliederungen vor dem Hintergrund einschlägiger Theorien, wie z.B. Maslow (1987 zit. n. ebd. S. 99) diskutiert werden. Insgesamt werden Faktoren formuliert, die den gruppendynamischen Prozess beeinflussen und zu einem besseren Klima beitragen.
7. Handlungsperspektiven
Die im letzten Kapitel „Handlungsperspektiven im gruppenpädagogischen Kontext in Wohngruppen der Kinder- und Jugendhilfe“ (vgl. S. 119–135) dargestellten Handlungsperspektiven wurden mithilfe der Untersuchungsergebnisse und weiterer Literaturrecherchen entwickelt. Exemplarisch wird die „Regelmäßige Erhebung zum Gruppenklima“ als Handlungsmethode genannt. Ein Bezug zu den anfänglich vorgestellten Bezugsstudien im Kapitel 2 wird hergestellt. Untersuchungen im Rahmen einer Soziometrie könnten demnach beispielsweise den Gruppenkohäsionswert bestimmen (vgl. S. 119 f.). Dargestellt werden weitere zehn Handlungsperspektiven, z.B.: Gruppenleitung und Gruppenverständnis, Ritualisierte Momente, Regeln und Sanktionen, Strukturelle Rahmenbedingungen. Diese Handlungsperspektiven bieten eine Orientierung für die pädagogische Praxis und stellen konkrete Gruppeninterventionen dar.
Diskussion
Bereits zu Beginn beschreibt die Autorin, dass Diskussionen um Gruppenprozesse und -klimata in der Heimerziehung bisher nur wenig Präsenz im fachlichen Diskurs hätten (vgl. S. 9). Von Langsdorff schafft es in ihrer Publikation jedoch darzustellen, wie die wahrgenommenen Gruppenklimata die Lebenswelten der einzelnen Interviewten beeinflussten und wie diese qualitativ verbessert werden können. Dabei greift sie auf ein Untersuchungsdesign zurück, das der Fragestellung angemessen ist. Nicht zuletzt die Dokumentarische Methode ist es, die chronologisch offenlegt, wie der Hilfeverlauf von der Anfangsphase bis zum status quo des Interviewzeitpunktes durch Faktoren der Gruppenprozesse beeinflusst wird. Mit ihrer Darstellung wird deutlich, dass die Gruppenklimata zum Wohlempfinden und zur Qualität, also zur Verbesserung der alltäglichen Arbeit beitragen kann. Tatsächliche Handlungsperspektiven werden im letzten Kapitel vorgestellt, die den Bezug zur pädagogischen Praxis herstellen.
Fazit
Die vorliegende Forschungsstudie ist für alle Leser_innen geeignet, die einen Einblick in Wohngruppenprozesse der Heimerziehung erhalten und adressaten_inennbezogene Perspektiven kennenlernen möchten. Gleichzeitig gibt es eine praktische Orientierungshilfe für angehende Praktiker_innen, Berufseinsteiger_innen und erfahrene Fachkräfte.
Rezension von
Christian Busch
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Zitiervorschlag
Christian Busch. Rezension vom 18.11.2024 zu:
Nicole von Langsdorff: Das Gruppenklima in der Heimerziehung. Eine empirische Untersuchung in Nord- und Mittelhessen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2024.
ISBN 978-3-8474-3032-2.
Reihe: Qualitative Fall- und Prozessanalysen. - 26.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/31930.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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